Aktuelle Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht

Veranstaltungsreihe „Richter und Anwaltschaft im Dialog“
am 1. Dezember 2022

Im Rahmen der vorgenannten Veranstaltung hat die Vorsitzende Richterin am Kammergericht Frau Dr. Christiane Simmler im Dezember über das vergangene Jahr die Rechtsprechung des Kammergerichts zusammengefasst, vorgestellt und mit den interessierten Zuhörern diskutiert. Dr. Simmler berichtete schwerpunktmäßig von Entscheidungen zu Behandlungsfehlern, zu Aufklärungsfehlern sowie zu prozessualen Aspekten. Am Rande wurden ergänzend Entscheidungen zu Medizinprodukten, Pflegeleistungen und der Tierarzthaftung erwähnt.

Referentin Dr. Christiane Simmler
Dr. Marc Christoph Baumgart | Rechtsanwalt | www.ra-baumgart.de

Zunächst betonte die Referentin noch einmal den Grundsatz, dass in Fällen des voll beherrschbaren Risikos zugunsten des Patienten lediglich das Verschulden vermutet wird, jedoch keine Beweislastumkehr für den Ursachenzusammenhang zwischen Fehler und Gesundheitsschaden eintritt. Mehrere Entscheidungen betrafen geltend gemachte Hygienefehler. Insofern verbleibt es bei den allgemeinen Regelungen des Arzthaftungsprozesses, wonach die Klägerseite zunächst substantiiert einen Hygienefehler behaupten muss. Anschließend obliegt der Beklagtenseite eine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich des Hygienekonzepts und dessen Einhaltung. Die Notwendigkeit eines speziellen Hygienegutachtens wird durch die Gerichte zurückhaltend bewertet. Im Regelfall, zumindest bei der Behandlung durch niedergelassene Ärzte, sollte der Umgang mit Hygieneanforderungen durch einen fachgleichen Sachverständigen beurteilt werden.
Einen weiteren Schwerpunkt der kammergerichtlichen Rechtsprechung im letzten Jahr bildeten wiederum Diagnose- und Befunderhebungsfehler und deren Abgrenzung voneinander sowie zur therapeutischen Aufklärung und Therapiesicherung. Festgehalten werden kann, dass ein Diagnosefehler vorliegt, wenn alle für die Diagnose notwendigen Befunde erhoben und nur falsch gewertet wurden. Auf der anderen Seite liegt ein Befunderhebungsfehler vor, wenn noch nicht alle Befunde erhoben wurden, um die Diagnose zu ermöglichen. Schwieriger ist die Abgrenzung zwischen Befunderhebungsfehler und einem Fehler der therapeutischen Aufklärung. Das Kammergericht schließt sich insoweit der BGH-Rechtsprechung an, dass bei dem ärztlichen Rat, eine Befunderhebung durchführen zu lassen, jedoch kein Hinweis auf die Dringlichkeit der Untersuchung erfolgt, es sich um einen Fehler der therapeutischen Sicherheitsaufklärung und nicht um einen Befunderhebungsfehler handelt.
Viele Fragen der richtigen Aufklärung kreisen um den Aspekt der hypothetischen Einwilligung. Hierzu betont Dr. Simmler noch einmal das Prüfungsschema, wonach zunächst ein Aufklärungsfehler feststehen muss. Erst dann kann der Einwand der hypothetischen Einwilligung erhoben werden. Hiergegen kann die Patientenseite vortragen, dass sie sich in einem Entscheidungskonflikt befunden hätte. Nicht erforderlich ist der Vortrag, wie sich der Patient oder die Patientin tatsächlich entschieden hätte. Insofern wird durch die Rechtsprechung des Kammergerichts betont, dass die hypothetische Einwilligung nicht der Regel-, sondern der Ausnahmefall ist. Zur Geltendmachung von Aufklärungsfehlern weist Frau Dr. Simmler darauf hin, dass diese durchaus zu anderen Zeitpunkten als geltend gemachte Behandlungsfehler verjähren können. Häufig besteht die Kenntnis über einen Aufklärungsfehler bereits zu einem früheren Zeitpunkt als über einen Behandlungsfehler, weil letzterer erst in einem später erstellten vorgerichtlichen Gutachten festgestellt wird.
Hinsichtlich des Schmerzensgeldes verbleibt es bei der letzten wesentlichen BGH-Rechtsprechung, dass das Schmerzensgeld weder taggenau berechnet noch nach „Einzelschäden“ aufaddiert werden kann. Vielmehr ist eine einzelfallbezogene Gesamtwürdigung erforderlich, woraus ein Gesamtbetrag an Schmerzensgeld ausgeurteilt wird.
Zu möglichen Dokumentationsfehlern betont Dr. Simmler, dass die Dokumentationspflicht den medizinischen Vorgaben folgt. Was medizinisch nicht erforderlich ist, ist auch nicht zu dokumentieren. Ein Dokumentationsfehler ist kein Behandlungsfehler. Allerdings gilt, dass dokumentationspflichtige Behandlungsschritte, die nicht dokumentiert sind, als nicht geschehen gelten. Erst aus dieser Bewertung kann sich möglicherweise ein (grober) Behandlungsfehler herleiten.
Zu einzelnen Aspekten der dargestellten Rechtsprechung des Kammergerichts entspann sich eine lebhafte Diskussion, u.a. deshalb, weil beteiligte Prozessparteien unter den Zuhörern anwesend waren. Eine sehr gelungene Veranstaltung, auf deren Neuauflage wir uns Ende 2023 hoffentlich freuen dürfen.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 03/2023 | 72. Jahrgang