Der Rechtsstaat braucht uns – sind wir vorbereitet?
Akademisches Wissen und gesellschaftliche Verantwortung – eine kritische Auseinandersetzung
„Grundgedanke des Rechtsstaatsprinzips ist die Bindung staatlicher Machtausübung an das Recht und dadurch ihrer Mäßigung.“1Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, § 7 Rn. 335, 5. Aufl., Baden-Baden 2021. In einem einzigen Satz fassen Prof. Dr. Martin Morlok und Prof. Dr. Lothar Michael in ihrem Lehrbuch die Essenz einer Staatsform zusammen, für die weltweit gekämpft, die aber ebenso heftig bekämpft wird. Der Rechtsstaat gibt uns Sicherheit, verankert in einem System, das jedem Grundrechte garantiert, den öffentlichen Diskurs ermöglicht und selbst die Existenz dieses Artikels schützt. Wir verlassen uns auf ihn. Handeln nach seinen Maßstäben, widmen ihm sogar ein ganzes Studium – das der Rechtswissenschaft – und hoffen, ihn so besser verstehen und vor allem schützen zu können. Das Wesen des Rechtsstaates ist im Jurastudium stets präsent, nicht nur als juristisches Konzept, sondern als idealistische Leitlinie – als Vision einer gerechten Welt für alle. Diese Vision motiviert nicht nur uns Jurastudierende, sondern auch viele Anwältinnen und Anwälte, die dafür tagtäglich ihr Leben riskieren.


Siri Wenig | Jurastudentin der Humboldt-Universität zu Berlin | (4. Semester)
Alisa Kludßuweit | Jurastudentin der Humboldt-Universität zu Berlin | (8. Semester)
Der Rechtsstaat ist angreifbar, ebenso wie die Ideale, die ihm zugrunde liegen. Wer sich mit der Geschichte befasst oder aktuelle Entwicklungen betrachtet, erkennt schnell, wie erschreckend erfolgreich solche Angriffe sein können. Wie schützen wir den Rechtsstaat und die Werte, die uns so wichtig sind? Diese und viele weitere Fragen beschäftigen uns als Jurastudierende. Antworten darauf zu finden, ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit.
DER RECHTSSTAAT ALS IDEAL
Im Studium lernen wir den Rechtsstaat als theoretisches Ideal kennen, doch mit zunehmendem theoretischen Verständnis stellt sich vor allem eine Frage: Entspricht das, was wir lernen, der juristischen Praxis? Häufig herrscht zwischen Theorie und Praxis eine Diskrepanz. Eines von vielen Beispielen für diese Diskrepanz ist die Gleichheit vor dem Gesetz. Während Artikel 3 des Grundgesetzes sie garantiert, zeigt sich in der Praxis oft ein anderes Bild: Wer die finanziellen Mittel hat, kann sich bessere juristische Vertretung leisten; während sozial Schwächere häufig schon an Zugangsbarrieren scheitern. Diese Ungleichheiten müssten uns als angehende Juristen weit mehr beschäftigen, aber zwischen Klausuren, Hausarbeiten und Pflichtmodulen bleibt oft wenig Raum für Reflexion. Doch genügt die Vermittlung theoretischer Inhalte? Denn Studierende sollten nicht nur mechanisch reproduzieren, ohne sich der praktischen Herausforderungen bewusst zu werden. Viel zu häufig wird die Anwendung der Werkzeuge in unserem juristischen Baukasten auf das Lösen des nächsten Klausursachverhalts beschränkt, statt sie als Mittel zu begreifen, mit dem wir den Rechtsstaat aktiv schützen können. Schwierig, wenn man bedenkt, dass der Rechtsstaat mit seinen Prinzipien in der Praxis nicht immer den Ansprüchen der Mehrheit gerecht werden kann. Der Fall um Frederike von Möhlmann22 BvR 900/22. und die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach einem Freispruch zeigen exemplarisch die Ambivalenz des Rechtsstaates. Es ging um Strafe, um Gerechtigkeit, um die Grundpfeiler des Rechtsstaates. „Ne bis in idem“ – das Verbot der Mehrfachverfolgung – ist ein fundamentales Prinzip: Es schützt die Menschenwürde, sichert die Rechtskraft von Urteilen und garantiert Rechtssicherheit. Doch welche Sicherheit bietet ein Rechtsstaat, wenn ein Mörder ungestraft bleibt? Eine Frage, die sehr schnell von populistischen Narrativen für ihre Zwecke ausgenutzt wird und dabei nicht selten Anklang findet. Der Fall zeigt: Rechtsstaat und Gerechtigkeit sind keine einfachen Kategorien. Sie erfordern Abwägung, Zweifel und Prinzipien, die manchmal schwer zu ertragen sind.
Im Jurastudium lernen wir, mit diesen manchmal schwer zu ertragenden Abwägungen umzugehen. Unser juristisches Verständnis vom Rechtsstaat hilft uns, sachlicher an emotionale Lebenssituationen heranzugehen – ein notwendiges Werkzeug angesichts der zunehmenden Unsachlichkeit in gesellschaftlichen Debatten. Mit diesem Werkzeug sollten wir nicht nur theoretisch umgehen, sondern es aktiv in unseren studentischen Alltag integrieren, sodass es ebenso selbstverständlich wird wie das Erlernen abstrakter Rechtskonzepte.
JUSTITIA IST NICHT BLIND!
