Der Rule of Law Index: Ein Maßstab für die Rechtsstaatlichkeit
Deutschland, Polen und Ungarn im Vergleich
Die Rechtsstaatlichkeit ist das Fundament jeder demokratischen Gesellschaft. Sie gewährleistet, dass die Macht des Staates auf rechtlich festgelegten Grundlagen beruht, dass alle Bürger gleich vor dem Gesetz sind und die Grundrechte uneingeschränkt geachtet werden. Doch wie steht es um die Unabhängigkeit der Justiz, die Kontrolle der Regierungsmacht und die Achtung der Grundrechte in den einzelnen Ländern? Der Rule of Law Index 2024 des World Justice Project liefert eine aktuelle Bestandsaufnahme. Besonders bemerkenswert sind die Entwicklungen in Polen, das nach Jahren des Rückgangs erstmals wieder Fortschritte verzeichnet. Deutschland, traditionell ein Vorbild in Sachen Rechtsstaatlichkeit, zeigt leichte Rückgänge, während Ungarn weiterhin besorgniserregend abrutscht. Diese Unterschiede werfen Fragen zur künftigen Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in den betroffenen Ländern auf.

Małgorzata Gemen | polnische Rechtsanwältin und Mediatorin | MBA | Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten der polnischen Anwaltskammer | Anwaltskanzlei Adwokat Małgorzata Gemen | www.kanzlei-gemen.de
WAS IST DER RULE OF LAW INDEX?
Der Rule of Law Index ist ein jährlich veröffentlichter Bericht des World Justice Project, der die Rechtsstaatlichkeit in über 140 Ländern bewertet. Die Analyse basiert auf acht Kriterien, die zusammen eine umfassende Bewertung der Rechtsstaatlichkeit eines Landes ermöglichen. Diese Faktoren werden auf einer Skala von 0 bis 1 gemessen, wobei 1 den höchsten Wert darstellt, der vollständige Rechtsstaatlichkeit symbolisiert. Die acht Kriterien sind: Beschränkung der Regierungsmacht, Abwesenheit von Korruption, Transparenz und offene Regierung, Grundrechte, Ordnung und Sicherheit, Durchsetzung von Gesetzen, zivilrechtliches System und strafrechtliches System.
Diese Kriterien sind essenziell, um die Qualität einer Demokratie zu messen. Der Index dient als objektiver Maßstab für Regierungen, Juristen und Bürger, um die Entwicklung des Rechtsstaats zu analysieren und gegebenenfalls Reformen anzustoßen. Auch in der Europäischen Union ist der Index ein wichtiger Indikator, da er zeigt, ob sich Mitgliedsstaaten an die demokratischen Prinzipien der Union halten oder nicht. Ein hoher Wert im Index bedeutet nicht nur, dass das Land in der Lage ist, rechtsstaatliche Prinzipien umzusetzen, sondern auch, dass es bereit ist, diese Prinzipien kontinuierlich zu verteidigen und weiterzuentwickeln.
POLEN: KURSWECHSEL NACH ACHT JAHREN
Polen hat unter der Regierung der nationalkonservativen PiS (Recht und Gerechtigkeit) eine Rechtsstaatskrise durchlebt. Besonders die Justizreformen, die von der PiS-Regierung vorangetrieben wurden, stießen auf massive Kritik, da sie die Unabhängigkeit der Gerichte gefährdeten und die Kontrolle der Regierungsmacht erheblich schwächten. Zu den umstrittenen Reformen gehörten etwa die Umstrukturierung des Obersten Gerichtshofs, die Schaffung einer Disziplinarkammer zur Kontrolle von Richtern sowie die Ernennung von parteipolitisch motivierten Justizbeamten. Diese Maßnahmen führten zu einer immer weiter wachsenden Kluft zwischen der polnischen Regierung und der Europäischen Union sowie zu einer Verschlechterung der polnischen Position im Rule of Law Index. In den Jahren 2021 bis 2023, als die Justizreformen in Polen ihre volle Auswirkung zeigten, verzeichnete das Land einen signifikanten Rückgang und landete jeweils auf Platz 36, was eine deutliche Verschlechterung im Vergleich zu den Vorjahren darstellte. Seit dem Regierungswechsel 2023 gibt es erste positive Entwicklungen. Der politische Kurs hat sich verändert und die neuen Regierungsmaßnahmen zielen darauf ab, das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen. So wurden Gesetze zur Aufhebung umstrittener Justizreformen erlassen und erste Schritte unternommen, um die Gewaltenteilung und die Kontrolle der Regierungsmacht zu stärken. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Auflösung der Disziplinarkammer und die Wiedereinsetzung von Richtern, die zuvor aus dem Dienst entlassen wurden. Auch der Dialog mit der Europäischen Union wurde wieder aufgenommen, was zu einer insgesamt positiveren Einschätzung Polens im Rule of Law Index geführt hat. Im Index 2024 hat Polen erstmals wieder Fortschritte erzielt und kletterte auf Platz 33, was zwar eine Verbesserung im Vergleich zu den letzten Jahren darstellt, aber noch weit hinter den westeuropäischen Standards zurückliegt. Dennoch ist dies angesichts der schwierigen letzten Jahre ein bemerkenswerter Schritt nach vorne.
