Begrüßungsrede zum Berliner Anwaltsessen 2023

Sie alle kennen sicherlich H.G. Wells‘ Roman „Time Machine“ – Die Zeitmaschine. Darf ich Sie kurz zu einer kleinen Zeitreise einladen? Stellen Sie sich vor, es ist ein klarer Novemberabend im Jahr 2030. Die bekannte Strafverteidigerin Diana G. sitzt an ihrem Schreibtisch in ihrem gut ausgestatteten Homeoffice und bearbeitet einen umfangreichen Fall. Gestern wurden in dieser Sache in einer langen Hauptverhandlung vor dem Landgericht sechs Zeugen vernommen.

Uwe Freyschmidt | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Strafrecht | Vorsitzender des Berliner Anwaltsvereins

Diana wirft nun einen Blick in die digitale Gerichtsakte, nachdem sie sich in das E-Justice- System des Landgerichts schnell und sicher eingeloggt hat. Dort findet sie – wohlgemerkt: einen Tag nach der Hauptverhandlung! – alle Zeugenaussagen im Wortlaut. Durch moderne Spracherkennungssoftware wurden die im Gerichtssaal aufgenommenen Aussagen präzise und vollständig erfasst und umgehend transkribiert, so dass sie bereits am Folgetag allen Verfahrensbeteiligten zugänglich wurden. Diana prüft nun die Aussagen und ruft dann ihr KI-Modul – also ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Arbeitsprogramm – auf, um eine Dokumentenanalyse vorzunehmen. Sie stellt dem Programm die folgende Frage: Worin unterscheidet sich die Aussage der Zeugin Carola C. von den Aussagen des Zeugen Bernd B.? Bruchteile von Sekunden später erhält Diana die passende Antwort. Eine nützliche Information, denkt sie sich und beginnt nun, in ihrem Suchportal nach passenden Referenzfällen zu suchen. Da in Deutschland grundsätzlich alle Urteile der Gerichte veröffentlicht werden, wird sie schnell mehrfach fündig.

Zurück in die Gegenwart: Es ist ein klarer Novemberabend im Jahr 2023. Die verehrten Gäste des Berliner Anwaltsessens fragen sich gerade, welche Voraussetzungen in den kommenden sieben Jahren erfüllt sein müssten, um die soeben gehörte Vision für das Jahr 2030 realistisch erscheinen zu lassen. Die Antwort lautet:

  1. Die elektronische Prozessakte müsste eingeführt sein und allen Verfahrensbeteiligten als sichere Informationsplattform zur Verfügung stehen.
  2. Die Dokumentation der Hauptverhandlung müsste gesetzlich eingeführt und mit den Mitteln moderner Spracherkennungssoftware technisch umgesetzt worden sein.
  3. Für die Umsetzung künstlicher Intelligenz (KI) im Anwalts- und Justizbereich – etwa durch ChatGPT – müssten ergänzende Module entwickelt worden sein, die die juristische Recherche und Sachverhaltsaufklärung, etwa im Rahmen einer Dokumentenanalyse, sinnvoll vereinfachen.
  4. Gerichtsentscheidungen müssten in Deutschland grundsätzlich – das heißt ohne reduzierende Vorauswahl – veröffentlicht werden.

Diese vier Themen beherrschen bereits die aktuelle Diskussion zur Modernisierung und Digitalisierung der Justiz. Eine überaus wichtige Diskussion, weil ein Blick auf unsere europäischen Nachbarländer verrät, dass Deutschland erheblichen Aufholbedarf hat. Ein Beispiel: Ich arbeite in einem umfangreichen Strafrechtsfall mit einer spanischen Kollegin zusammen. Dort werden alle gerichtlichen Anhörungen – nicht nur die der Hauptverhandlung – vollumfänglich audiovisuell aufgezeichnet und stehen den Verfahrensbeteiligten in der elektronischen Gerichtsakte zur Verfügung. Man beachte, dass allen Verfahrensbeteiligten ein sicherer Lesezugriff auf alle prozessrelevanten Informationen eingerichtet wird. Dies könnte – technisch – auch der Standard in Deutschland werden.

