Der deutsche Rechtsmarkt im Wandel

Wie bleiben deutsche Rechtsberater wettbewerbsfähig?

FÜNF BEREICHE, IN DENEN SICH WESENTLICHE MARKTTRENDS ABZEICHNEN

Auf Einladung der Vorstandsmitglieder des DAV Niederlande, Friederike Henke, Hans Mathijsen und Esther Tromp, stellten Stefanie Hoogklimmer und Rupprecht Graf v. Pfeil (Venturis Consulting Group) den Teilnehmern des Webinars „Der deutsche Rechtsmarkt im Wandel“ fünf Trends vor, die im Rechtsmarkt in Deutschland und darüber hinaus aktuell erkennbar sind. Nachfolgend werden diese Trends umrissen und die damit einhergehenden Herausforderungen benannt.

Stefanie Hoogklimmer | Partnerin, Venturis Consulting Group | www.venturisconsulting.com
Rupprecht Graf v. Pfeil | Partner, Venturis Consulting Group | www.venturisconsulting.com

Client Centricity
Venturis Congruency Model

„In einem Käufermarkt hilft eine wesentlich umfassendere Betrachtung der Mandantenbedarfe und deren Beantwortung, die eigene Position zu stärken. Dies geht über Marketingprogramme weit hinaus.“

Trend 1: Die Mandantenmacht nimmt zu

Der wirtschaftliche Abschwung und die damit verbundenen Veränderungen wie zum Beispiel im Bereich M&A und in der Immobilienwirtschaft stärken die Position der Mandanten weiter. Regelmäßige Gespräche außerhalb des Beratungsmandats zur unternehmerischen Situation, zur Zusammenarbeit und zu der vom Mandanten erlebten Zufriedenheit sind ein Weg, um sich auf den Mandanten noch besser einzustellen und sich als Partner der Wahl zu positionieren.

Trend 2: Zunehmender Wettbewerb

Der deutsche Rechtsmarkt wird immer kompetitiver. Neben den bisherigen Spielern gibt es verstärkt spezialisierte Spin-offs von Großkanzleien und auch die Rechtsberatungsarme der Big 4 sowie Alternative Legal Service Provider ringen um Marktanteile. Ursprünglich auf Konzerne und global agierende Finanzdienstleister fokussierte Großkanzleien treten in Wettbewerb mit Mittelstandsberatern. Um sich vom relevanten Wettbewerb abzugrenzen und unterscheidbar zu bleiben, sollten Rechtsberater stärker als in der Vergangenheit über Positionierung, ihr Angebot, ihre Kostenstruktur und ihr Pricing nachdenken.

Trend 3: Prozessorientierung & operative Exzellenz

Angesichts technologischer und sonstiger Entwicklungen, die aus anderen Branchen in den Rechtsmarkt herüberschwappen, steigen die Mandantenerwartungen an die Effizienz ihrer externen Rechtsberater stetig weiter. Die Mittel der Wahl dafür heißen Legal Project Management, weitere Professionalisierung der Verwaltung, Formalisierung von Arbeitsabläufen in oft heterogenen Partnerschaften. Zentral wird dabei die Fähigkeit, die notwendige IT-Infrastruktur zur Verfügung zu haben und bestmöglich zu nutzen.

Trend 4: War for Talent

Das Modell der ausschließlich gewinnorientierten Kanzlei und der damit verbundenen Arbeitsbelastung wird vom juristischen Nachwuchs zunehmend hinterfragt. Die Herausforderung ist es, ein attraktives Arbeitsumfeld zu bieten: Neben Gehalt geht es vor allem um Entwicklungsmöglichkeiten, persönliche Vernetzung innerhalb und außerhalb der Kanzlei und die vorhandene Kanzleikultur.

Trend 5: Substitution & generative AI

Artificial Intelligence (AI) und deren Auswirkung auf die Arbeitswelt ist in aller Munde. Die bisher oft mit Verve geführten Diskussionen fokussieren sich überwiegend auf die Technologie, die noch einige Zeit brauchen wird, um Rechtsmarktreife zu erlangen. Die verbleibende Zeit sollten Kanzleien nutzen, um sich auf die absehbar weitreichenden Auswirkungen auf das Geschäftsmodell, die Arbeitsabläufe, die personelle Ausstattung und die Kultur vorzubereiten.

VERTIEFTE DISKUSSION ZWEIER TRENDS

Um der Diskussion im Rahmen des Webinars mehr Tiefe zu geben, wählten die Teilnehmer zwei Markttrends aus, die in Kleingruppen und Plenum näher betrachtet wurden.

1. Wie agiert man erfolgreich in einem Käufermarkt?

Erfolgreiche Anwältinnen und Anwälte sind schon lange auch gute Dienstleister, die den Erwartungen ihrer Mandanten gerecht werden wollen und sich dafür auch oft nach der Decke strecken. Doch was verändert sich gegenwärtig und stellt neue Anforderungen an Kanzleien?

