Anwältinnen gehen in die Schule

Ein Projekt des Berliner Anwaltsvereins. „Es muss nicht immer Strafrecht sein“, oder doch?

Frau Sarah Schmidthals, Lehrerin im Theodor-Heuss Gymnasium, hatte mich gebeten, zum Thema „Recht“ vor einer 10. Klasse zu referieren. Nach meiner Erfahrung fanden die Jugendlichen nur das Strafrecht – Mord und Totschlag – spannend. Da ich keine Strafverteidigerin bin, habe ich klargestellt, dass ich in dieser Hinsicht nicht viel beitragen könne. Frau Schmidthals versicherte mir jedoch, ihre Schülerinnen und Schüler seien durchaus an dem Thema „Recht“ interessiert und ich möge über meine Tätigkeit und als Juristin berichten. Mir wurde also vollkommen freie Hand gelassen.

Claudia Frank | Rechtsanwältin | Stellvertretende Vorsitzende des Berliner Anwaltsvereins | Stellvertretende Vorsitzende des Verbandes freier Berufe Berlin | Probandt PartGmbB

Im Klassenraum nahm ich den „Lehrertisch“ ein. Vor mir lag ein Sitzplan mit Namensliste und ich sah, fast alle Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund. Zwei Schüler waren nicht erschienen. Frau Schmidthals erklärte, ein Schüler komme schon lange nicht mehr. Er dealt lieber, bekomme so mehr Geld. Seine Eltern kümmert das nicht. Der andere Schüler befindet sich seit Wochen in Untersuchungshaft. Warum, sei nicht bekannt. Damit war mir klar, wenn ich die Schüler und Schülerinnen begeistern will, dann muss ich auf das Strafrecht eingehen und ein Rollenspiel durchführen.
Ich hatte mir nach diesen Erkenntnissen ein Credo überlegt: „Wer straffrei lebt – lebt besser“.
Wer sich nicht verstecken, keine Ausreden oder Lügen parat haben muss, der hat es leichter. Mit diesem Satz begann ich und wiederholte ihn während der zwei Stunden immer wieder.

„Dass eine Anwältin bei uns war, fand ich ziemlich lehrreich. Wir haben zwar vorher auch schon viel zu dem Thema im Unterricht gemacht, aber man konnte so nochmal einen tieferen Einblick bekommen.“ (Derya)

Meine Begeisterung für unser Rechtssystem im Kontext der deutschen Geschichte wollte ich vermitteln. Ich begann mit dem Grundgesetz und dessen Entstehen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es wurden sehr gute Fragen gestellt, die ich gern beantwortet habe, die mir aber auch zeigten, diese Jugendlichen sind von ihrer Lehrerin wirklich ungewöhnlich gut vorbereitet.
Das Rechtssystem, das wir heute in Deutschland haben, stieß auf besonderes Interesse: „Warum bekommt ein Mörder einen Verteidiger?“. „Würden Sie einen Mörder verteidigen?“. Auch eine Frage, mit der wir wohl alle immer wieder konfrontiert werden, die zu beantworten mir leichtfällt.
„Warum werden Steuerhinterzieher immer (!) schwerer bestraft als Menschen, die jemanden verletzen (!)?“
Woher diese Erkenntnis stammt, konnte der Schüler mir nicht sagen, und ich habe klargestellt, dass solche Verallgemeinerungen nicht gut sind.
Anhand dieser Fragen habe ich auch die Entstehung des Rechtssystems nach unserer Nazi-Vergangenheit erklärt und betont, dass es so wichtig ist, dass wir für den Rechtsstaat eintreten. Die Gleichheit vor dem Gesetz, ein rechtsstaatliches und faires Verfahren sowie unabhängige Richter und Richterinnen habe ich als einen der Grundpfeiler des Rechtsstaats versucht nachvollziehbar zu erklären.
Ich war überrascht, die Schüler waren an dem, was ich ihnen sagte, wirklich interessiert. Die Jugendlichen verstanden, dass es erstaunlich viele Staaten gibt, die sicherlich kein Rechtsstaat sind, wobei ich auch die USA erwähnte und Guantanamo.
„Was ist ein unabhängiger Richter?“ Meine Antwort wurde nicht so schnell akzeptiert und ich fand es gut, dass einige daran gezweifelt haben. „Niemand ist ganz unabhängig.“ Richtig, dachte ich mir.

„Ich fand den Besuch der Anwältin cool, weil wir ein Rollenspiel gemacht haben und ich den Rechtsanwalt spielen durfte.“ (Prince)

Nach einigen Fragen, und um mein Publikum bei Laune zu halten, bat ich die Schüler und Schülerinnen, bei einem Rollenspiel mitzumachen. Ich wusste es, das war es, worauf sie gewartet hatten.