„Eine überaus wichtige Diskussion, weil ein Blick auf unsere europäischen Nachbarländer verrät, dass Deutschland erheblichen Aufholbedarf hat“

Die Einführung der elektronischen Prozessakte ist in Deutschland bekanntlich gesetzlich zum 1. Januar 2026 festgelegt (§ 298a Abs. 1a ZPO); derzeit läuft noch die Einführungsphase. Während zahlreiche Gerichte eine elektronische Aktenführung bereits erfolgreich praktizieren, gibt es auf der anderen Seite immer noch Gerichte, an denen diese Möglichkeit nicht existiert. Dort führt ein elektronisch eingereichter Schriftsatz nach wie vor zu einem sogenannten Medienbruch – das heißt der zeitaufwendigen Übertragung digital eingereichter Dokumente in die Papierform. Um den Gerichten und Staatsanwaltschaften den Umstieg zu erleichtern, will das Bundesministerium der Justiz künftig verschiedene Formen der Hybridaktenführung zulassen. Es soll dann in einer Übergangszeit Akten geben, die aus elektronischen und Papierteilen bestehen. Hoffen wir, dass dieser Zwischenschritt gut organisiert ist, andernfalls sind erhebliche Anlaufschwierigkeiten vorherzusehen.

Und in Berlin? Hier läuft die probeweise Einführung der elektronischen Akte, allerdings wurde dagegen erst einmal geklagt. Der Gesamtrichterrat hat Leistungsprobleme bei der Software ausgemacht, zudem fehle es an leistungsfähigen Computern und das Sicherheitskonzept entspreche nicht den erforderlichen Standards. Das hört sich noch nach einer Menge Arbeit bis zur Umsetzung an. Man darf der Berliner Justizverwaltung unter diesen Voraussetzungen nur viel Erfolg beim weiteren, erforderlichen Projektmanagement wünschen. Bundesweit gilt es, einen Flickenteppich in der Justiz zu vermeiden, indem man den unterschiedlichen Stand der Digitalisierung in den einzelnen Gerichtsbezirken aufzeigt und fortwährend analysiert. Wichtige Unterstützung bei dieser erforderlichen Vergleichsanalyse leistet unter anderem der Deutsche Anwaltverein.

„Bundesweit gilt es, einen Flickenteppich in der Justiz zu vermeiden“

Kommen wir von der Entwicklung der elektronischen Akte zum umstrittenen Thema der Dokumentation der Hauptverhandlung. Als Vorsitzender des Berliner Anwaltsvereins habe ich dazu eine klare Meinung: Wenn moderne Spracherkennungssoftware heutzutage die Möglichkeit bietet, verbale Äußerungen präzise zu erfassen und zu verschriftlichen, sollte man diese technische Möglichkeit ergreifen, ansonsten macht man das Umfeld, das sich dieser Entwicklung verweigert, im europäischen Vergleich zunehmend zu einem Anachronismus.

Niemand wird ernsthaft in Abrede stellen, dass die heute in deutschen Gerichtssälen noch praktizierte Doppelbelastung durch Fragen, Zuhören und gleichzeitiges Mitschreiben zu inhaltlicher Unschärfe führen kann. Und damit meine ich nicht nur Strafgerichtssäle, denn die gleichen Probleme existieren in anderen Rechtsbereichen selbstverständlich auch. Anwältinnen und Anwälte, deren Mandanten es sich leisten können, zählen daher zu ihrem Verhandlungsteam eine eigene Protokollantin, die die Verhandlungsinhalte mitschreibt. Ist es gerecht, dass damit wohlhabende Prozessbeteiligte gegenüber weniger wohlhabenden Mandanten und Mandantinnen einen gewichtigen prozessualen Vorteil haben? Das dürfte wohl eher eine rhetorische Frage sein.

Eine mit den Mitteln moderner Spracherkennungstechnik erstellte Verhandlungsmitschrift bietet daher eine willkommene Erleichterung des prozessualen Handlings, denn sie macht eine Diskussion unter den Verfahrensbeteiligten über den Wortlaut einzelner Äußerungen von Zeugen weitgehend überflüssig. Ein derartiges Transkript stellt die besprochenen Inhalte verlässlich und transparent dar. Die prozessualen Vorteile für alle Verfahrensbeteiligten liegen auf der Hand.