Wenn vor 20 Jahren ausschließlich die individuelle Beratungsleistung und -erfahrung des Mandanten im Mandat im Mittelpunkt stand, so haben sich Kanzleien in den letzten 10 bis 15 Jahren in Teams umfassenderes Mandantenverständnis und branchenspezifisches Wissen aufgebaut und haben (praxisgruppenübergreifende) Lösungen für mandantenspezifische Fragestellungen vorausschauend erarbeitet. Diese Programme, häufig aus dem Marketingbereich heraus organisiert und getrieben, haben bis in die Gegenwart ihre Berechtigung und ihren Erfolg gezeitigt.

Heute geht es jedoch um noch mehr: In einem Käufermarkt hilft eine wesentlich umfassendere Betrachtung der Mandantenbedarfe und deren Beantwortung, die eigene Position zu stärken. Dies geht über Marketingprogramme weit hinaus. Viele der in der Client-Centricity-Grafik dargestellten Elemente sind in Ansätzen in Kanzleien vorhanden. Einige, wie zum Beispiel Diversity & Inclusion- und ESG-Programme, werden bisher eher als „Tick the box“-Übung zum Bestehen von Panel-Pitch-Anforderungen angesehen. Sie haben keinen tieferen Einfluss auf die Kanzleikultur. Das birgt Risiken, denn Mandanten nennen zunehmend mangelnde kulturelle Passgenauigkeit als Grund zum Wechsel der beratenden Kanzlei.

Zusammengenommen und wohl koordiniert bilden die dargestellten Elemente die Basis, sich vom Wettbewerb zu unterscheiden, eine zukunftsfähige und erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Kanzleien und ihren Mandanten zu festigen und in einem anspruchsvollen Käufermarkt zu bestehen.

2. Substitution & generative AI

In Bezug auf generative AI geht Venturis von drei Annahmen aus:

  1. Generative AI ist kein Hype.
  2. Sie wird Anwälte nicht ersetzen, sondern ihre Arbeit ergänzen.
  3. Das Geschäftsmodell von Kanzleien wird sich durch generative AI in sehr vielen Aspekten fundamental verändern.

„Die aktuelle Diskussion fokussiert sich auf den falschen Punkt: Technologie. Entscheidend wird sein, wie Kanzleien ihr Geschäftsmodell darauf einstellen werden“

Die aktuelle Diskussion fokussiert sich auf den falschen Punkt: Technologie. Diese wird erst in zwei bis vier Jahren in der Fläche und auch im Bereich des „civil law“ einsetzbar sein. Entscheidend wird sein, wie Kanzleien ihr Geschäftsmodell darauf einstellen werden.

Das Venturis Congruency Model unterstützt darin, diese Überlegungen zu strukturieren. Es zeigt die Dimensionen auf, die eine Kanzlei ausmachen. Sie müssen aufeinander abgestimmt sein, damit die Kanzlei optimal funktioniert. Generative AI wird jedes dieser Elemente verändern. Ausgangspunkt wird sein, dass ein zunehmender Anteil an Junior-Arbeit durch AI ersetzt werden wird. Antworten müssen u. a. auf folgende Fragen erarbeitet werden:

  • Es wird weniger Junior, dafür aber mehr Senior Associates brauchen. Wie sollen diese ausgebildet werden?
  • Welche Pricing-Modelle kommen zur Anwendung? – Der Einsatz von AI wird es notwendig machen, Arbeitsprozesse zu standardisieren. Wie gehen Partner mit dieser Notwendigkeit um? – Welche Regeln, Normen und Strukturen braucht es in Zukunft?
  • Wie wird sich die Kultur verändern?
  • Welche Kompetenzen sind neben der juristischen Qualifikation erforderlich?
  • Was wird die Rolle des Anwalts sein?

Generative AI ist in einem Frühstadium und in voller Entwicklung. Es ist zu früh, um Schlüsse zu ziehen und Investitionen zu tätigen. Hingegen empfiehlt es sich, diese Entwicklung eng mitzuverfolgen und anhand des Venturis Congruency Models Szenarien zu enwickeln. Kanzleien, die diesen Rat befolgen, werden früh erkennen, in welche Richtung die Entwicklung letztlich gehen wird. Sie werden sich schneller und erfolgreicher darauf einstellen können.

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Wie Teilnehmer am Webinar anmerkten, müssen die Anwältinnen und Anwälte der Zukunft ihre fachliche Spezialisierung mit einem sehr generalistischen Wissen zur eigenen Unternehmensführung, zu Märkten und zu unternehmerischen Fragestellungen ihrer Mandanten komplettieren. Der Bedarf an Rechtsrat wird weiter steigen, aber die Art, wie er erbracht wird, wird sich deutlich verändern. Erfolgreich werden diejenigen sein, die sich in der Tiefe auf ihre Mandanten einstellen und mit diesen ein enges Arbeitsverhältnis aufbauen. Dies wird die Integration ganz unterschiedlicher Expertisen und Spezialisten erfordern.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 10/2023 | 72. Jahrgang