Interview mit Frau Dr. Kerstin Niethammer- Jürgens

100 Jahre Zulassung von Frauen zum Anwaltsberuf

Vor 100 Jahren wurde die erste Frau als Rechtsanwältin zugelassen. Als ich dies anlässlich einer Ausstellung im Sommer 2022 erfahren habe, wurde mir bewusst, welche Mühe und Durchsetzungskraft es wohl damals die Frauen gekostet hat. Heute spielt das Geschlecht zum Glück bei der Zulassung zur Anwaltschaft überhaupt keine Rolle. Wie ist die Situation heute, als Frau und Mutter?

Claudia Frank | Rechtsanwältin | Stellvertretende Vorsitzende des Berliner Anwaltsvereins | Stellvertretende Vorsitzende des Verbandes freier Berufe Berlin | Probandt PartGmbB

Mitte der 90er-Jahre habe ich die Kollegin, Frau Dr. Kerstin Niethammer-Jürgens, anlässlich einer Veranstaltung kennengelernt. Wir sind uns in den folgenden Jahren immer wieder begegnet und haben uns über unsere jeweilige Lebenssituation ausgetauscht. Kerstin erzählte mir, dass sie fünf eigene und ab und zu auch noch das Kind ihres Mannes, gemeinsam mit diesem, umsorgen musste. Sie war nicht selten erschöpft von dieser Aufgabe, auch wenn ihr Mann zu den wenigen gehört, der sie nach Kräften, nicht nur in finanzieller Hinsicht unterstützt hat. Kerstin machte Karriere als Fachanwältin im Familienrecht, war international tätig, war für die EU im Ausland und hat selbst Fachbücher verfasst. Ich habe sie gebeten, uns über ihren Lebensweg und ihre Karriere, aber auch über ihre Sorgen und Ängste, die möglicherweise heute noch hochkommen, zu erzählen.

Mich würde interessieren, wie war dein beruflicher Werdegang? Wo hast du das Abitur abgelegt, wo hast du Jura studiert und wie alt warst du, als du deinen Mann kennengelernt und das erste Kind bekommen hast?
Ich habe in Königstein/Ts. 1978 Abitur gemacht und habe dann angefangen, Jura in Göttingen zu studieren. Das war damals eine Uni mit sog. „verfasster Studentenschaft“, d.h., ich habe eigentlich drei Semester lang nur Hochschulpolitik für eine unabhängige/RCDS-Liste (Studentenorganisation der CDU damals) gemacht. Dann bin ich nach München gewechselt, um richtig Spaß am Jurastudium zu bekommen – bei hervorragenden Professoren. München war allerdings zu groß für mich, um auf das Erste Staatsexamen zu lernen. Deshalb bin ich nach Würzburg gewechselt und habe dort 1985 mein Erstes Staatsexamen abgelegt. Dann ging ich nach Berlin zum Referendariat. Dort habe ich – in der 1. AG des Referendariats – meinen Ehemann kennengelernt. Ich war 26 Jahre.
Das erste Kind haben wir – ich war 29 Jahre alt – während des Referendariats bekommen, bei der mündlichen Prüfung im Zweiten Staatsexamen war ich mit dem zweiten Kind schwanger. Meine Promotion habe ich während des Referendariats geschrieben – meine Referendariatszeit dauerte allerdings statt 2,5 Jahre fünf Jahre. Ich glaube, ich war damals die Referendarin mit der längsten Referendariatszeit.

Wolltest du immer schon viele Kinder haben?
Ich wollte gar keine Kinder, als Studentin wollte ich nur Karriere machen. Aber ich wollte, wenn ich Kinder haben würde, viele Kinder. Dass es dann Zwillinge am Ende geworden sind, war für meinen Mann und mich ein kleiner „Schock“ – ich hatte gerade das erste Büro mit eigenen Büroräumen mit Kollegen zusammen angemietet.

Wie alt sind deine fünf Kinder heute?
Oh, da muss ich ein bisschen überlegen: 34, 31, knapp 30 und dann noch Zwillinge, die im Juli 28 werden. Und zwei Enkelkinder haben wir auch.

Warst du damals eine Einzelkämpferin oder hast du von Anfang an mit deinem Mann in einer Kanzlei gearbeitet?
Ich war eine Einzelkämpferin, mit allen Vor- und Nachteilen. Erst nachdem sich mein Mann aus einer größeren Kanzlei in Berlin löste, bin ich in dessen neue Kanzlei zunächst als angestellte Anwältin und dann als Partnerin eingestiegen.

