Der digitale Justizakt in Österreich
Gekommen, um zu bleiben!
Die Justiz in Österreich blickt auf eine lange und erfolgreiche Tradition im Einsatz elektronischer und nun digitaler Lösungen zurück. So kommunizieren schon seit 1990 Anwält:innen und Gerichte über den sogenannten elektronischen Rechtsverkehr (ERV). In einer Tradition der kontinuierlichen Weiterentwicklung setzt die Justiz nun mit der Einführung einer digitalen Akten- und Verfahrensführung an den Gerichten und Staatsanwaltschaften neue Maßstäbe für modernes Arbeiten. Unter dem Titel „Justiz 3.0“ wurden mit Stand August 2022 im Bereich streitiger Zivilverfahren, Strafverfahren sowie Justizverwaltungssachen bereits an 120 Dienststellen (darunter alle österreichischen Staatsanwaltschaften) die dafür erforderlichen Systeme eingeführt bzw. die Arbeitsabläufe für mittlerweile über 3.200 Anwender:innen angepasst.
Sophie Martinetz | Director WU Legal Tech Center | MP Future-Law | Martin Hackl | Chief Digital Officer | BMJ
Foto Sophie Martinetz: Marlene Rahmann
Exklusiv für Mitglieder | Heft 12/2022 | 71. Jahrgang
„Das moderne Entscheidungsorgan ist nicht mehr mit einem Aktenstapel konfrontiert, sondern mit moderner Technik ausgestattet, die ihm jederzeit und überall Zugang zu allen notwendigen Inhalten ermöglicht“
Die durchgängige Digitalisierung der Prozesse schafft neue Optimierungspotenziale und ermöglicht, jahrzehntelang gewachsene Strukturen und Abläufe im gesamten Bearbeitungsprozess – vom Dokumenteneingang in der Kanzlei bis hin zur Zustellung von Justizdokumenten an Parteien und deren Vertreter:innen – zu evaluieren und interne Prozesse neu zu gestalten.
Das moderne Entscheidungsorgan ist nicht mehr mit einem Aktenstapel konfrontiert, sondern mit moderner Technik ausgestattet, die ihm jederzeit und überall Zugang zu allen notwendigen Inhalten ermöglicht. Dadurch führt die digitale Aktenführung auch zu einer Erhöhung der Effizienz in der Verfahrensabwicklung: die vollständige Abbildung des Gerichtsakts in elektronischer Form eliminiert den zeit- und ressourcenaufwändigen Transport von Aktenbestandteilen sowie damit verbundene Liegezeiten. Zusätzlich entfällt dadurch der Bedarf von Aktenkopien, wenn Aufgaben parallel an unterschiedliche Stellen verteilt werden sollen, um Tätigkeiten bestmöglich zu parallelisieren.
Es entfallen durch die jederzeitige parallele Verfügbarkeit des vollständigen Aktes Wartezeiten und der Gang des Verfahrens wird nicht durch die singuläre Verfügbarkeit des Papieraktes aufgehalten, wodurch Verfahrensdauern verkürzt werden können. Auch für externe Verfahrensbeteiligte besteht damit die Möglichkeit, jederzeit online oder im Rahmen der dafür vorgesehenen Parteienverkehrszeiten vor Ort, Akteneinsicht zu nehmen und bei Bedarf Aktenkopien herzustellen. Damit verbunden werden bei extern abgefragten Aktenbestandteilen auch entsprechende Sicherheitsmerkmale in den Dokumenten angebracht, womit die Weitergabe bzw. Verbreitung von Verfahrensinformationen besser nachvollzogen werden kann. Für die Bürger:innen erleichtert die elektronische Akteneinsicht via JustizOnline den Zugang zum eigenen Akt und Verfahren und spart insbesondere die aufwändigen Wege zu den Justizbehörden. Der vormals unbedingt notwendige physische Parteienverkehr für Abschriften und Abholungen ist damit obsolet, wodurch auch bei der Justiz und den einzelnen Dienststellen das Personal vor Ort maßgeblich entlastet werden kann.
Die permanente vollständige und parallele Verfügbarkeit der Akten eröffnet, wie bereits angedeutet, auch die Möglichkeit des gleichzeitigen Zugriffs, allenfalls auch der Bearbeitung durch mehrere Personen, wie z. B. Anwält:innen, Gerichtsgutachter:innen oder Parteien.
