„Wir dürfen unser rechtsstaatliches Erbe nicht verspielen“
Dinner Speech von Dr. Margarete Gräfin von Galen beim traditionellen Berliner Anwaltsessen am 2. September 2022.
Anwaltschaft im Rechtsstaat – nur dem Recht verpflichtet oder setzt Ethik die Grenzen? Darf der Staat die Anwaltschaft zur Erfüllung von Staatsaufgaben in die Pflicht nehmen oder unterminiert er damit den Rechtsstaat? Luxusfragen, könnte man sagen, muss man nicht mehr beantworten, nachdem sich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ein Mitglied des Europarates entschieden hat, mit Gewalt und Willkür ein fremdes Land zu überfallen und viele Tausend Menschenleben zu vernichten.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 11/2022 | 71. Jahrgang
In der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention, aus der Russland zum 16.9.2022 ausscheiden wird, bekennen sich die Unterzeichnerstaaten zu einem „vom gleichen Geist beseelten … gemeinsamen Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.“ Diese Seele hat Russland aufgegeben. Wir aber nicht! Und wenn es auch schwerfällt – und ich gebe zu, es ist mir in der Vorbereitung auf den heutigen Abend schwergefallen –, wir müssen nun erst recht dafür eintreten, dass der Glaube an die Bedeutung der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit erhalten bleibt. Es lohnt sich doch, über die Fragen meines Themas heute Abend einmal kurz nachzudenken.
Mit einem Brief vom 18. April dieses Jahres wandte sich ein demokratisches Mitglied des Repräsentantenhauses, Steve Cohen, an den Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika und verlangte, Einreiseverbote auszusprechen gegen sechs namentlich genannte britische Rechtsanwälte – fünf Kollegen, eine Kollegin –, weil sie russische Oligarchen in missbräuchlichen Klageverfahren gegen Journalisten vertreten hätten. Oligarchen könnten ihren schlechten Einfluss auf unser demokratisches System nicht ausüben ohne ihre Anwälte. Diesem Problem müsse mit abschreckenden Maßnahmen begegnet werden, gegen skrupellose Anwälte, die für Individuen, die die Demokratie untergraben, tätig sind. Eine Maßnahme sei es, ihnen das Privileg, in die USA zu reisen, zu entziehen.
„The Guardian“ hat diesen Vorstoß des Kongressabgeordneten öffentlich gemacht1https://www.theguardian.com/us-news/2022/apr/19/us-congressmanurges-biden-to-ban-six-uk-lawyers-for-enabling-oligarchs und auch die Reaktionen der betroffenen Anwaltskanzleien. Eine Kanzlei weist darauf hin, dass sie ihre Tätigkeit im Rahmen der geltenden berufsrechtlichen Regelungen ausgeübt habe. Damit stehe sie „in the highest traditions of the legal profession in upholding the rule of law.“
Die anderen Kanzleien knicken unter der Last der Vorwürfe ein und geloben öffentlich, dass sie Mandate mit Bezug zu Russland nicht mehr übernehmen würden. Für natürliche oder juristische Personen, die auf Sanktionslisten stehen, sei man nicht tätig gewesen und man werde auch in Zukunft keine Mandate von Unternehmen mit Sitz in Russland oder Individuen mit Verbindungen zur russischen Regierung übernehmen. Der Sprecher von CMS versichert, sie hätten ihr Engagement geprüft und seien sich sicher, dass ihre Tätigkeit mit allen berufsrechtlichen Regelungen vereinbar sei, aber auch mit ihren umfassenderen Pflichten zu dieser Zeit – „our wider responsibilities at the time“.
Ist das die Rolle der Anwaltschaft im Rechtsstaat? Kein Zugang zu rechtlicher Beratung und Vertretung für die 1.229 natürlichen Personen, die bis zum 21.07.2022 in die Sanktionsliste der EU2Verordnung (EU) Nr. 269/2014 des Rates vom 17.03.2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen, in der Fassung vom 21.07.2022. aufgenommen wurden? Keine anwaltliche Begleitung beim Zugang zum Recht für die 111 juristischen Personen, die sich auf der Sanktionsliste befinden?