Ich blende nicht aus, dass es Stimmen in der Justiz gibt, die gern alles beim Alten belassen würden. Und ich stimme ihnen insofern zu, als ein erheblicher Kostenaufwand zu erwarten ist, der finanziert werden muss. Wenn aber unsere europäischen Nachbarn in der Lage sind, eine verlässliche Dokumentation aller Hauptverhandlungen technisch, rechtlich und wirtschaftlich zu bewerkstelligen, sollte uns das in Deutschland auch gelingen. Ich bin mir sicher: Wir schaffen das.

Für die dritte Säule der Digitalisierung, die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) in der juristischen Leistungserbringung, scheinen die Einsatzmöglichkeiten in der zukünftigen gerichtlichen und anwaltlichen Praxis greifbarer zu werden. Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass nach wie vor eine intensive Diskussion über ethische und rechtliche Grenzen geführt wird. „Künstliche Intelligenz darf den Menschen nicht ersetzen“ – fordert nicht nur der deutsche Ethikrat.

Von Seiten der deutschen Richterschaft wird deutliches Interesse an einer Fortführung und Forcierung der laufenden oder geplanten KI-Projekte signalisiert und darüber hinaus eine internationale Vernetzung angestrebt. Diese grundsätzliche Offenheit der Justiz gegenüber der Nutzung künstlicher Intelligenz ist zu begrüßen und man kann nur hoffen, dass dafür in den kommenden Jahren ausreichende Mittel bereitgestellt werden.

Wie sich unsere juristischen Arbeitsmöglichkeiten unter diesen Voraussetzungen konkret entwickeln werden, ist heute noch schwer abzusehen, eines ist aber beruhigend festzustellen: Wichtige juristische Entscheidungen werden noch auf absehbare Zeit von Menschen getroffen werden, denn dafür bedarf es eines Bewusstseins und vor allem menschlicher Lebenserfahrung. Sicher ist aber auch, dass KI-gestützte Arbeitsprogramme dabei als helfendes Werkzeug zunehmend an Bedeutung gewinnen werden. Wir werden dies in Kürze erleben – etwa bei der Implementierung von KI-Modulen in unsere juristischen Rechercheprogramme. Daran vermag ich nichts Negatives zu erkennen.

„Wir sollten bei der Digitalisierung von Rechtsdienstleistungen einen modernen europäischen Standard anstreben“

Ein moderner Rechtsstaat sollte im Blick behalten, dass die Veröffentlichung von etwa drei Prozent aller in Deutschland getroffener Urteile kein akzeptabler Zustand ist. Zu einer Modernisierung unserer Justiz gehört daher auch, diese Quote deutlich zu erhöhen. Dass dabei aus Datenschutzgründen notwendige Schwärzungen in den Urteilen vorzunehmen sind, wird zu erheblichem Aufwand führen, der – da bin ich hoffnungsvoll – zukünftig nicht zwangsläufig durch personellen Mehreinsatz, sondern vermehrt durch den Einsatz von KI zu bewältigen sein wird. Wir sollten dieses Schmerzensthema – wie es die heute Abend anwesenden Kollegen Hartung und Prof. Römermann zutreffend bezeichnen – im Sinne eines transparenten und gefestigten Rechtsstaats sehr zeitnah gemeinsam angehen.

Die mit der Digitalisierung von Rechtsdienstleistungen verbundenen Herausforderungen sind mannigfaltig und komplex. Wir sollten dabei einen modernen europäischen Standard anstreben. Das bedeutet im Justizbereich: Es sollte in absehbarer Zukunft eine für alle Prozessparteien sichere zugängliche elektronische Prozessakte geben, die Dokumentation von Gerichtsverhandlungen sollte bundesweit in einem vergleichbar hohen technischen Standard erfolgen, künstliche Intelligenz sollte immer dort zum Einsatz kommen, wo dies hilfreich und unbedenklich ist und Gerichtsurteile sollten grundsätzlich veröffentlicht werden. Unverzichtbar ist dabei, dass sich Justiz und Anwaltschaft bei der Entwicklung der erforderlichen praxisgerechten Lösungen abstimmen. Die digitale Transformation ist ein Kraftakt: Sie kann nur gemeinsam gelingen.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 01/02 | 2024 | 73. Jahrgang