Für die internen Abläufe innerhalb der Gerichte bedeutet die nahtlose Integration mit einem Taskmanagement-System eine in der Papierwelt bisher nicht abbildbare Flexibilität im Arbeitsprozess: So bietet z. B. der Einsatz von Standardabläufen oder auch von (teilweisen parallelen) Adhoc-Prozessen zwischen Personen (Richter:innen, Kanzleimitarbeiter:innen etc.) und/oder einzelnen Organisationseinheiten eine flexible Zusammenarbeit mit Bezug auf Akten.
„Vor allem in Pandemiezeiten hat die digitale Aktenführung die Resilienz in der Leistungserbringung der Justiz in Österreich bedeutend gestärkt“
Die Erleichterungen durch digitale Dokumentenaufbereitung sind deutlich spürbar: Die digitale Verfügbarkeit aller Informationen ermöglicht die direkte Integration juristischer Rechercheergebnisse frei von Medienbrüchen. Der digitale Gerichtsakt kann mit Hilfe unterschiedlicher Sichten individuell und nach verschiedensten Gesichtspunkten individuell strukturiert werden. Alle Schriftstücke sind in Form von texterkannten PDFs verfügbar, wodurch der Akt mit Hilfe einer umfassenden Volltextsuche durchsucht werden kann. Dem User wird ermöglicht, binnen weniger Sekunden relevante Treffer und Fundstellen des gesuchten Inhalts zu erhalten und so den Prozessstoff möglichst rasch zu durchdringen. Dadurch wird bereits heute die Basis zur künftigen Nutzung von weitergehenden KI-basierten Unterstützungsmöglichkeiten für die Aktenbearbeitung und Entscheidungsvorbereitung geschaffen.
Gerade während und nach Corona zeigt sich, wie wichtig auch in der Justiz zeitliche und örtliche Flexibilität ist: Die digitalen Akten können von Justizmitarbeiter:innen jederzeit und von überall bearbeitet werden. Vor allem in Pandemiezeiten hat die digitale Aktenführung die Resilienz in der Leistungserbringung der Justiz in Österreich bedeutend gestärkt. Zusätzlich hat die digitale Aktenführung mittlerweile auch den Ausdruck von mehreren Millionen Seiten Papier obsolet gemacht, womit nicht nur eine erhebliche Reduktion bei Sachkosten, sondern auch ein Beitrag zum Umweltschutz einhergeht.
Der digitale Arbeitsplatz der Justizmitarbeiter:innen, also die standardisierte IT-Ausstattung mit zwei Bildschirmen sowohl im Büro als auch im Verhandlungssaal, ermöglicht, dass jederzeit nach einfachem Anstecken des Laptops wie gewohnt ohne Umrüstzeiten gearbeitet werden kann. Die kontinuierliche Umstellung auf digitale Verhandlungssäle komplettiert die digitale Verfahrens- und Verhandlungsführung mit dem Ziel, den Prozess von einer Einbringung eines Schriftstückes im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs, z. B. durch Parteienvertreter:innen über die Aktenbearbeitung und Verhandlungsvorbereitung bis hin zur Verhandlungsführung und Entscheidungsausfertigung vollständig zu digitalisieren. Das Ziel, einen Akt durchgängig digital bearbeiten zu können, ist mit Justiz 3.0 schon großteils umgesetzt. Verfahrensbeteiligte und deren Vertreter:innen arbeiten in ihren eigenen Kanzleisoftwaresystemen, wobei es oberste Prämisse sein muss, Medienbrüche zu vermeiden. Die Einsicht in den digitalen Akt ist zeitlich und örtlich unabhängig, die Dokumente können elektronisch im jeweiligen Aktenverwaltungssystem abgespeichert und mit (Legal)-Tech-Lösungen bearbeitet werden. Wünschenswert wäre auch hier die Möglichkeit für alle beruflichen Parteienvertreter:innen, mit standardisierten Lösungen einen Akt digital aufbereiten zu können. Aktuell arbeiten immer mehr Justizdienststellen mit dem digitalen Akt, womit auch eine gewisse Erwartungshaltung einhergeht, dass Anwält:innen digital aufbereitete Akten nutzen. Wenngleich es aktuell für viele Anwält:innen noch nicht vorstellbar scheint, ohne Papierakten bei Gericht zu erscheinen, werden die Vorteile der digitalen Verfahrens- und Aktenführung auch in diesem Bereich sukzessive die notwendige Überzeugungsarbeit leisten.