Aktuelle Rechtsprechung des Kammergerichts zum Arzthaftungsrecht

„Richter- und Anwaltschaft im medizinrechtlichen Dialog.“

Am 23. November 2023 hielt die Vorsitzende Richterin des 20. Senats des Kammergerichts (KG), Frau Dr. Christiane Simmler vor über 30 Kolleginnen und Kollegen aus der Berliner Anwaltschaft ihren fast schon traditionellen Vortrag über die Rechtsprechung des Senats für Streitigkeiten über Ansprüche aus Heilbehandlungen im zu Ende gehenden Jahr 2023.

Bernd D. Michael Scheer | Rechtsanwalt (Syndikusrechtsanwalt) beim Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD) | www.v3d.de

Dr. Christiane Simmler

EINE PATIENTENVERFÜGUNG HINDERT NICHT DAS ENTSTEHEN EINES HONORARANSPRUCHS IN EINER AKUTSITUATION

Am Anfang ihres Vortrags stellte Dr. Simmler einen Fall vor, mit dem es ihr Senat „sogar in die NJW geschafft“ habe, wie sie nicht ganz ohne Stolz berichtete. Hier ging es um den Krankenhausvergütungsanspruch gegen die Erbin einer verstorbenen Patientin. Diese musste mehrfach reanimiert werden, und wurde nach einer OP intensivpflichtig, bevor sie verstarb. Die Besonderheit war, dass eine Patientenverfügung der Patientin vorlag, nach der sie keine Reanimation und lebensverlängernde Maßnahmen wünschte, wenn sie sich „ohne Aussicht auf Wiedererlangen des Bewusstseins in einem Koma“ befände. Der Senat kam in seinem Urteil (KG v. 20.2.2023, Az. 20 U 105/22, NJW 2023, 2654) zum Ergebnis, dass die Patien tenverfügung nicht das Entstehen eines Honoraranspruchs in einer Akutsituation hindere.

„Die Patientenverfügung hindert nicht das Entstehen eines Honoraranspruchs in einer Akutsituation“

Eine vital indizierte Akutbehandlung sei nicht als grobe Pflichtverletzung, die den Entgeltanspruch entfallen lassen könnte, zu erachten. Dies gelte jedenfalls bei bisher „unbekannten“ Patientinnen und Patienten, bei denen die Verpflichtung bestehe, sie zunächst zu stabilisieren („im Zweifel für das Leben“), um dann zu prüfen, welche Fälle die Patientenverfügung genau erfasse. Im berichteten Fall sei die Patientenverfügung zudem, bei Anwendung der strengen Maßstäbe des BGH, nicht konkret genug gewesen. Sie habe nicht jegliche Reanimationsversuche rechtswidrig erscheinen lassen. Das Krankenhaus bekam demnach seine Vergütung zugesprochen; das vorangehende Urteil des Landgerichts (LG Berlin v. 17.11.2022, Az. 17 O 180/21) wurde bestätigt.

NERVENSCHÄDEN SIND NICHT IMMER UND NOTWENDIGERWEISE LAGERUNGSSCHÄDEN

Im Folgenden stellte die Referentin Fälle u. a. zum Befunderhebungsfehler und den Voraussetzungen für eine Wertung als grober Behandlungsfehler (KG v. 14.8.2023, Az. 20 U 16/23), zum voll beherrschbaren Risiko (KG v. 2.6.2022, Az. 20 U 101/22 – Nervenschäden sind nicht immer und notwendigerweise Lagerungsschäden) und zu Hygienefehlern dar. Beim letztgenannten Thema, welches verstärkt in den Fokus der Rechtsprechung komme, referierte Dr. Simmler zur Thematik der Darlegungslast, welche bei Hygienefehlern nicht höher sei als sonst im Arzthaftungsprozess.