Sicherlich gehört es auch zu den Grundfreiheiten und zur anwaltlichen Unabhängigkeit, dass Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen frei entscheiden können, ob sie ein Mandat übernehmen oder nicht. Hier geht es aber um die Forderung, dass Anwälte aus einer übergeordneten Verantwortung heraus Mandate für bestimmte Personen nicht übernehmen sollen.
„Enabler ist das neue Schimpfwort für Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, die nichts anderes tun, als Recht und Gesetz umzusetzen“
Enabler ist das neue Schimpfwort für Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, die nichts anderes tun, als Recht und Gesetz umzusetzen. Herr Cohen bezeichnet die Kollegen, denen die Einreise in die USA verweigert werden soll, als „professional enablers“. Auch die OECD arbeitet mit diesem Begriff und der Begriff hat sogar Einzug in die deutsche Sprache gefunden. Die OECD hat im vergangenen Jahr einen Bericht veröffentlicht mit Titel: „Ending the Shell Game: Cracking down on the Professionals who enable Tax and White Collar Crimes“.3OECD (2021), Ending the Shell Game: Cracking down on the Professionals who enable Tax and White Collar Crimes,OECD Publishing, Paris. http://www.oecd.org/tax/crime/ending-the-shell-game-cracking-down-on-theprofessionals-who-enable-tax-and-white-collar-crimes.htm In der Übersetzung des Sprachendienstes des deutschen Finanzministeriums heißt das vornehm: „Schluss mit Steuerbetrug: Strategien zur Bekämpfung professioneller Enabler von Steuer- und Wirtschaftskriminalität“.4wie vor
Der Bericht der OECD befasst sich auf rund 50 Seiten mit der Frage, wie man „strafrechtliche Bestimmungen zur Bekämpfung professioneller Enabler“ einführen kann. Zu den professionellen Enablern gehören Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, aber eben auch Rechtsanwälte.
Der Bericht betont, es handele sich nur um eine kleine Gruppe, aber für diese Gruppe sollen neue Strategien erforderlich sein. Zu diesen neuen Strategien zählen z. B. die Aufhebung des Berufsgeheimnisses, wenn unmittelbar gegen die Enabler wegen eines Steuer- oder Wirtschaftsdeliktes ermittelt wird. Auch Befugnisse der Ermittlungsbehörden zur Beschlagnahme von Beweisen und zur Vernehmung von Zeugen werden gefordert.5OECD-Bericht a. a. O. S. 30.
Man könnte denken, dass diese ganze Arbeit der OECD vollkommen überflüssig ist, weil wir das alles schon haben.
Soweit ich sehe, gibt es innerhalb der OECD kein Rechtssystem, in dem Anwälte nicht strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie im Verdacht stehen, Beihilfe zu Straftaten leisten oder gar dazu anzustiften, und zwar mit allen Instrumenten der Ermittlungsbehörden. Auch, dass das Vertraulichkeitsprivileg entfällt, wenn Anwälte und Anwältinnen mit Straftätern kollaborieren, ist globaler Standard. Es gibt keinen Mangel an Strategien zur Verfolgung von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen, die sich zusammen mit ihren Mandanten strafbar machen.
Was also soll dieser Bericht?
Der Sinn dieses Berichts besteht offensichtlich darin, Ideen zu entwickeln, um auch gegen legales Handeln von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen vorzugehen. Dafür würde es tatsächlich neuer Strategien bedürfen. Der Bericht fußt auf dem Gedanken, auch legales Handeln von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen müsse unterbunden werden, wenn der Erfolg gesellschaftlich nicht erwünscht ist.
Dieser Grundgedanke wird zwar nicht ausgesprochen, aber es gibt genügend Hinweise darauf. So ist die Rede von den „Grauzonen“, deren Nutzung nur „streng genommen nicht rechtswidrig“ ist oder von den professio nellen Enablern, „die sich ihrer Mittäterschaft weniger bewusst sind, aber … ein Problem darstellen.“6OECD Bericht a. a. O. S. 11.
