Aufenthaltsrecht für Vertriebene aus der Ukraine

Ein Update

Inzwischen dauert der Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine über sechs Monate. Nach den aktuellen Luftangriffen ist zu erwarten, dass erneut Menschen aus der Ukraine vorübergehend in Europa, auch in Deutschland Schutz suchen.

Rolf Stahmann | Rechtsanwalt
Exklusiv für Mitglieder | Heft 12/2022 | 71. Jahrgang

Online-Fortbildung des Berliner Anwaltsvereins im April mit dem Titel „Rechtshilfe für Geflüchtete aus der Ukraine“

v.l.: Christian Christiani | Rechtsanwalt | Geschäftsführer des Berliner Anwaltsvereins,
Rolf Stahmann | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Migrationsrecht
Christoph von Planta | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Migrationsrecht
Joachim Genge | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Sozialrecht und für Migrationsrecht,
Wiebke Poschmann | Rechtsanwältin

Der Krieg in der Ukraine führte erstmals zur Umsetzung der Massenzustromrichtlinie, die seit dem Ratsbeschluss vom 4. März 2022 angewendet wird. In Deutschland erhalten die in dem Ratsbeschluss genannten Personengruppen über § 24 AufenthG einen Aufenthaltstitel zum vorübergehenden Schutz nach der Richtlinie. Seit der Beschreibung der Aufenthaltsrechte in den Veranstaltungen des BAV vom Frühjahr (siehe Artikel im Anwaltsblatt 6/22, Seiten 214–222), haben sich etliche Fragen geklärt, neue Fragen sind indes hinzugekommen.

„Unklar ist, ob bei wiederholter Ein- und Ausreise auch hier nur die erste Einreise gilt“

Neu ist, dass Vertriebene seit Neuausrichtung der UkraineAufenthÜV vom 24. August 2022 nicht mehr – wie in den Vorgängerversionen – bis zu einem bestimmten Stichtag (31. Mai oder 31. August 2022) Anträge stellen können, sondern nur noch 90 Tage ab der „erstmaligen Einreise“. Unklar ist, ob bei wiederholter Ein- und Ausreise auch hier nur die erste Einreise gilt. In diesem Fall wären Personen, die vorübergehend in die Ukraine zurückkehren, um die Sicherheitslage zu prüfen, von der erneuten Antragstellung ausgeschlossen. Eine solche Anwendungspraxis wäre aber vor dem Hintergrund, dass viele Vertriebene nach Einstellung der Luftangriffe auf Kiew und andere Orte in der Westukraine zunächst zurückkehrten, diese Orte nun aber erneut von Luftangriffen betroffen sind, schwer verständlich. Eventuell bedarf es hierzu einer Klarstellung des Gesetzgebers in einer neuen Verordnung.
In Bezug auf die Verteilung von Vertriebenen gilt seit dem 1. Juni 2022, dass alle neu Einreisenden aus der Ukraine zunächst beim LAF vorsprechen müssen. Eine unmittelbare Antragstellung bei der Berliner Ausländerbehörde, wie es unter bestimmten Voraussetzungen bis zum 31. Mai 2022 noch möglich war, ist nun nicht mehr möglich.
Hinsichtlich der im Ratsbeschluss genannten unmittelbar zu schützenden Gruppen ist noch unklar, wie unverheiratete Partner ukrainischer Staatsangehöriger behandelt werden. Familienangehörige ukrainischer Staatsangehöriger fallen selbst dann unter den verbindlichen Ratsbeschluss, wenn sie nicht die ukrainische Staatsangehörigkeit besitzen und auch dann, wenn sie keinen rechtmäßigen Aufenthalt in der Ukraine hatten. Sie müssen aber die tatsächliche eheliche oder eheähnliche Lebensgemeinschaft mit dem oder der ukrainischen Staatsangehörigen „glaubhaft“ machen. Dies stößt bei Personen, die keinen Aufenthaltstitel in der Ukraine hatten, auf Schwierigkeiten, wenn auch kein gemeinsamer Mietvertrag oder ähnliches vorgelegt werden kann. Etwaige Fotos oder eidesstattliche Erklärungen genügen der Leitung der Berliner Ausländerbehörde aktuell nicht, weswegen sich insofern wohl Gerichtsverfahren beim Verwaltungsgericht abzeichnen.
Unklar war zunächst die Frage bei nicht-ukrainischen Vertriebenen mit langfristigem Aufenthaltstitel, was „sichere und dauerhafte Rückkehr in das Heimatland“ bedeutet. Hierzu hatte die Kommission dargelegt, dass bei dieser Frage auch zu prüfen sei, ob die betreffende Person an die Ukraine mehr Bindungen hat als an das Heimatland. Dies knüpft offenbar an das „Recht auf Privatleben“ aus Art. 8 EMRK an, welches auch bei in Deutschland langjährig lebenden Ausländern Bedeutung hat und in §§ 25a und 25b AufenthG rechtlich umgesetzt ist. Das BMI hat nun darauf hingewiesen, dass in der Regel allein schon die Erteilung des unbefristeten Aufenthaltstitels in der Ukraine ein widerlegliches Indiz für die besondere Bindung ist und ausreichen soll (BMI, aktualisierte Hinweise vom 5. September 2022).
Offen sind weiterhin Rechtsfragen hinsichtlich der Vertriebenen, die nicht unmittelbar durch den Ratsbeschluss geschützt werden, also der nicht-ukrainischen Staatsangehörigen mit nur einem befristeten ukrainischen Aufenthaltstitel. Hierzu hatte die Kommission den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, auch diese zu schützen und einen großzügigen Maßstab empfohlen. Das BMI hat darauf hingewiesen, dass auch insofern ein Aufenthaltstitel nach § 24 AufenthG erteilt werden kann, wenn eine sichere und dauerhafte Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich ist. Dies wird vom BMI pauschal für die Länder Afghanistan, Syrien und Eritrea bejaht, dürfte aber auch für Iran (insbesondere nach dem Abschiebungsstopp des Landes Berlin) und Somalia der Fall sein. In anderen Fällen soll nach Auffassung des BMI der Verweis auf ein Asylverfahren erfolgen, zumindest eine Beteiligung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach § 72 AufenthG erfolgen.
Der Berliner Senat hält eine großzügige Linie inzwischen ebenfalls für erforderlich (Senatsbeschluss S-606/2022 vom 16. August 2022). Dies ist richtig, denn insbesondere ausländische Studierende, die ihr Studium in der Ukraine, insbesondere in der Universitätsstadt Charkiw abbrechen mussten, sind besonders betroffen. Die Ausländerbehörde Berlin hat dies in den VAB zu § 24 AufenthG vom 8. September 2022 wie folgt umgesetzt:

Es soll bei nicht-ukrainischen Vertriebenen in folgender Reihenfolge geprüft werden:
(1) Wunsch nach freiwilliger Ausreise
(2) Familienangehöriger eines Schutzberechtigten
(3) Inhaber eines ukrainischen Reiseausweises für Flücht linge oder „Travel Documents for Person Granted Complementary Protection“
(4) Herkunftsland Afghanistan, Eritrea oder Syrien
(5) Zweckwechsel in einen Aufenthaltstitel auf anderer Rechtsgrundlage
(6) BAMF-Beteiligung nach § 72 Abs. 2 AufenthG
(7) Senatsbeschluss Nr. S-606/2022 vom 16.08.2022.

Personen, die Probleme bei Rückkehr in das Herkunftsland geltend machen, sollen eine Fiktionsbescheinigung für ein Jahr erhalten für die Zeit der Beteiligung des Bundesamtes (Ziffer 6). Sieht das Bundesamt keine Probleme hinsichtlich einer sicheren und dauerhaften Rückkehr, soll nochmals die Möglichkeit des Zweckwechsels bestehen (Ziffer 5), ohne dass aber die Fiktionsbescheinigung verlängert werden kann, was rechtlich falsch sein dürfte.
Personen, die von vornherein keine Probleme bei Rückkehr in den Herkunftsstaat geltend machen, sollen für einen Zeitraum von sechs Monaten eine Fiktionsbescheinigung erhalten, um ihren Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ggf. auf eine andere Grundlage zu stellen (Ziffer 5). Begünstigt sind davon insbesondere die Studierenden, die erwägen, ihr in der Ukraine begonnenes Studium in Berlin gemäß § 16b AufenthG fortzusetzen, aber noch nicht die dazu nötigen Sprachkenntnisse haben (siehe aber die Möglichkeit eines Aufenthaltstitels zum Sprachkurs nach § 16f AufenthG), noch keinen Studienplatz gefunden haben (siehe aber die Möglichkeit eines Aufenthaltstitels zur Studienplatzsuche nach § 17 AufenthG) oder erst noch die Finanzierung des Studiums regeln müssen. Denkbar ist natürlich weiterhin auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Berufsausbildung oder qualifizierten Beschäftigung. Die Entscheidung ist nicht nur humanitär richtig, sondern auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels nachvollziehbar. Die gewährte Frist dürfte aber zu kurz bemessen sein.

„Das Bundesamt ist bislang nicht bereit gewesen, die Asylakten wieder ohne Abschiebungsandrohung zu schließen“

Leider können nach bisheriger Praxis die Personen, die unmittelbar nach Beginn des Krieges aus der Ukraine flohen und hier vor dem 4. März 2022 (Tag des Ratsbeschlusses) ankamen und mangels anderweitiger Möglichkeiten einen Asylantrag stellten, von den Möglichkeiten in den neuen VAB wegen der Sperrwirkungen des § 10 AufenthG nicht profitieren. Das Bundesamt ist bislang nicht bereit gewesen, die Asylakten wieder ohne Abschiebungsandrohung zu schließen. Die Betroffenen können nur humanitäre Aufenthaltserlaubnisse erhalten und sind deswegen insbesondere von der Fortsetzung ihres Studiums im Bundesgebiet nach § 16b AufenthG ausgeschlossen.
Unverändert schwierig ist die Situation für nichtukrainische Staatsangehörige, die schon in der Ukraine einen nur prekären Aufenthalt (geduldete Personen oder solche ohne jegliche Registrierung) hatten. Hier wird in der Regel allenfalls ein Asylantrag helfen können.

?? Für die #Rechtshilfe für geflüchtete Menschen aus der #Ukraine haben Verbände, Vereine und Arbeitsgemeinschaften folgende hilfreiche Informationen zusammengestellt:
ARGE #Sozialrecht im DAV: „Zugang zu Sozialleistungen für Geflüchtete aus der Ukraine“ – https://bit.ly/3vWAvEY
Bundesverband der #FreienBerufe e.V.: „Ukraine – Freiheit ist solidarisch!“ – https://bit.ly/3MNqPn2
#DeutscherAnwaltverein: „Patenschaften für ukrainische Kollegen und Kolleginnen“ – https://bit.ly/3KF2P3Y
„Rechtshilfe für geflüchtete Menschen aus der Ukraine“ – BAB 05/22 – https://bit.ly/381c29p