Der Staatanwalt, rechts, fordert die Todesstrafe! Die Richterin, Mitte, lehnt es zum Glück ab. Die Schöffen wollen mitreden.
Verteidiger links, vor mir die Angeklagte, neben ihr die Zeugin. In der Mitte die Richterin (mit meiner Robe) mit den beiden Schöffen neben ihr.

Zunächst machte ich sie mit dem Sachverhalt vertraut, den ich mir vorher ausgedacht hatte. Ein Taxifahrer – leicht angetrunken – mit Fahrgast, ist in einen nicht erleuchteten Weihnachtsmarkt gefahren. Der Weihnachtsmarkt war noch nicht eröffnet und auch nicht ordentlich abgeriegelt. Der Fahrgast hatte schwere Verletzungen davongetragen. Ein Stand vom Weihnachtsmarkt wurde beschädigt.
Bei der Rollenverteilung schnellten die Finger in die Höhe. Eine Angeklagte und eine Richterin, ein Staatsanwalt, ein Verteidiger und zwei männliche Schöffen waren sofort gefunden. Der Polizist und die Zeugin waren enttäuscht. Diese Rolle wollte keiner gern einnehmen. Die anderen Schüler mussten sich mit der Statistenrolle – dem Publikum – zufriedengeben.
Ich erklärte, welche Straftaten begangen wurden und wie die Anklage lautet. Die Richterin eröffnete die Sitzung. Sie fragte nach den Personalien der Angeklagten, einer Taxifahrerin. Der Staatsanwalt verlas die Anklageschrift. Die Angeklagte wurde gefragt, ob sie sich äußern möchte, was diese sofort bejahte, ohne sich mit ihrem Verteidiger zu besprechen. Die „Angeklagte“ war so gut, dass sie ihrem etwas hilflosen Verteidiger klar machte, sie sei ohne ihn besser dran. Der Staatsanwalt, wie fast immer in Schulen, war hart, scharf, laut, und als er mal fünf Minuten nichts sagen durfte, stand er auf und forderte die Todesstrafe.
Mein Stichwort. Nach kurzer Unterbrechung, wir diskutierten das Strafmaß, ging es weiter. Die Zeugen wurden vernommen. Nach den Plädoyers zog sich das Gericht zur Beratung zurück. Während der Beratung kamen noch viele Fragen aus dem Publikum. Diese waren wirklich gut und ich war erstaunt, wie über die Folgen einer Verurteilung nachgedacht wurde. Natürlich hatte ich berichtet, was es heißt, in U-Haft zu sein. Nun, ich hoffe nur, keiner dieser Schüler macht jemals die Erfahrung.
Dann teilte das Gericht mit, es sei zu einer Entscheidung gelangt, und betrat den „Gerichtssaal“: Alle standen auf. Die Richterin verkündete ihr Urteil. Es begann mit den Straftaten, die das Gericht für erwiesen ansah, und begründete das Urteil wirklich sehr gut. Doch dann, Schweigen! Wir alle starrten sie an und ich fragte: „Und welche Strafe?“ Wieder ein Zögern. „Oh, darüber haben wir nicht entschieden.“ Ein Lachen ging durch den Raum und mit meiner Hilfe wurde dann doch noch eine Geldstrafe verhängt und ein Fahrverbot. Die Angeklagte nahm es mit Fassung.
Es war so interessant, wie gut die Schüler mitmachten, sie alberten nicht herum, sie waren voll im Geschehen. Es war ein guter Nachmittag, die Lehrerin meinte, so konzentriert hätte sie diese Klasse selten erlebt. Sicherlich, ich werde in zwei Stunden nicht das ändern können, was ältere Brüder, falsche Freunde bei den Jugendlichen schon vorgelebt haben. Die Gesichter, die mich anschauten, waren offen, sie waren ruhig, hörten aufmerksam zu.

„Wir müssen uns viel mehr den Fragen und Ideen, Hoffnungen und Vorstellungen der Jugendlichen annehmen“

Mir wurde klar, ich lebe wohl in Berlin und doch in einer anderen Welt. Viele der Jugendlichen sprechen zu Hause nicht Deutsch, sie kommen aus einer anderen Kultur, auch wenn sie hier geboren sind. Wir müssen uns viel mehr deren Fragen und Ideen, Hoffnungen und Vorstellungen annehmen. Wie gut, dass es Lehrer und Lehrerinnen wie Frau Schmidthals gibt, die das erkennt und uns bittet, den jungen Menschen eine andere Sicht auf diesen Staat zu vermitteln.
Ich hoffe sehr, dass wir mehr Anfragen von Schulen bekommen. Wir müssen die Chance ergreifen und uns dieser Aufgabe stellen. Dieser Artikel wurde nach der Silvesternacht 2022/2023 fertiggestellt. Ich bin sicher, „meine“ Klasse wird diese Straftaten ablehnen und verurteilen. Das wiederum macht mich froh.

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Exklusiv für Mitglieder | Heft 03/2023 | 72. Jahrgang