Mit diesem Ansatz reiht die OECD sich ein in das, was mittlerweile politisch salonfähig ist. So differenziert die EU-Kommission schon seit Jahren nicht mehr zwischen legaler Steuervermeidung und strafbarer Steuerhinterziehung, wenn es um die Bekämpfung von unerwünschten Steuergestaltungen geht.
Auch in einer aktuellen Gesetzesinitiative der Europäischen Kommission7Europäische Kommission, Aufforderung zur Stellungnahme zu einer Folgenabschätzung, Ref. Ares(2022)4939801 – 06/07/2022. geht es um die Rolle der „Enabler“ bei aggressiver Steuerplanung – deutsch heißt das hier Vermittler – und das erfasst natürlich auch die Rechtsanwälte. Bei dieser Initiative ist zwar auch von Steuerhinterziehung die Rede, aber ausdrücklich und in einem Atemzug geht es um die aggressive, aber legale Steuergestaltung. Die Vermittler sollen an der Einrichtung komplexer Strukturen in Nicht-EU-Ländern gehindert werden, weil sie damit die Steuerbemessungsgrundlage der Mitgliedstaaten durch aggressive Steuerplanung aushöhlen. Wer denkt, hier werde für diese Ziele eine Steuergesetzgebung vorbereitet, hat sich geirrt. Nein, es geht darum, die Enabler davon abzuhalten, die bestehenden Gesetze für ihre Mandanten anzuwenden. „Übergeordnetes Ziel“ dieser Initiative ist „das Verbot von Vermittlern“8EU-Kommission a. a. O. S. 2. also auch von Rechtsanwälten, die aggressive Steuergestaltungen und -modelle in Nicht-EU-Ländern ausarbeiten, vermarkten oder bei ihrer Umsetzung helfen. An der nationalen Steuergesetzgebung soll ausdrücklich nichts geändert werden.
Die EU-Kommission denkt an zwei Optionen, wie dieses Vorhaben umgesetzt werden kann: Die eine Option besteht in einem Verhaltenskodex für die Vermittler, der dann bewirken soll, dass sie sich aus der aggressiven Steuerplanung heraushalten. Die andere Option besteht in einem Verbot, sich an aggressiver Steuerplanung zu beteiligen, und um das durchzusetzen, werden umfangreiche Dokumentations- und Meldepflichten eingeführt.
Mit der ersten Option sollen offenbar Erwartungen an Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen außerhalb des positiven Rechts verschriftlicht werden. Mit der zweiten Option würden Rechtsanwälte unter Missachtung der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht und des Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen zum verlängerten Arm des Staates gemacht. Ähnlich, wie es bei der Bekämpfung der Geldwäsche jetzt schon teilweise Praxis ist.
Diese Entwicklung geht einher mit einer Tendenz bei Nichtregierungsorganisationen und den Medien, Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen für die rechtliche Begleitung von bestimmten Mandaten zu kritisieren und die Führung eines Mandats als solches anzuprangern. Zurzeit betrifft diese Haltung vor allem Klimaschutz, Menschenrechte, Steuern und Finanzströme, die von der Politik gerne – ohne Bezug auf konkrete Vortaten – als Geldwäsche bezeichnet werden.
„Rechtsstaat braucht eine unabhängige Anwaltschaft, die sich auch auf die Seite der ‚Schlechten‘ stellen darf und sogar stellen muss, ohne, dass der Staat dazwischenfunkt“
Es gibt eine allgemeine Erwartungshaltung, dass Rechtsanwälte jenseits des Rechts „Verantwortung“ übernehmen, indem sie bestimmte Mandate nicht vertreten. Und wenn sie gesellschaftlich unerwünschte Mandate vertreten, dann sollen sie das wenigstens melden und dem Staat bei der Bekämpfung des schlechten Verhaltens ihrer Mandanten behilflich sein.
