Die Anwaltschaft als Verteidigerin der Verfassungsgerichtsbarkeit?

Die 21. Berliner Konferenz der Europäischen Rechtsanwaltschaft.

Zum 21. Mal hat der Berliner Anwaltsverein eine Konferenz der europäischen Rechtsanwaltschaften organisiert. Neben dem Empfang der Gäste bereits am Donnerstag, 02.11.2023, und dem Treffen im PalaisPopulaire am 02.11.2023 abends gab es die Konferenz am 03.11.2023, von 10:00 Uhr bis 13:25 Uhr, in einem großen Saal der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland am Pariser Platz. Abends gab es das berühmte „feine“ Essen im Waldorf Astoria und am nächsten Tag morgens die Verabschiedung.

Thomas Röth | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Arbeitsrecht, Miet- und Wohnungseigentumsrecht sowie Strafrecht, Mediator, Richter am Anwaltsgericht Berlin, Avvocato in Italien (Anwaltskammer zu Siena, Toskana), Master of Science Studiengang Forensic Sciences and Engineering | Rechtsanwaltssozietät Liebert & Röth 

Zur Konferenz am Freitagvormittag

Es fanden sich knapp 40 Teilnehmer aus 17 Ländern ein. Bis auf Südkorea kamen alle aus Europa. Die absolute Mehrheit waren Mitglieder der Europäischen Union. Wie üblich hatte der Berliner Anwaltsverein bereits Monate vorher einen Fragebogen an die teilnehmenden Anwaltschaften aus den verschiedenen Ländern verschickt. Der Fragebogen lautete diesmal:

FRAGEBOGEN

Die Rechtsanwaltschaft als Verteidigerin der Verfassungsgerichtsbarkeit

  1. Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich Gibt es in Ihrem Land ein Verfassungsgericht? Welche Kompetenzen hat es? Wie werden die Richter/innen gewählt? Über welche Themen (in Stichworten) hatte es in den letzten Jahren besonders öffentlichkeitswirksam zu entscheiden?
  2. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte vor dem Verfassungsgericht Wie ist die Vertretung durch Rechtsanwälte vor Ihrem Verfassungsgericht geregelt? Dürfen alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte dort auftreten? Gibt es Beschränkungen der Vertretung oder besondere Zulassungsvoraussetzungen vor anderen höchsten Gerichten?
  3. Rechtsanwaltschaft unter dem Schutz der Verfassung Ist die Rechtsanwaltschaft in Ihrer Verfassung erwähnt (könnten Sie die Vorschrift ggf. auf Englisch zitieren)? Ist der Anwaltsberuf verfassungsrechtlich geschützt? Welche Entscheidungen hat Ihr Verfassungsgericht in jüngster Zeit in Bezug auf die Anwaltschaft getroffen (z.B. Berufsrecht, Geheimnisschutz, Verteidigerrechte, Rechtsanwaltskammern)? Ist ein besserer Schutz der Anwaltschaft auf Verfassungsebene aus Sicht Ihrer Organisation/Ihrer Rechtsanwaltskammer erforderlich?
  4. Verfassungsgerichte im Gegenwind Wurde die Rolle, die Kompetenz, das Richterwahlsystem des Verfassungsgerichts in den letzten Jahren verändert? Hat sich die politische Meinung oder öffentliche Meinung in Bezug auf Ihr Verfassungsgericht geändert? Wird das Gericht als Institution in Frage gestellt und von wem? Welchen Entscheidungen/Entscheidungsgegenstände des Verfassungsgerichts prägen die öffentliche Debatte um das Verfassungsgericht? Gibt es ggf. ähnliche politische und öffentliche Debatten im Hinblick auf den EuGH? Wird die Gültigkeit seiner Entscheidungen für Ihr Land in Frage gestellt und durch wen?
  5. Schutz der Verfassungsgerichtsbarkeit Wie ist das Verfassungsgericht in Ihrem Land gegen seine Entmachtung geschützt?
  6. Rolle der Anwaltschaft Welche Position bezieht ihre Organisation/die Rechtsanwaltskammer in diesen Debatten?

