Begrüßungsrede zum Berliner Anwaltsessen

Vor drei Jahren haben wir uns das letzte Mal hier getroffen. Seitdem ist viel geschehen. Die weltweite Pandemie und der Angriffskrieg vor den Toren der Europäischen Union gehören zu den großen, nicht für möglich gehaltenen Herausforderungen, die uns – neben vielen anderen politischen und gesellschaftlichen Aufgaben – nahezu täglich beschäftigen. In den vergangenen Jahren ist aber zunehmend auch die Erkenntnis und Gewissheit gewachsen, dass wir diese Vielzahl von Aufgaben nur gemeinsam bewältigen können. Als dem Rechtsstaat verpflichtete Gemeinschaft müssen wir daher immer wieder zusammenkommen, um uns auszutauschen und unser Wissen zusammenzubringen.

Uwe Freyschmidt | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Strafrecht | Vorsitzender des Berliner Anwaltsvereins
Exklusiv für Mitglieder | Heft 11/2022 | 71. Jahrgang

Vor drei Jahren haben wir uns das letzte Mal hier getroffen. Seitdem ist viel geschehen. Die weltweite Pandemie und der Angriffskrieg vor den Toren der Europäischen Union gehören zu den großen, nicht für möglich gehaltenen Herausforderungen, die uns – neben vielen anderen politischen und gesellschaftlichen Aufgaben – nahezu täglich beschäftigen.
In den vergangenen Jahren ist aber zunehmend auch die Erkenntnis und Gewissheit gewachsen, dass wir diese Vielzahl von Aufgaben nur gemeinsam bewältigen können. Als dem Rechtsstaat verpflichtete Gemeinschaft müssen wir daher immer wieder zusammenkommen, um uns auszutauschen und unser Wissen zusammenzubringen.

 

Gerade in Zeiten, in denen das Konzept des Rule of Law wieder einmal durch politische Machtinteressen gefährdet erscheint, ist dieser gemeinsame Austausch alternativlos. Nur der gemeinsame Wille, das rechtsstaatliche Gemeinwesen sicher und zukunftsfähig zu gestalten, wird uns voranbringen, stellt uns aber auch vor die Aufgabe, die zahlreichen damit einhergehenden Probleme klar zu benennen, um dann tragfähige Lösungsansätze zu entwickeln.
Dies ist in Zeiten, in denen auch die Anwaltschaft und die Justiz als tragende Säulen der Rechtsstaatlichkeit einem vielschichtigen Wandel unterworfen sind, für uns alle eine besondere Herausforderung und verlangt mehr denn je eine hohe Flexibilität und einen besonderen Gestaltungswillen jenseits der jeweiligen Partikularinteressen.
Wir sind uns dabei im Klaren, dass wir die aktuellen Herausforderungen nicht allein durch Reden bewältigen können. Wir wissen aber auch, dass das offene Diskutieren von Problemen der erste Schritt zu ihrer Lösung sein kann. Erlauben Sie mir daher, aus der Vielzahl von Themen einige Bereiche herauszugreifen, die unsere besondere Aufmerksamkeit erfordern.

1.

Seit rund einem Jahrzehnt berichtet die Statistik über rückläufige Zahlen in der niedergelassenen Anwaltschaft, in den vergangenen fünf Jahren hat sich die Gesamtanwaltschaft in Deutschland um nahezu acht Prozent reduziert. Berücksichtigt man den Umstand, dass in den kommenden Jahren die zulassungsstarken Jahrgänge der Babyboomer-Generation das Ruhestandsalter erreichen werden, während die Zahl der Absolventen der volljuristischen Ausbildung zurückgeht, ist abzusehen, dass sich diese rückläufige Tendenz weiter verstärken wird. Die Auswirkungen dieser berufsdemografischen Entwicklung, die vornehmlich den deutschen Rechtsdienstleistungsmarkt betrifft, werden bereits heute deutlich wahrgenommen und geben zu Besorgnis Anlass.
Der negative Effekt rückläufiger Anwaltszahlen betrifft zunächst vor allem kleine und mittelständische Kanzleien, die zunehmend erhebliche Probleme haben, Nachwuchs zu gewinnen. Gerade diese Kanzleien gewährleisten aber – insbesondere in der Fläche, d. h. in weniger siedlungsstarken Gebieten – den Zugang zum Recht. Hausanwälte und Hausanwältinnen werden ebenso wie Hausärzte und Hausärztinnen auch in der Zukunft für die allgemeine Rechtsberatung benötigt, sie haben als erste vertrauensvolle Ansprechpartner eine wichtige Funktion für den rechtsuchenden Bürger. Diese Dienstleistung darf daher nicht der demografischen Entwicklung zum Opfer fallen. Ob und inwieweit gezielte Leistungsanreize oder die Möglichkeit digitaler Rechtsberatung geeignet sind, diesem bedenklichen Trend entgegenzuwirken, und wie das ganz praktisch funktionieren kann, muss meines Erachtens weiter intensiv diskutiert werden.
Aber nicht nur die Anwaltschaft, auch die Justiz muss mit dem Problem umgehen, dass in den kommenden zehn Jahren ca. 8000 Richter und Richterinnen sowie Staatsanwälte und Staatsanwältinnen in den Ruhestand gehen werden. Dies erscheint, selbst bei zurückgehenden Eingangszahlen, eine hohe, besorgniserregende Zahl. Es stellt sich daher die Frage, wie dieser Aderlass, der mehr als 30 % der jetzigen Berufsträger betrifft, aufgefangen werden soll.
Eine Antwort könnte in der Besoldung liegen: Im EU-Vergleich liegen die deutschen Richtereinkommen offenbar weit unten. Der auch in dieser Frage meinungsstarke ehemalige Bundesrichter Prof. Fischer führt dazu an, Richter verdienten in Deutschland eindeutig zu wenig. Zitat: Die Justiz müsse frohlocken, wenn sie noch den unteren Rand der mittelmäßig Abschneidenden abkriege. Er fordert daher eine einheitliche, in allen Instanzen und Funktionen gleich hohe Besoldung aller Richter und Richterinnen in einer Höhe, die der existenziell herausgehobenen Stellung der Aufgabe entspricht.
Ob dieser Ansatz in der Justiz selbst konsensfähig erscheint, vermag ich nicht zu beurteilen. Wichtig erscheint mir aber, dass die Diskussion, wie zu erwartende Personallücken geschlossen werden sollen, intensiv und möglichst transparent geführt wird. Dazu gehört sicherlich auch, die Politik immer wieder auf dieses die Justiz im Kern beeinträchtigende, lokal schon prekäre und voraussehbar noch größer werdende Problem hinzuweisen.