Beides ist mit der Rolle der Anwaltschaft im Rechtsstaat nicht vereinbar. Rechtsstaat braucht eine unabhängige Anwaltschaft, die sich auch auf die Seite der „Schlechten“ stellen darf und sogar stellen muss, ohne, dass der Staat dazwischenfunkt.
Nun kann man sich an der Stelle fragen, was ist eigentlich „Rechtsstaat“ und geht es nicht auch ohne? Demokratie ohne Rechtsstaat – ist das nicht viel einfacher? Einfach zweckorientiert Entscheidungen treffen – wir sehen EU-Länder, wo nach dieser Maxime gehandelt wird.
Verblüffend ist, dass die Begriffe „Rechtsstaat“ oder „Rechtsstaatlichkeit“ in Verfassungen und internationalen Abkommen gerne an prominenter Stelle erwähnt werden. Nirgends wird aber erklärt, was die Bedeutung ist. Das ist so in der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention, das ist so in Art. 2 des EU-Vertrages, um nur zwei Beispiele zu nennen. Spricht das gegen die Resilienz und letztlich auch gegen die Tauglichkeit dieses Konzepts? Ist Rechtsstaat wandelbar und jeder darf etwas anderes darunter verstehen?
Hinzu kommen die Unterschiede im internationalen Sprachgebrauch: „Rule of Law“ nimmt nicht Bezug auf den Staat, „Etat de Droit“ ist unserem „Rechtsstaat“ näher, der Europarat spricht allerdings auch von „préeminence du droit“. Auch im Russischen gibt es den Begriff, dort aber mehr im Sinne von „rule of the laws“ oder „law governed state“.
Verschiedene Institutionen haben sich über die Jahre an Definitionen des Rechtsstaates versucht. Die Anwaltschaft wird dort selten ausdrücklich erwähnt. Eine dieser seltenen Erwähnungen findet sich in der Kopenhagener Erklärung der KSZE aus dem Jahr 1990. Dort heißt es, „die Unabhängigkeit der Anwaltschaft … insbesondere hinsichtlich der Zulassung und der Berufsausübung“ ist Teil der Gerechtigkeit.9Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE, Ziff. 5 und 5.13, S. 4, 6
Auch im jährlichen Bericht der EU-Kommission zum Stand der Rechtsstaatlichkeit findet die Anwaltschaft mittlerweile Erwähnung. Während im ersten Bericht die Anwaltschaft als Element des Rechtsstaats noch fehlte, wurde sie, nach Hinweisen des CCBE, in den weiteren Berichten als Teil der Unabhängigkeit der Justiz jeweils ausdrücklich aufgenommen.
Im Rechtsstaatsbericht für das Jahr 2021 werden Rechtsanwälte als „zentrale Akteure einer rechtsstaatlichen Justiz“ eingeordnet.10Europäische Kommission, Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2022, COM (2022) 500 final, S. 11
International können wir seit 2016 auf die „Rule of Law Checklist“ der Venedig-Kommission des Europarats zurückgreifen.11Council of Europe, Rule of Law Checklist, CDL-AD(2016)007 Mit dieser Checkliste hat die Venedig- Kommission fünf Benchmarks entwickelt, die den Rechtsstaatsbegriff vereinheitlichen und länderübergreifend die Kernelemente der Rechtsstaatlichkeit beschreiben. Das sind: Gesetzmäßigkeit, Rechtssicherheit, Prävention gegen Machtmissbrauch, Gleichheit vor dem Recht und Diskriminierungsverbot sowie Zugang zur Justiz.
Rechtssicherheit, Prävention gegen Machtmissbrauch und Zugang zur Justiz sind die Elemente, die ohne eine unabhängige Anwaltschaft nicht zu realisieren sind. Nicht ohne Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, die den drei Prinzipien Verschwiegenheit, Unabhängigkeit, Verbot der Vertretung von widerstreitenden Interessen und darüber hinaus nur dem anzuwendenden Recht verpflichtet sind.