Alle 17 Länder hatten bereits zuvor auf diesen Fragebogen geantwortet. Die Dokumente waren für die Teilnehmer vom BAV per E-Mail zu erhalten oder lagen zu Beginn der Konferenz in gedruckter Form aus.

Die teilnehmenden Länder waren: England und Wales, Frankreich, Griechenland, Italien, Republik Korea, Kroatien, Luxemburg, Österreich, Polen, Rumänien, Slowakische Republik, Slowenien, Ukraine, Belgien, Tschechien und Deutschland.

Der Vorsitzende des Berliner Anwaltsvereins, Kollege Freyschmidt, begrüßte zu Beginn die Teilnehmer und im Anschluss führte Kollegin von Galen kurz in die Verfassungsgerichtsbarkeiten der Bundesrepublik Deutschland ein, also die 16 Landesverfassungsgerichte und das Bundesverfassungsgericht. Sie ging dabei insbesondere auf zwei Themen ein, nämlich die Organisation der Verfassungsgerichtsbarkeiten und da insbesondere, wer Richter werden kann, wie lange Amtszeiten sind und wie man benannt/gewählt wird.

In einem zweiten Schritt ging sie auf die Frage ein, womit sich die Verfassungsgerichtsbarkeit beschäftigt und was sie leisten kann. Es stellte sich heraus, dass die Landesverfassungsgerichte in den Details häufig voneinander abweichen, also zum Beispiel darin, ob man eine Befähigung zum Richteramt haben muss, um Richter werden zu können oder nicht. Wer genau Kandidaten vorschlagen kann und wie die Mehrheiten in der Regel im Parlament für die Wahl aussehen müssen. Festzustellen war, gerade im Hinblick auf Aussagen anderer Länder, dass es eine unabhängige Wahlkommission insoweit in Deutschland nicht gibt.

Nach diesen organisatorischen Fragen ging sie auf die Haupttätigkeit der Verfassungsgerichte ein, nämlich, dass diese Bundes- und Ländergesetze auf die ihnen an die Hand gegebene Verfassung hin überprüfen und es in der Regel mit Verfassungsbeschwerden, Vorlagen von Gerichten und Organstreitigkeiten zu tun haben. Sie ging auch darauf ein, dass in den Ländern, in denen die AfD im Parlament sitzt, bisher, trotz des üblichen Proporzdenkens bei der Nominierung von Verfassungsrichtern, diese herausgehalten wurden, was demokratietheoretisch zumindest auf Bedenken stoßen dürfte.

Am Ende ihres einleitenden Referats fragte sich die Kollegin, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit, so wie sie in der Bundesrepublik Deutschland gelebt wird, der Demokratie hilft, und Frau von Galen konnte dies mit einem eindeutigen Ja beantworten. Als Beispiel gab sie das Volkszählungsurteil aus den Achtzigerjahren mit der Erfindung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, das Geldwäscheurteil hinsichtlich der Strafverteidigung und die kurz vor der Veranstaltung veröffentlichte Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zu Lasten des Freigesprochenen an. Ihr letztes Zitat war, dass der Gesetzgeber eigentlich immer in der Mitte der Verfassung zu sein habe, und die Kollegin fragte die anwesenden Teilnehmer aus anderen Ländern, ob dies nach deren Einschätzung in deren Ländern so sei.