Wenn du heute an diese Zeit zurückdenkst, wärst du in der Lage gewesen, deine Kinder allein zu ernähren? Wie war deine damalige Einkommenssituation?
Die Frage ist ganz einfach zu beantworten: Ohne das hohe Einkommen, das mein Mann damals erzielte, wäre es mir nie möglich gewesen, so viele Kinder allein zu ernähren. Ich hätte in dem Umfang, wie ich es getan habe, gar nicht arbeiten können, weil mein Umsatz (!) nicht einmal die Kosten für Tagesmutter, Kindergarten, geschweige denn Nanny bzw. Haushaltshilfe abgedeckt haben. Und die Rahmenbedingungen waren eben auch so, dass jede „Hilfskraft“ privat gezahlt werden musste, die Gebühren für Tagesmütter und Kindergarten waren sehr hoch. Wäre eines der Kinder behindert gewesen, ich hätte es auch nicht geschafft.

Hattest du eine „Kinderfrau“, und welche Schule haben deine Kinder besucht?
Ja, ich hatte eine ständige Kinderfrau, als die Jüngsten in die Vorschule kamen. Vorher habe ich es mit Tagesmüttern und Haushaltshilfen versucht, um dem Chaos zu Hause Herr zu werden. Unsere Kinder waren alle mit ca. einem Jahr bei einer Tagesmutter, dann im Kindergarten und dann auf der John F. Kennedy School ab der Vorschule (letztes Kindergartenjahr) mit einem garantierten Unterricht bis 13 Uhr. Dieser erweiterte sich schnell auf eine schulische Betreuung einschließlich schulinternen AGs bis 16 Uhr. Das waren verlässliche Unterrichtszeiten. Ich muss gestehen, nicht selten herrschte bei uns zu Hause Unordnung, ja sogar Chaos. Das machte uns aber nichts aus. Wäre an manchen Tagen das Jugendamt gekommen … Die Unordnung kann ja nicht jeder aushalten.

Wie wurdest du von anderen Frauen, aber auch Männern, beurteilt. Haben sie dir – wie wir das ja immer wieder hören – vorgeworfen, eine „Rabenmutter“ zu sein? Und hast du darunter gelitten?
Ja, ich war genau ein einziges Mal auf einem Kinderspielplatz und habe dort an meinem Manuskript für die Doktorarbeit gelesen. Da habe ich das Wort „Rabenmutter“ von den anderen Müttern zum ersten Mal gehört. Und dann in der Schule kamen immer solche Bemerkungen von den anderen Müttern. Im Anwaltszimmer wurde mir von den damals weitgehend männlichen Kollegen gesagt, ob wir keinen Fernseher zu Hause hätten … usw. Grundsätzlich kann ich aber sagen, dass ich eher von Frauen angegriffen wurde; die Männer bezeichneten mich eher als „Powerfrau“. Und da war ich ganz still, denn in mir selbst sah es ganz anders aus.

Der Besuch auf der Kennedy School war für dich also die Rettung. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass du es möglicherweise bedauert hast, deine Kinder immer nur in den Abendstunden zu sehen.
Ja, zumindest war ich erst so um 17-18 Uhr da – und dann bleibt nicht mehr viel Zeit für die Kinder. Also haben mein Mann und ich versucht, das alles am Wochenende nachzuholen. Das gemeinsame Frühstück und Abendessen war am Wochenende der Fixpunkt. Und wir haben sehr lange Ferien zusammen mit der ganzen Familie im Sommer gemacht.

Hast du jemals daran gedacht, nur noch Hausfrau und Mutter zu sein und deinen Beruf zumindest vorläufig ruhen zu lassen?
Ja und Nein. Nach der Geburt der Zwillinge habe ich 1,5 Jahre ausgesetzt – das war nicht nur langweilig, sondern ich hatte Angst, den Anschluss zu verlieren. Und: Angst auch davor, so lange studiert und dann promoviert zu haben, um später nur noch halbtags im Backoffice einer Kanzlei arbeiten zu können.

Man könnte jetzt vermuten, dass fünf Kinder die Fachanwaltschaft „Familienrecht“ vorgeben. War dies tatsächlich bei dir der Ausschlag dafür, dass du dich vor allem auf das Familienrecht spezialisiert hast?
Nein, das war reiner Zufall. Am Anfang habe ich alles, was mit Zivilrecht zu tun hat, gemacht. Vor allem auch WEG-Auseinandersetzungen, die damals die gleiche Verfahrensordnung (FGG) hatten. Und dann kam 1991 durch Zufall mein erster internationaler Fall – und in den habe ich mich als Anfängerin völlig „reingeworfen“, mit Erfolg. Und so bin ich durch die Praxis ans Familienrecht gekommen und ganz schnell auch zu dem internationalen Bezug.