Der Weg zur vollständigen Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen ist weiterhin lang und herausfordernd. Der Reformprozess erfordert umfassende Veränderungen, sowohl in bestehenden Gesetzen als auch durch die Einführung neuer Mechanismen zur Wahrung der Gewaltenteilung. Besonders die Kontrolle der Regierungsmacht und die Unabhängigkeit der Justiz stehen dabei im Mittelpunkt. Ein erhebliches Hindernis stellen die Befugnisse des polnischen Präsidenten dar, der regelmäßig Reformvorhaben blockiert. Auch wenn die politische Bereitschaft zur Reform grundsätzlich vorhanden ist, hängt der Erfolg der Bemühungen maßgeblich davon ab, wie der Präsident auf diese Initiativen reagiert. Das Veto-Recht bleibt eine bedeutende Barriere, die die Umsetzung tiefgreifender Veränderungen verlangsamt und die politische Kontrolle über die Justiz aufrechterhalten kann. Um die Rechtsstaatlichkeit dauerhaft zu sichern, müssen die Reformen durch konkrete gesetzgeberische Maßnahmen untermauert werden. Nur wenn die Unabhängigkeit der Justiz gestärkt wird, können die Fortschritte im Reformprozess gesichert und das Vertrauen in den Rechtsstaat langfristig wiederhergestellt werden.
DEUTSCHLAND: HOHE STANDARDS, ABER MIT LEICHTEN RÜCKSCHLÄGEN
Deutschland hat sich über die Jahre hinweg als eines der führenden Länder in Sachen Rechtsstaatlichkeit etabliert, was durch die Unabhängigkeit der Justiz, die Transparenz der Regierung und die konsequente Einhaltung der Grundrechte untermauert wird. Laut dem Rule of Law Index 2024 belegt Deutschland mit Platz 5 weiterhin einen der vorderen Plätze, was seine starke Position im internationalen Vergleich widerspiegelt. Dies unterstreicht, dass die institutionellen Strukturen in Deutschland nach wie vor als robust gelten, was das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit fördert.
Jedoch gibt der Index auch Anlass zur Besorgnis, da einige Bereiche, die traditionell als Stärken des deutschen Rechtssystems galten, in den letzten Jahren leichte Rückgänge verzeichnet haben. Besonders auffällig sind die Indikatoren zur Transparenz und zur öffentlichen Wahrnehmung der Unabhängigkeit der Justiz, die in den letzten Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westlichen Demokratien zunehmend unter Druck geraten sind.
Ein weiteres Problem, das der Rule of Law Index in Deutschland aufzeigt, ist die zunehmende Sorge um Korruption und die Effektivität der Korruptionsbekämpfung. Während Deutschland im globalen Vergleich in diesem Bereich nach wie vor gut abschneidet, gibt es dennoch wachsende Bedenken bezüglich der Transparenz in Bezug auf Lobbyismus und politische Spenden. Diese Themen sind in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus geraten, insbesondere in Verbindung mit politischen Skandalen und dem erhöhten öffentlichen Interesse an möglichen Interessenkonflikten innerhalb der Regierung. So entsteht die Frage, wie effektiv die bestehenden Mechanismen zur Bekämpfung von Korruption und zur Sicherstellung einer transparenten Regierungsführung sind.
Trotz dieser Herausforderungen bleibt das deutsche Rechtssystem insgesamt stabil und gut strukturiert. Gleichzeitig sind kontinuierliche Anstrengungen zur Aufrechterhaltung der Integrität und zur Weiterentwicklung des Systems essenziell. Die Diskussionen über die Unabhängigkeit der Justiz und die Einflussnahme der Exekutive verdeutlichen, dass auch etablierte Demokratien in der Pflicht sind, ihre Institutionen ständig zu überprüfen und sicherzustellen, dass die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern auch im politischen und gesellschaftlichen Alltag gelebt werden.
Die Frage, wie Deutschland seine hohen Standards der Rechtsstaatlichkeit langfristig sichern kann, bleibt daher von zentraler Bedeutung. Es ist entscheidend, dass das Vertrauen der Bürger in die Unabhängigkeit der Justiz und die Integrität der Institutionen auch in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen gewahrt bleibt. Der Rule of Law Index 2024 zeigt zwar, dass Deutschland auf einem hohen Niveau bleibt, aber er erinnert auch daran, dass selbst in Ländern mit traditionell hohen Standards der Rechtsstaatlichkeit ein kontinuierlicher Überwachungs- und Anpassungsprozess erforderlich ist, um zukünftige Risiken zu vermeiden und das Vertrauen der Bevölkerung zu erhalten.