Danach meldete sich eine Vertreterin der Anwaltschaft für Polen zu Wort und führte aus, dass in der Bundesrepublik wohl laut Befragung 80 % der Bevölkerung mit dem Bundesverfassungsgericht zufrieden sein sollen. In Polen seien es derzeit 22 %. Die Vertreterin der österreichischen Anwaltschaft gab an, dass es in Österreich ein hohes Vertrauen der Bevölkerung in das dortige Verfassungsgericht gibt. Dann meldete sich ein Vertreter von England und Wales sowie ein Vertreter der griechischen Anwaltschaft zu Wort. Beiden Ländern ist eigen, dass es dort keine Verfassungsgerichte gibt. Der griechische Kollege führte aus, dass dort jedes einzelne Gericht am Fall über die Verfassungsgemäßheit eines Gesetzes entscheiden könne und dies dann inter partes wirke. Es gibt ein Verfahren für Ausnahmefälle, dass ein oberstes Gericht die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellen kann. Der Vertreter für England und Wales führte aus, dass es dort seit Jahrzehnten eine sehr gute unabhängige Kommission für die Auswahl und Nominierung von Richtern gebe. Er zitierte aus einem Urteil des Supreme Court, dass es zwar keine kodifizierte Verfassung gebe, aber eine eben nicht kodifizierte Verfassung, über die die Gerichte zu wachen hätten. Eine andere Vertreterin für England und Wales führte aus, dass die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Justiz dort größer sei, weil Prozesse Prozesse teuer seien, so dass sie sich für kleinere Streitwerte nicht lohnen würden. Eine weitere Teilnehmerin führte Folgendes zur Zufriedenheit mit der Verfassungsgerichtsbarkeit aus: Sie sagte, dass sie die 80 % Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Verfassungsgerichtsbarkeit so nicht glauben könne. Aus ihrer anwaltlichen Tätigkeit könne sie das nicht nachvollziehen. Auch wenn man sich das Wahlverfahren anschaue, stünden sicherlich neben der Befähigung die vertrauenserweckenden Maßnahmen für die Bevölkerung in diesem System nicht im Vordergrund.

Kollege Römermann führte aus, dass sich seiner Ansicht nach die Reputation der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit im freien Fall befinde. Der jetzige Präsident sei wohl von der ehemaligen Kanzlerin durchgesetzt worden und Frau Merkel habe während der Coronazeit als Kanzlerin die Richter des Bundesverfassungsgerichts zu einem Treffen nach Berlin eingeladen, obwohl das Eilverfahren hinsichtlich der Coronamaßnahmen noch nicht entschieden war. Dass die Richter der Einladung folgten, sprach für ihn einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit Hohn. Das Eilverfahren(!) wurde dann nach eineinhalb Jahren zu Gunsten der Regierung entschieden. Ebenso prangerte er die politische Besetzung der Richterämter an. Zum Titel der Veranstaltung „Die Anwaltschaft als Verteidigerin der Verfassungsgerichtsbarkeit“ sagte er, das sei doch wohl eher eine Aussage als eine Frage, und er wollte wissen, was die Anwaltschaft in ihrer Verteidigerrolle denn konkret machen könne. Kollege Freyschmidt gab diese Frage vom Kollegen Römermann an das Plenum weiter.

Der Vertreter von Finnland erklärte, dass es in Finnland kein Verfassungsgericht gebe, aber jeder Richter Gesetze und Entscheidungen auf die Verfassung hin zu prüfen habe. Ein Kollege aus Frankreich teilte mit, dass vor Erlass eines Gesetzes nur die Parlamentarier dies beim Verfassungsgericht hin überprüfen lassen könnten. Sonst geht es nur, wenn das Gesetz in Kraft ist, es kann dann überprüft werden.

Das deutsche Verfassungsgericht hört bei Entscheidungen in der Regel juristische Verbände, wenn es um anwaltliche Dinge geht, an (also die BRAK und den Deutschen Anwaltsverein). In Frankreich sei es möglich, Stellung zu nehmen, man würde aber nicht extra vom Verfassungsgericht dazu aufgefordert. Luxemburg führte aus, dass dort 2023 die Unabhängigkeit ausdrücklich in der Verfassung geregelt worden sei.