„Nervenschäden sind nicht immer und notwendigerweise Lagerungsschäden“

Sie erinnerte daran, dass die Darlegungspflicht auf Patien tenseite aber mehr umfasse, als nur vorzutragen, dass „nach einer ärztlichen Behandlung“ eine Infektion festgestellt wurde. Erforderlich sei zumindest eine (laienhafte) Darstellung mit Anhaltspunkten für ein fehlerhaftes Hygienemanagement (meist aus den Beobachtungen der Patientinnen und Patienten). Erst dann obliege der Behandlerseite die sekundäre Darlegungslast und sie müsse die Hygieneanordnungen vortragen. Wenn, wie im vorliegenden Fall (KG v. 20.2.2022, Az. 20 U 73/22), nach Gutachten unklar bleibe und nicht ermittelt werden könne, woher ein Keim stamme und dieser auch keiner der sogenannten Krankenhauskeime sei (von denen man annehmen könnte, dass sie zum voll beherrschbaren Bereich gehören), seien weitere sachverständige Ermittlungen zu etwaigen Verstößen der Behandlerseite nicht angezeigt.

HYGIENEGUTACHTEN AUCH EINMAL DURCH EINE FACHNÄHERE DISZIPLIN BEGUTACHTEN LASSEN

In einem weiteren Fall machte die Referentin den anwesenden Anwältinnen und Anwälte Mut, ein Hygienegutachten auch einmal durch eine fachnähere Disziplin überprüfen zu lassen. So sei in einem orthopädischen Prozess (KG v. 9.6.2022, Az. 20 U 45/21) der Hygieniker zum Ergebnis gekommen, dass es Basiswissen sei, dass man Kanülen vor jedem Einstich wechseln müsse, auch wenn nur eine Person injiziert werde. Der beauftragte und nach Kenntnis des KG sehr sorgfältige orthopädische Sachverständige stellte jedoch fest, dass die KRINKO (Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-Institut) diese Vorgabe an einem „versteckten“ Ort normiert habe, weshalb es sich seiner Meinung nach nicht um ein Basiswissen in der Orthopädie handele. Eine wesentliche Wendung, führte dies doch dazu, dass es sich nicht um einen groben Behandlungsfehler handelte. Zum Thematik Sachverständige referierte Dr. Simmler im prozessualen Teil weitere für die Praxis interessante Fälle; so u. a. zu den Grenzen sachverständiger Zeugen (KG v. 31.10.2023, Az. 20 U 54/22) oder zur Sachverständigenablehnung (KG v. 16.1.2023, Az. 20 U 1/23 und v. 6.7.2023, Az. 20 U 20/23).

Im Folgenden wurde der „Dauerbrenner“ Diagnosefehler aufgerufen und die Abgrenzung zur unterlassenen Befunderhebung bzw. weiter zur therapeutischen Aufklärung (BGH v. 11.4.2017, Az. VI ZR 576/15 – Abgrenzung nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des ärztlichen Handelns) und zur Therapiesicherung referiert.

ÄRZTLICHE AUFKLÄRUNG: BUTTER BEI DIE FISCHE

Sodann kamen Verfahren mit dem Schwerpunkt „Aufklärungsfehler“ zur Sprache. Hier erlaubte sich die Referentin eine allgemeine Kritik dergestalt, dass die ärztliche Aufklärung, wie auch der Vortrag zur Aufklärung, oft sehr „mau“ sei. In einem entsprechenden Beschluss (KG v. 6.3.2023, Az. 20 U 107/22) mache der 20. Senat beispielhaft deutlich, was aus seiner Sicht erforderlich sei. So müsse in einem Aufklärungsgespräch zu einer intraartikulären Injektion, in dem eine „bakterielle Gelenkbeteiligung oder Sepsis“ als mögliche schwere Komplikation erwähnt werde, klar werden, dass Folge einer solchen Gelenkinfektion eine Zerstörung des Knorpels bis hin zur Zerstörung des Gelenks sein könne. Zumindest in groben Zügen müsse dies einem Patienten als medizinischem Laien erklärt werden. Die Behandlerseite könne hier nicht auf Nachfragen warten. Und zum prozessualen Vortrag führte Dr. Simmler aus, dass der oft gelesene Spruch: „Es wurde ordnungsgemäß aufgeklärt“ nicht reiche. „Das ist kein Tatsachenvortrag, sondern eine dem Zeugenbeweis unzulängliche Wertung.“ „Butter bei die Fische“, hörte man aus dem Auditorium, was die Referentin bestätigte: Nötig sei die Darstellung der Inhalte des Gesprächs und als Indizien würden Haken, handschriftliche Kreuze u.ä. helfen. Die entsprechende Darstellung im prozessualen Vortrag obliege zuvörderst der Behandler-, und nicht der Patientenseite (KG v. 9.11.2023, Az. 20 U 160/22).