UNGARN: DIE ANHALTENDE EROSION DER RECHTSSTAATLICHKEIT
Im Gegensatz zu Polen und Deutschland zeigt Ungarn weiterhin einen besorgniserregenden Abwärtstrend im Rule of Law Index. Laut dem Rule of Law Index 2024 belegt Ungarn Platz 73. Im Jahr 2015 lag Ungarn noch auf Platz 36, was die Verschlechterung im Index innerhalb kurzer Zeit unterstreicht. Dieser Trend spiegelt die anhaltende Erosion der Rechtsstaatlichkeit unter der Führung von Ministerpräsident Viktor Orbán wider. Besonders problematisch sind die zunehmenden Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz, die Einschränkung von Grundrechten und die Schwächung demokratischer Institutionen.
Ein zentraler Kritikpunkt ist der wachsende Einfluss der Regierung auf die Justiz. Die ungarische Regierung hat in den letzten Jahren wiederholt Maßnahmen ergriffen, die die Unabhängigkeit der Justiz gefährden. So wurden etwa die Befugnisse des Verfassungsgerichts eingeschränkt, und es gab Berichte über die Ernennung von politisch loyalen Richtern. Diese Entwicklungen stellen eine direkte Bedrohung für die Gewaltenteilung dar und werfen die Frage auf, wie funktional und unabhängig das ungarische Rechtssystem noch ist. Im aktuellen Rule of Law Index wird die Unabhängigkeit der Justiz als einer der größten Schwachpunkte des Landes bewertet.
Darüber hinaus sind auch die Bürgerrechte zunehmend bedroht. Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit, die Verfolgung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die für die Verteidigung von Menschenrechten und Demokratie eintreten, sowie die zunehmende Einschränkung der Medienfreiheit sind weitere besorgniserregende Entwicklungen.
Trotz wiederholter Kritik aus der Europäischen Union und anderen internationalen Institutionen bleibt die ungarische Regierung resistent gegenüber den Forderungen nach Reformen. Die EU hat bereits Maßnahmen ergriffen, um die ungarische Regierung zur Einhaltung der rechtsstaatlichen Prinzipien zu bewegen, darunter finanzielle Sanktionen und die Aussetzung bestimmter EU-Fördermittel. Diese Maßnahmen haben jedoch bislang nur begrenzte Auswirkungen gezeigt: Bislang zeigt die ungarische Regierung wenig Bereitschaft, auf die Kritik zu reagieren.
Die anhaltende Erosion der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn ist daher nicht nur ein nationales, sondern auch ein europäisches Problem, da das Land zunehmend von den demokratischen Grundwerten der EU abweicht. Der abnehmende Respekt für die Unabhängigkeit der Justiz und die Grundrechte gefährdet nicht nur die Demokratie in Ungarn, sondern könnte auch langfristige Auswirkungen auf das Vertrauen der Bürger in die Rechtsstaatlichkeit haben. Diese Entwicklungen werfen ernsthafte Fragen zur künftigen Ausrichtung des Landes auf und lassen befürchten, dass Ungarn sich immer weiter von den grundlegenden Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit entfernt.
DIE BEDEUTUNG DER RECHTSSTAATLICHKEIT FÜR DIE EU
Die Entwicklungen in Polen, Deutschland und Ungarn verdeutlichen, dass die Rechtsstaatlichkeit in Europa keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist. Während einige Länder wie Polen Reformen umsetzen, um die Demokratie zu stärken, stehen andere wie Ungarn vor der Gefahr eines dramatischen Abbaus rechtsstaatlicher Prinzipien. Die EU muss daher eine entscheidende Rolle dabei spielen, Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze konsequent zu sanktionieren. Gleichzeitig muss sie den betroffenen Staaten helfen, notwendige Reformen umzusetzen, ohne die Union selbst zu destabilisieren.
„Die Rechtsstaatlichkeit in Europa ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit“
Die Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur ein juristisches Prinzip, sondern auch ein politisches und gesellschaftliches Fundament, auf dem die europäische Zusammenarbeit basiert.
Der Rule of Law Index 2024 zeigt, dass Rechtsstaatlichkeit kein statisches Gut ist, sondern ein fortwährender Prozess, der aktiv verteidigt und gefördert werden muss. In diesem Kontext ist es für die EU entscheidend, dass demokratische Prinzipien nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern auch in der politischen Realität konsequent umgesetzt werden. Besonders in Ländern wie Polen, die nach Jahren des Rückgangs wieder Fortschritte machen, ist der Reformprozess von großer Bedeutung. Allerdings bleiben in einigen Staaten wie Ungarn erhebliche Herausforderungen bestehen, die das Vertrauen in demokratische Institutionen und die Unabhängigkeit der Justiz gefährden könnten. Auch in Deutschland gibt es in bestimmten Bereichen Diskussionen über Reformbedarf, doch insgesamt wird das Land weiterhin als stabiler Rechtsstaat innerhalb der Union angesehen.
Die kommenden Jahre werden entscheidend sein, um den demokratischen Kurs Europas zu sichern und die Rechtsstaatlichkeit als tragende Säule der Europäischen Union zu bewahren. Nur durch konsequente und kontinuierliche Anstrengungen kann die EU als Wertegemeinschaft langfristig stabil bleiben und ihren Bürgern die Garantie auf eine gerechte, transparente und funktionierende Demokratie bieten.