Nach der Pause ging es in den zweiten Teil, jetzt insbesondere zum Thema „Verfassungsgericht und Politik„. Hier wurde zunächst den Vertretern der Anwaltschaft aus Polen das Wort erteilt. Ein Kollege aus Polen schilderte ausführlich die Versuche der noch dort regierenden PiS zur Entmachtung/Marginalisierung des polnischen Verfassungsgerichts. Das Ganze begann im Jahre 2015. Neben den üblichen Ernennungen von Richtern ging es auch um die Änderung des Quorums (bis dato ungeschrieben) und die etwaige Verlegung des Verfassungsgerichts aus der Hauptstadt auf das Land. Er schilderte die Überlegungen anhand des Strafgesetzes über die Abtreibung. Diese politisch heikle Angelegenheit das Verfassungsgericht durch eine Verfassungsbeschwerde lösen zu lassen. Das Misstrauen und die Marginalisierung des Verfassungsgerichts zeigt sich auch an einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 13.07.2023 (C-615/20), wonach die Suspendierung eines polnischen Richters durch die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts Polens feststellte, dass dies gegen EURecht verstoße.

Dass auch die Beteiligten, die in der Regel Verfassungsgerichte anrufen, an die Qualität des jetzt bestehenden Verfassungsgerichts in Polen nicht mehr so richtig glauben, war durch die Fallzahlen der letzten Jahre zu belegen. Hatte das Verfassungsgericht noch vor den Reformen durch die Regierung in einem Kalenderjahr (wohl 2015) 63 Urteile und 125 Beschlüsse gefällt, so waren es im Jahre 2021 acht oder neun Urteile und 49 Beschlüsse. Eine junge Kollegin aus Polen teilte mit, dass sie eine ehemalige Verfassungsrichterin vor Kurzem getroffen habe, die dem Kampf der Rechtsanwaltskammer Polen um rechtsstaatliche Zustände hohes Lob zollt, und sie rief die Anwesenden dazu auf, ein 11. Gebot zu verinnerlichen, das da lautet: Sei nicht gleichgültig!

„Wer nominiert die Nominierten?“

Kollege Freyschmidt fragte dann nochmal in einer Runde nach der Unabhängigkeit der Nominierungen/Richterwahlausschüsse.

Rumänien führte aus, dass es zumindest in letzter Zeit um das Verfassungsgericht keinen Unruheskandal gegeben habe. Die Ernennung sei politisch. Der Präsident des Landes könne zwei Richter benennen, die zwei Parlamente jeweils drei Kandidaten. Einer der Kandidaten muss nicht Richter sein, er kann auch Rechtsanwalt sein. Die Amtszeit betrüge neun Jahre. Eine Verfassungsbeschwerde der Bürger sei dort nicht möglich, sondern in der Regel müssten die Gerichte vorlegen. Das Vertrauen in die Verfassungsgerichtbarkeit sei dort hoch.

Italien führte zur Rechtslage mit dem Kassationsgericht und dem Verfassungsgericht aus, es habe dort vor kurzer Zeit einen kleinen Konflikt zwischen den beiden Gerichten gegeben, in dem das Kassationsgericht direkt dem EUGH etwas vorlegte. Der Streit scheint durch den EUGH entschärft worden zu sein. Schlussendlich führte die Vertretung von England und Wales dazu aus, wie bei ihnen die unabhängige Richtervorschlagskommission besetzt sei, nämlich mit 13 Mitgliedern, die aus verschiedenen Sphären (natürlich juristischen in der Regel) stammen.

Kollege Freyschmidt schloss mit der offenen Frage: „Tja, das ist das Problem: Wer nominiert die Nominierten?“ Insgesamt ein spannendes Thema, und zu den Ländern, die sich in der Veranstaltung eher wenig oder nicht zu Wort gemeldet hatten, konnte man in den schriftlichen Antworten auf dem Fragebogen nachlesen. Vielleicht wäre es sinnvoll, in der Zukunft das Auditorium technisch (qua Video) zu vergrößern.

Vielen Dank dem Berliner Anwaltsverein!

Exklusiv für Mitglieder | Heft 12/2023| 72. Jahrgang