Könntest du uns in kurzen Sätzen einmal schildern, wie dein Tagesablauf vor ca. 20 Jahren war?
Alle fünf Kinder haben sich mit 13, 11, 9 und 7 um 6.30 Uhr allein fertiggemacht – beim Anziehen sich gegenseitig geholfen – und dann zusammen gefrühstückt. Ich hatte am Abend davor immer den Frühstückstisch gedeckt, damit es am Morgen schneller geht. Derweil habe ich mich angezogen und die Frühstücksboxen fertiggemacht. Die Großen sind mit dem Fahrrad in die Schule um 7.15 Uhr gefahren, die Kleinen habe ich mit dem Auto gebracht. Dann bin ich ins Büro. Die Kleinen kamen um 13 Uhr zu mir ins Büro; es lag um die Ecke von der Schule. Wenn ich nicht fertig war, haben sich die Kinder beschäftigt, bis wir nach Hause gefahren sind. Entweder ich habe die Kinder dem Kindermädchen übergeben oder ich habe Essen gemacht für alle, die Großen kamen später. Danach bin ich wieder ins Büro, manchmal musste die Älteste auf alle aufpassen. Abendessen gab es um 19 Uhr, da war ich dann da. Nach dem Abendessen wurden alle „bettfertig“ gemacht. Zum Vorlesen war nicht viel Zeit, die Kinder haben spätestens um 20 Uhr geschlafen. Dann habe ich den Frühstückstisch für alle Kinder für den nächsten Tag gedeckt und habe mich an die Akten gesetzt, die ich nach Hause mitgenommen hatte. Der Tagesablauf war genau durchgeplant.

Ich bin dir in den späteren Jahren nicht selten auf Flughäfen begegnet. Einmal warst du auf dem Weg nach Russland und sagtest uns, dass du dort das „Familienrecht“ hilfst aufzubauen. Stimmt das und was genau waren deine Auslandstätigkeiten?
Ich war in den Jahren 2011 bis 2013 (Krim-Annexion) in Russland und habe auf Betreiben des damaligen Präsidenten im Rahmen eines von der EU-finanzierten und von GIZ durchgeführten Projekts den Beitritt Russlands zum Haager Kindesentführungsübereinkommen und Haager Kinderschutzübereinkommen als Leiterin eines Teams von fünf russischen Experten und 25 Experten aus der EU begleitet, die Ausführungsgesetze geschrieben und Schulungen durchgeführt. Von 2014 bis Mai 2022 war ich erst Expertin und dann Teamleiterin eines Projekts im Kosovo (Balkan). Ich habe mit meinem Team Buch 4 und 5 (Familien- und Erbrecht) eines Zivilgesetzbuches für dieses Land einschließlich eines Allgemeinen Teils geschrieben und das bestehende Recht dort damit modernisiert und an den sog. European Acquis angepasst.

Du schreibst Bücher. Fällt dir das leicht und was war und ist eigentlich deine Motivation?
Nein, Veröffentlichungen machen eigentlich keinen Spaß und gehen mir überhaupt nicht leicht von der Hand. Aber im internationalen/europäischen Familienrecht habe ich inzwischen so viel Spezialwissen, das ich das gern auch für die Praxis an jüngere Kollegen und Kolleginnen weitergeben will. Deshalb jetzt das „Internationale Familienrecht in der Praxis“–, das mit meiner Co-Autorin, einer Familienrichterin, im August letzten Jahres erschienen ist.

Wenn du heute zurückblickst, kannst du uns sagen, was du gern anders gemacht hättest?
Nee, ehrlich gesagt nicht. Ich weiß nur, dass ich meine körperlichen und seelischen Kräfte völlig überstrapaziert habe, auch getrieben von einem immensen Ehrgeiz. Von dem hätte ich mir eher weniger gewünscht und damit auch mehr Gelassenheit im Umgang mit mir selbst.

Wenn du heute mit deinen Kindern über die Vergangenheit sprichst, kommen da Vorwürfe hoch und wie gehst du damit um?
Ja, ich erlebe, dass mir viele konkrete Situationen von meinen erwachsenen Kindern zu Recht vorgehalten werden. Situationen, in denen ich entweder gar nicht da oder nicht aufmerksam war, ungeduldig und falsch reagiert habe und auf die Nöte des einzelnen Kindes nicht ausreichend eingegangen bin. Ja, die Not des Kindes gar nicht erst mitbekommen habe. Mit den verbundenen Vorwürfen umzugehen, ist im Nachhinein schwer. Andererseits höre ich aber auch, wie stolz meine Kinder auf das sind, was ich gemacht und erreicht habe. Und die Tatsache, dass aus allen unseren Kindern sehr selbstbewusste, autonome Menschen geworden sind, die uns gern noch besuchen, mit uns Feste feiern und jetzt auch anfangen, sich um uns zu sorgen, scheint mir der Beweis, dass nicht alles falsch gewesen sein kann, was ich und mein Mann getan haben.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 03/2023 | 72. Jahrgang