Religionsfreiheit! Doch mit Kopftuch kann ich keine Richterin werden. Wie kann man angesichts solcher Tatsachen noch über mangelnde Diversität im Jurastudium staunen? Der Rechtsstaat soll neutral sein, aber wie kann er das in einer Gesellschaft sein, die selbst so vielfältig ist? Wie kann das Recht neutral sein, wenn es in einem so diversen Land nicht einmal die Diversität in den eigenen Institutionen widerspiegelt? Das Recht ist kein unbeflecktes Konstrukt – es ist ein Spiegel der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die immer noch vorgibt, wie Frauen sich zu kleiden haben, deren Sexualstrafrecht oft von der Vorstellung ausgeht, dass weibliche Körper grundsätzlich verfügbar sind und keine klare Zustimmung zur sexuellen Handlung erforderlich ist. Eine Gesellschaft, die von Diskriminierung, Menschenfeindlichkeit und Hass durchzogen ist, in der historische Machtstrukturen tief verwurzelt sind, in der das Recht nicht nur schützt, sondern auch bestehende Ungleichheiten zementieren kann. Deshalb: Nein, der Rechtsstaat ist nicht neutral und Justitia ist nicht blind – sie muss die Lebensrealitäten der Menschen anerkennen, die ihr gegenüberstehen. Denn nur so kann das Recht wirklich gerecht sein. So wie gesellschaftliche Machtverhältnisse im Inneren bestimmen, wessen Rechte im nationalen Rechtssystem durchgesetzt werden, beeinflussen auch politische und wirtschaftliche Interessen sowie historische Narrative und Machtstrukturen auf globaler Ebene, wann internationales Recht geachtet und durchgesetzt wird – und wann nicht. Hier zeigt sich, wie selektiv internationale Rechtsnormen angewendet werden – nicht nach objektiven Maßstäben, sondern abhängig davon, wem das Recht zugutekommt und wer die Macht hat, sich ihm zu entziehen. Es ist eigentlich kaum möglich, das Gefühl zu beschreiben, an einem Tag eine Klausur zum Völker- und Europarecht zu schreiben und am nächsten Tag vom zukünftigen Bundeskanzler zu hören, dass er, trotz des internationalen Haftbefehls, Netanjahu nach Deutschland einladen möchte. Hieran ist zu erkennen, dass entgegen rechtsstaatlicher Grundsätze, eine politische Entscheidung getroffen wird. Es entsteht ein Gefühl von Machtlosigkeit. Während wir uns zu Recht Sorgen machen, wenn die AfD die Unabhängigkeit der Justiz bedroht und mit Entschlossenheit gegen diese Gefährdung des Rechtsstaats aufbegehren, zeigt sich eine erstaunliche Doppelmoral, wenn es um das Völkerrecht geht. Wie können wir uns auf die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit berufen, wenn wir in internationalen An-
gelegenheiten nach einem anderen Maßstab urteilen? Die Wechselwirkung zwischen internationaler und nationaler Rechtsstaatlichkeit ist offenbar. Die Folgen, die eine Missachtung internationaler Rechtsnormen für den nationalen Rechtsstaat haben kann, sind verheerend. Wenn wir den Rechtsstaat ernst nehmen wollen, dürfen wir ihn nicht selektiv anwenden. Die Verteidigung des Rechtsstaats beginnt mit der Bereitschaft, sich selbst kritisch zu hinterfragen. Rechtsstaatlichkeit bedeutet nicht nur, bestimmte Werte zu vertreten, sondern diese konsequent und ohne doppelte Standards anzuwenden. Ein selektiver Umgang mit rechtsstaatlichen Prinzipien untergräbt genau das, was wir zu schützen versuchen. Die wahrnehmbare Bereitschaft, Rechtsstaatlichkeit als verhandelbar anzusehen, betrachten wir mit großer Sorge. Wir wollen wissen, wie es um das, was wir heute lernen, morgen steht.
„Die Verteidigung des Rechtsstaats beginnt mit der Bereitschaft, sich selbst kritisch zu hinterfragen“
Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen bedeutet: Recht bleibt Recht – unabhängig davon, wer es einfordert oder gegen wen es durchgesetzt werden soll.
WORAUF ES ANKOMMEN MUSS
Das Jurastudium muss das rechtsstaatliche Bewusstsein gezielt fördern, um Studierende gegen Bedrohungen des Rechtsstaats zu stärken. Radikale Mindermeinungen gewinnen an Einfluss, wenn ihnen kein entschiedener Widerspruch entgegengesetzt wird. Populistische Inhalte verbreiten sich leichter, da reißerische Botschaften, insbesondere durch Social Media, mehr Aufmerksamkeit erhalten als sachliche Argumente. Dies fordert den Rechtsstaat heraus. Wir müssen Widerstand leisten, durch gelebte Zivilcourage und das Fördern einer produktiven Streitkultur aller gesellschaftlichen Schichten. Unser Studium gibt uns das Wissen über den Rechtsstaat an die Hand. Es lehrt uns analytisches Denken und methodisches Problemlösen. Die gezielte Anwendung dieser Fähigkeiten zum Schutz des Rechtsstaates sollte fester Bestandteil unserer juristischen Ausbildung sein. Wir brauchen eine gelebte Demokratie, denn der Rechtsstaat ist kein Selbstläufer. Er muss immer wieder verteidigt werden, auf allen Ebenen – auch und gerade von uns.
- 1Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, § 7 Rn. 335, 5. Aufl., Baden-Baden 2021.
- 22 BvR 900/22.