2.

Ein weiteres, uns alle im hohem Maße betreffendes Thema ist die Digitalisierung der Justiz. Es dürfte Konsens sein, dass die digitale Transformation eine bessere Ausstattung der Justiz braucht.
Grundsätzlich positiv ist festzustellen: Nach ersten Anpassungsproblemen läuft das Besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) recht zuverlässig. Gerüchteweise hört man zwar, dass bei einzelnen Gerichten die eingehenden beA-Schreiben noch zentral ausgedruckt und den Richtern dann wiederum in Papierform vorgelegt werden. Sie sehen es mir aber sicherlich nach, wenn ich Sie dazu mit näheren Ausführungen verschone.
Kritisch ist jedenfalls anzumerken, dass die technische Ausstattung der Gerichte bundesweit noch sehr unterschiedlich ausfällt. Das gilt auch für den Breitbandausbau. Es gibt Gerichte, in denen ein WLAN-Empfang problemlos möglich ist und solche, in denen kein oder zumindest kein flächendeckender Empfang angeboten wird. Das ist im Zeitalter des digitalen Workflows den Prozessbeteiligten nicht mehr vermittelbar.
Im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs wird von großen Teilen der Anwaltschaft die elektronische Gerichtsakte herbeigesehnt. Wann genau wird sie kommen? Wie ist der Stand der Umsetzung? Wird sie auch die Beiakten, etwa die Verwaltungsakten der Fachbehörden, umfassen? Wird es ein bundesweites, auf einer einheitlichen Software beruhendes Anwendungsprogramm geben? Fragen über Fragen; leider finde ich dazu in den zugänglichen Quellen kaum verlässliche Antworten. In dieser wesentlichen Frage sollte jedoch eine transparente Information über den Stand der Umsetzung regelmäßig erfolgen.

Zu den anstehenden Gesetzesvorhaben gehört auch die Dokumentation der Hauptverhandlung im Strafprozess. Als Strafverteidiger begrüße ich diesen überfälligen Vorstoß des Bundesjustizministeriums sehr. Ich frage mich aber, wie in Gerichten, die in ihrem Stand der Digitalisierung schon heute der Entwicklung hinterherlaufen, das dafür erforderliche technische Equipment zeitnah bereitstehen und zur Anwendung kommen soll. Ich sehe voraus, dass noch erhebliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden müssen, um den neuen Verfahrensablauf bundesweit rechtssicher zur Anwendung zu bringen. Es wird Aufgabe der Justizpolitik sein, dafür Sorge zu tragen, dass diese erforderlichen Mittel trotz der herausfordernden Zeiten flächendeckend zur Verfügung stehen.

3.

Ich möchte meine kritischen Anmerkungen nicht abschließen, ohne kurz ein weiteres, in den öffentlichen und sozialen Medien viel diskutiertes Thema anzusprechen.
Das Ansehen unserer Berufsstände beruht bekanntlich auf hergebrachten Core Values. Was für die Anwaltschaft etwa die Unabhängigkeit, Verschwiegenheit und das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen bedeutet, ist für die Justiz das Gebot der Neutralität, Distanz und Unparteilichkeit. Wir alle wissen, dass bereits der begründete Anlass, an der Unvoreingenommenheit eines Richters zu zweifeln, die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit begründen kann.
Die Frage muss daher erlaubt sein: Ist es mit der notwendigen Distanz zu den Prozessparteien vereinbar, wenn sich das BVerfG auf Kosten der ehemaligen Bundeskanzlerin im Bundeskanzleramt zu einem gemeinsamen Abendessen trifft und sich dabei offenbar einen Vortrag – man könnte auch sagen: eine Dinner-Speech – der ehemaligen Justizministerin über die umstrittenen Corona-Maßnahmen der Bundesregierung anhört, obwohl die Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde zu genau diesem Thema noch bevorsteht?
Lassen Sie es mich so formulieren: Das alles hat zu einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt. Dieser Vertrauensverlust wäre ohne größeren Aufwand vermeidbar gewesen. Dass Verfassungsorgane persönlich miteinander reden, ist grundsätzlich zu begrüßen. Dass man aber einen derart wichtigen Gedankenaustausch nicht gerade vor der Entscheidungsfindung führen sollte, scheint mir auf der Hand zu liegen. Wenn man das aber bewusst anders entschieden hat, dann wäre es eine notwendige vertrauensbildende Maßnahme gewesen, transparent und bürgernah die Gründe für den Ablauf dieses Treffens zu erläutern. So bleibt ein Störgefühl in der Öffentlichkeit zurück, das der Justiz insgesamt nicht guttut und das sie ohne Zweifel nicht verdient hat.