Bericht aus dem Arbeitskreis Arbeitsrecht
9. Februar 2023.
Im Februar 2023 habe ich beim Arbeitskreis Arbeitsrecht über die neuesten Entscheidungen des EuGH und des Bundesarbeitsgerichts zur Erfassung der Arbeitszeit einen Vortrag gehalten. Der Europäische Gerichtshof war in seiner Entscheidung im Jahre 2019 zu dem Ergebnis gelangt, dass Regelungen eines Mitgliedsstaats europäischen Richtlinien entgegenstehen, sofern sie die Arbeitgeber nicht verpflichten, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
Claudia Frank | Rechtsanwältin | Stellvertretende Vorsitzende des Berliner Anwaltsvereins | Stellvertretende Vorsitzende des Verbandes freier Berufe Berlin | Probandt PartGmbB
Der EuGH hat diese Verpflichtung aus zwei Richtlinien hergeleitet (RL 2003/88/EG und RL 89/391/EWG) sowie aus Arti kel 31 Abs. 2 Grundrechtscharta. Getreu nach dem Grundsatz „Es kommt darauf an“ ist es bei Urteilen des EuGH erforderlich, den Sachverhalt zu prüfen. Der Fall wurde vom Nationalen Gerichtshof in Spanien vorgelegt. Eine spanische Gewerkschaft begehrte von seinem Nationalen Gericht die Verpflichtung der Deutschen Bank in Spanien, ein System zur Erfassung der täglichen, von den Beschäftigten geleisteten Arbeitszeit einzurichten. In Spanien gibt es als Gesetzesgrundlage den „Arbeitnehmerstatus“. In Artikel 34 und 35 dieses Arbeitnehmerstatuts sind bei sorgfältiger Auslegung derartige Maßnahmen bereits geregelt. Das heißt, in Spanien ist der Arbeitgeber durch Gesetz verpflichtet, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten. Man kann durchaus der Ansicht sein, dass es diese Vorlage an den EuGH im Grunde genommen gar nicht bedurft hätte. Das Nationale Gericht hätte die Deutsche Bank verurteilen können, ein solches Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten. Der Nationale Gerichtshof in Spanien hat gleichwohl dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die letztendlich alle auf eines hinzielten: Muss nach Auslegung der entsprechenden Richtlinien des Europäischen Parlaments jeder Staat Rechtsvorschriften erlassen, wonach von Unternehmen/Arbeitgebern verlangt werden kann, dass sie ein System zur Erfassung der täglichen, effektiven Arbeitszeit für Arbeitnehmer einführen? Der EuGH hat die Vorlage angenommen. Der EuGH musste auch über die ihm vorgelegten Fragen entscheiden, da sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen. Es gilt sogar eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Nur bei Fragen hypothetischer Natur oder, sofern der EuGH über die erforderlichen Angaben nicht verfügt, die für die Beantwortung der Vorlagefragen erforderlich sind, kann er die Beantwortung ablehnen.
„Muss nach Auslegung der entsprechenden Richtlinien des Europäischen Parlaments jeder Staat Rechtsvorschriften erlassen, wonach von Unternehmen/Arbeitgebern verlangt werden kann, dass sie ein System zur Erfassung der täglichen, effektiven Arbeitszeit für Arbeitnehmer einführen?“
Das Lesen der Entscheidungsgründe ist wie meistens mühsam und dies kann nicht nur auf die Übersetzung zurückzuführen sein. In den Entscheidungsgründen kommt zum Ausdruck, dass nationale Regelungen auch so ausgelegt oder gefasst werden können, dass es dem Arbeitnehmer überlassen wird, selbst die tägliche Arbeitszeit zu erfassen, und dies dann nur stichprobenartig zu prüfen ist.
Der deutsche Gesetzgeber war offensichtlich der Ansicht, dass wir ein solches verpflichtendes Gesetz nicht haben – diesbezüglich eine Regelungslücke besteht –, und aufgrund der Entscheidung des EuGH wurde 2021 im Koalitionsvertrag unter anderem vereinbart, dass die Bundesregierung ein Gesetz erlassen wird, wonach Arbeitgeber verpflichtet werden, die Arbeitszeit der Belegschaft täglich, objektiv und systematisch zu messen.
Nach der Entscheidung des EuGH war es nur eine Frage der Zeit, bis die Arbeitsgerichte in Deutschland darin bereits eine Verpflichtung sahen, die Arbeitszeiten mittels eines objektiven Systems zu erfassen, und sollte dies fehlen, der Arbeitnehmer möglicherweise Schadensersatzansprüche geltend machen kann.