PROZESSUALE FRAGESTELLUNGEN

Zu den prozessualen Fragestellungen wurden darüber hinaus u. a. die Beschlüsse vom 28.8.2023 und 19.9.2023 (Az. 20 U 9/23) und vom 19.6.2023 (Az. 20 U 182/22) erörtert. Letztgenannter Beschluss befasst sich mit der Darlegungslast bei einem Antrag auf Anhörung nach § 141 ZPO: Das KG stellte klar, dass ein solcher einen schriftsätzlichen Vortrag zum Sachverhalt voraussetze. Erstgenannte Beschlüsse beschäftigen sich mit der Thematik, ob die Prüfung der Existenz einer Gemeinschaftspraxis eine Frage der Parteifähigkeit sei (so das KG) oder eine Frage der Aktiv-/Passivlegitimation (Begründetheit), was ein Kollege in der Veranstaltung mit guten Argumenten vertrat. Letztlich war der Fall des KG ein solcher, wo es überhaupt keine Gemeinschaftspraxis gab, weshalb sich der Beschluss wohl nicht verallgemeinern lässt.

Schließlich standen noch Fälle zur MPG-Haftung (KG v. 17.10.2023, Az. 20 U 158/22), zur Darlegungslast beim MPG (KG v. 6.1.2023, Az. 20 U 54/22) wie auch zur PKH bei „ausforschenden Gutachten“ hinsichtlich eines nicht absehbaren Zukunftsschaden bei Brustimplantaten (KG v. 9.1.2023, Az. 20 U 35/22) auf der Tagesordnung. Und Fälle zum Honorarrecht, zum Beispiel dem einer Zahnärztin, deren Klage wegen Nichteinhaltung der Schriftform bei Verlangensleistungen abgewiesen wurde (KG v. 25.5.2023, Az. 20 U 119/22 – nrk). Ganz zum Ende referierte Dr. Simmler noch „Schräges zum Schluss“ und setzte damit augenzwinkernd ein i-Tüpfelchen mit Fällen, die Juristinnen und Juristen irgendwie doch Spaß machen.

ECHTER DIALOG UND AUSTAUSCH

Dass es zu einem echten Austausch zwischen Zuhörerschaft und Referentin kam, lag nicht nur am fachlich versierten und regen Vortrag, sondern auch an der sachlichen Hartnäckigkeit bei Nachfragen durch Kolleginnen und Kollegen. Eine Fähigkeit, die Anwältinnen und Anwälten nicht nur vor Gericht, sondern auch im fachlichen Austausch „gut steht“. Dr. Simmler ihrerseits ließ sich auf die inhaltliche Diskussion ein, parierte oder hinterfragte die von ihr mit Unterstützung ihrer Beisitzer und Beisitzerinnen im Senat getroffenen Entscheidungen in alle Richtungen. Insgesamt ist zu konstatieren: eine gelungene Fortbildungsveranstaltung mit begründeter Aussicht auf Wiederholung!

Heft 03 | 2024 | 73. Jahrgang