Prävention gegen Machtmissbrauch erfordert eine unabhängige Anwaltschaft. Staatliche Institutionen haben die Macht, ihre Aufgabe kann es nicht sein, sich vor sich selbst zu schützen. Das muss die Anwaltschaft leisten. Mit dieser Rolle ist es unvereinbar, wenn die Anwaltschaft dazu verpflichtet wird, ihre Mandanten an den Staat zu verraten, damit er seine Macht gebrauchen kann. Machtgebrauch und anwaltliche Beratung und Vertretung müssen getrennt sein, sonst scheitert die Prävention.
Zugang zur Justiz läuft ohne anwaltliche Unterstützung ins Leere.
Rechtssicherheit heißt, dass auch der Anwaltschaft bei Anwendung des Rechts keine weiteren Maßstäbe als das Recht auferlegt werden dürfen.
Viele europäische Berufsordnungen haben Regeln, die sie selbst als Ethik bezeichnen. Von Anwaltsethik ist die Rede. Teilweise handelt es sich um Regeln, die wir als Recht einordnen würden. Auch wir haben z. B. in § 7 Nr. 5 BRAO das Verbot, Anwälte zum Beruf zuzulassen, die für den Beruf „unwürdig erscheinen“. Auch wenn der Begriff im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit grenzwertig ist, steht er zumindest im Gesetz und kann als unbestimmter Rechtsbegriff ausgefüllt werden. Solange also ethische Ansätze in Recht umgesetzt werden, ist dies sicherlich mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu vereinbaren.
Gefährlich für den Rechtsstaat wird es, wenn außergesetzliche ethische oder moralische Vorstellungen postuliert werden und verlangt wird, dass diese zum Maßstab anwaltlichen Handelns gemacht werden. Rechtssicherheit ist von fundamentaler Bedeutung – auch für das Funktionieren der anderen Elemente des Rechtsstaats.
Mein Eindruck ist, Rechtssicherheit wird nicht mehr ernst genommen. Ein „gutes“ Beispiel für diese Tendenz findet sich in der Whistleblower-Richtlinie der EU12Richtlinie (EU) 2019/1937 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, Amtsblatt der Europäischen Union v. 26.11.2019, L 305/17. und entsprechend im deutschen Regierungsentwurf für ein Hinweisgeberschutzgesetz.13Entwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, BMJ. Hinweisgeber sollen nicht nur Verstöße gegen Gesetze melden können, sondern auch Verstöße gegen Ziel und Zweck der Gesetze. Und die fehlerhafte Einschätzung einer Meldung kann die Ahndung mit einer Geldbuße zur Folge haben.
Ziel und Zweck als Maßstab für rechtmäßiges Handeln bedeutet Unsicherheit. Das ist Arbeitsbeschaffung für Juristinnen und Juristen, hat aber mit Rechtssicherheit nichts mehr zu tun.
Sicherlich kann man Bürger und Bürgerinnen und NGOs nicht davon abhalten, moralische Maßstäbe an Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen zu setzen. Den Staat muss man allerdings ermahnen: Wehret den Anfängen.
Ein Rechtsstaat muss sich permanent bemühen, die Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten. Dazu gehört es, der Anwaltschaft gegen moralische Ansinnen den Rücken zu stärken und gleichzeitig nicht die Rolle der Anwaltschaft durch Pflichten zur Mitwirkung an Staatsaufgaben aufzuweichen.
Der Zugang zum Recht für unerwünschte Individuen und für unerwünschte Ziele, die nichts, aber auch gar nichts, mit unseren demokratischen Werten gemeinsam haben, gehört zum Rechtsstaat. Wenn etwas gesellschaftlich unerwünscht ist, muss es durch an der Verfassung zu messende Gesetze beseitigt werden.
Wenn die Anwaltschaft sich ihrer notwendigen Rolle im Rechtsstaat aus ethischen Überlegungen entzieht – keine Beratung und Vertretung von Verbrechern, kein Zugang zum Recht für Verbrecher, kein Schutz gegen willkürliche Entscheidungen für Verbrecher – ist das ein Sargnagel für den Rechtsstaat. Der Staat muss aufhören, die Anwaltschaft mit überrechtlichen Anforderungen und Kollaborationsansinnen zu zermürben.