Völlig überraschend war im September 2022 das BAG zu der Ansicht gelangt, dass wir in Deutschland bereits eine solche gesetzliche Regelung haben, und zwar folgt diese aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Diese Entscheidung hat in der Literatur hohe Wellen geschlagen, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen sollte das BAG über die Frage entscheiden, ob dem Betriebsrat eines Unternehmens ein Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG zusteht. Es ging also um das „wie“ einer Zeiterfassung und nicht um das „ob“. Das BAG hat in seiner Entscheidung § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG „unionrechtskonform ausgelegt“. Damit erweitert das BAG die darin geregelten Organisationspflichten auf organisatorische Maßnahmen, die auch ein System zur Einhaltung der Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten einschließt. Angeblich würde dies auch dem Willen des Gesetzgebers entsprechen. Diese Entscheidung stellt – so namhafte Stimmen in der Literatur – einen Verstoß gegen Artikel 20 Abs. 3 GG dar. Die vom BAG vorgenommene Auslegung von § 3 Abs. 2 Satz 1 ArbSchG entspricht nicht dem gesetzgeberischen Willen und steht auch im Widerspruch zu § 16 Abs. 2 Satz 1 ArbZG. Das BAG hat mit seiner Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG den Regelungswillen des Gesetzgebers in § 16 Abs. 2 Satz 1 ArbZG überschritten. Wir können nur hoffen, dass sich die Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte ihrer richterlichen Unabhängigkeit bewusst sind, da das BAG die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Auslegung und Rechtsfortbildung überschritten hat.
„Wir können nur hoffen, dass sich die Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte ihrer richterlichen Unabhängigkeit bewusst sind, da das BAG die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Auslegung und Rechtsfortbildung überschritten hat“
Im Anschluss an den Vortrag folgte die Rechtsprechungsübersicht. Dabei wurden drei wichtige Urteile des BAG zum Thema „Urlaub“, sprich „Urlaubsabgeltung„ und deren Verjährung dargestellt. Unsere junge Kollegin, Frau Juliana Schilowski, hat uns zur Diskussion aufgefordert. Das BAG hat entschieden, dass der Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub aus einem Urlaubsjahr, in dem der Arbeitnehmer zum Teil gearbeitet, zum Teil aber aus gesundheitlichen Gründen den Urlaub nicht in Anspruch nehmen konnte, nur dann nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten erlischt, wenn der Arbeitgeber ihn rechtzeitig in die Lage versetzt hatte, seinen Urlaub in Anspruch zu nehmen. Wenn der Arbeitnehmer also im Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet hat, bevor er arbeitsunfähig geworden ist, verfällt der Urlaub nicht mit Ablauf des 31.03. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres, sofern die Arbeitgeberin ihrer „Mitwirkungspflicht“ nicht nachgekommen ist. In einer weiteren Entscheidung hat das BAG entschieden, dass der gesetzliche Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub der gesetzlichen Verjährung unterliegt. Die dreijährige Verjährungsfrist beginnt jedoch erst am Ende des Kalenderjahres zu laufen, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch nicht aus freien Stücken genommen hat. So hat das BAG auch entschieden, dass die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 199 Abs. 1 BGB nicht mit Ende des Urlaubsjahres beginnt, sondern erst mit Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. In beiden Fällen hatte der Arbeitnehmer den Anspruch auf Abgeltung des Urlaubs innerhalb der Verjährungsfrist von drei Jahren erhoben. Das BAG hat im Mai 2022, also nach der Entscheidung des EuGH 2019, entschieden, dass es im Rahmen des Überstundenvergütungsprozesses bei der bisherigen Darlegungs- und Beweislast bleibt, wonach der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin darlegen und unter Beweis stellen muss, dass sie Überstunden geleistet hat, dass dies erforderlich war und entweder der Arbeitgeber diese angeordnet, zumindest aber geduldet hat. Im Mai 2022 war natürlich die Entscheidung des anderen Senats des BAG vom September 2022 nicht bekannt. Wir hoffen, dass andere Senate dieser Rechtsprechung nicht Folge leisten und sich infolgedessen an der Darlegungs- und Beweislast betreffend die Überstunden auch weiterhin nichts ändern wird.
„Wir hoffen, dass andere Senate dieser Rechtsprechung nicht Folge leisten und sich infolgedessen an der Darlegungs- und Beweislast betreffend die Überstunden auch weiterhin nichts ändern wird“
Für alle Fußballfans von Interesse war die Entscheidung des LG Frankfurt zu der Frage, ob Schiedsrichter wegen ihres Alters diskriminiert werden. Im Profifußball werden Schiedsrichter mit Erreichen der Altersgrenze von 47 Jahren nicht mehr in die Schiedsrichterliste des DFB aufgenommen. Das ist – so das LG Frankfurt – willkürlich und nach den Vorgaben des AGG nicht gerechtfertigt. Es sind adäquate und ggf. wiederholte Leistungstests und -nachweise gegenüber einer starren Altersgrenze vorzugswürdig. Der Fachmann, die Fachfrau wundert sich, welche Prozesse vor dem BAG landen.
Diese Veranstaltung in Präsenz hat eine sehr lebhafte Diskussion ausgelöst, die, wir sind uns alle einig, online nicht möglich ist. So freuen wir uns, dass zukünftig die Arbeitskreise Arbeitsrecht wieder in Präsenz stattfinden, und zwar immer am ersten Mittwoch eines Monats. Gäste sind herzlich willkommen.