„Es gibt Gesetze, die erreichen ihre Ziele, und es gibt Gesetze, die erreichen ihre Ziele nicht und scheitern. Letzteres sollen neuerdings die Anwälte verhindern“
Gesetze haben rechtliche Anforderungen und Zielsetzungen. Das war schon immer so.
Es gibt Gesetze, die erreichen ihre Ziele, und es gibt Gesetze, die erreichen ihre Ziele nicht und scheitern. Letzteres sollen neuerdings die Anwälte verhindern. Schön wäre es, wenn die Anwaltschaft in dieser Weise zur Erreichung gesetzlicher Ziele, quasi als Feuerwehr gegen Scheitern von Gesetzen, eingesetzt werden könnte.14Venedig-Kommission a. a. O. S. 9.
Nehmen wir mal die Gasumlage. Glücklicherweise hat sich der Wirtschaftsminister bereit erklärt, das Gesetz wegen offensichtlicher Ungerechtigkeiten nachzubessern.
Mit der neuen Verantwortungszuschreibung hätte man auch sagen können, wir überlassen es den Anwälten, für Gerechtigkeit zu sorgen. Deren moralische Verantwortung ist es, Mandanten, die die Umlage nicht benötigen, davon abzuhalten, die Möglichkeiten des Gesetzes auszuschöpfen. Es ist doch klar, dass ein weiterer Profit der Profiteure auf Kosten der Verbraucher gesellschaftlich nicht erwünscht ist.
So einfach soll das in Zukunft werden. Mit Rechtssicherheit hat das nichts mehr zu tun.
Ethik und Moral sind wandelbar – die deutsche Geschichte ist für diesen Wandel exemplarisch. Die Stärke des Rechtsstaats liegt darin, auch Unangenehmes auszuhalten, wenn dies aus einer Anwendung der fünf Benchmarks hervorgeht. Die Venedig-Kommission identifiziert die Demokratie als ein „enabling environment“15Venedig-Kommission a. a. O. S. 9. für den Rechtsstaat. Gustav Radbruch schreibt im August 1946:
„Wir haben die Gerechtigkeit zu suchen, zugleich die Rechtssicherheit zu beachten, da sie selber ein Teil der Gerechtigkeit ist, und einen Rechtsstaat wieder aufzubauen, der beiden Gedanken nach Möglichkeit Genüge zu tun hat. Demokratie ist gewiss ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat aber ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie ist gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern.“16Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105, 108.
Wir haben die Möglichkeiten, meine verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen unser rechtsstaatliches Erbe nicht verspielen.
- 1
- 2Verordnung (EU) Nr. 269/2014 des Rates vom 17.03.2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen, in der Fassung vom 21.07.2022.
- 3OECD (2021), Ending the Shell Game: Cracking down on the Professionals who enable Tax and White Collar Crimes,OECD Publishing, Paris. http://www.oecd.org/tax/crime/ending-the-shell-game-cracking-down-on-theprofessionals-who-enable-tax-and-white-collar-crimes.htm
- 4wie vor
- 5OECD-Bericht a. a. O. S. 30.
- 6OECD Bericht a. a. O. S. 11.
- 7Europäische Kommission, Aufforderung zur Stellungnahme zu einer Folgenabschätzung, Ref. Ares(2022)4939801 – 06/07/2022.
- 8EU-Kommission a. a. O. S. 2.
- 9Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE, Ziff. 5 und 5.13, S. 4, 6
- 10Europäische Kommission, Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2022, COM (2022) 500 final, S. 11
- 11Council of Europe, Rule of Law Checklist, CDL-AD(2016)007
- 12Richtlinie (EU) 2019/1937 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, Amtsblatt der Europäischen Union v. 26.11.2019, L 305/17.
- 13Entwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, BMJ.
- 14Venedig-Kommission a. a. O. S. 9.
- 15Venedig-Kommission a. a. O. S. 9.
- 16Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105, 108.