Die Justiz im europäischen Vergleich

Eindrücke der DAV-Auslandsvereine auf dem DAT 2025

Der Deutsche Anwaltstag 2025 stand unter dem Leitmotiv „Rechtsstaatlichkeit stärken – Freiheit bewahren“. Damit wurde ein Thema aufgegriffen, das aktueller kaum sein könnte: Demokratien und die Rechtsstaatlichkeit sind heute nicht nur durch äußere Gefahren, sondern auch durch innere Spannungen herausgefordert. Ein zentraler Prüfstein für ihre Wehrhaftigkeit ist die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der Justiz. Gerichte genießen nicht nur Autorität durch Rechtsetzung und Rechtsanwendung, sondern auch durch das Vertrauen der Gesellschaft, die auf eine verlässliche, faire und effiziente Rechtsprechung angewiesen ist.

Dr. Stephan Grigolli | Rechtsanwalt & Avvocato | Fachanwalt für Internationales Wirtschaftsrecht Grigolli & Partner | Mailand | www.grigollipartner.it | Vorsitzender Deutscher Anwaltverein Italien (DAV Italien) & Sprecher der DAV-Auslandsvereine

Auf der nun schon traditionellen Veranstaltung der Auslandsvereine des DAV haben vier Vereine im Rahmen einer spannenden Podiumsdiskussion ihre Erfahrungen und Befunde geteilt: Polen (Sabina Ociepa, Rechtsanwältin), Spanien (Karl H. Lincke, Rechtsanwalt & Abogado), Luxemburg (Stephan Wonnebauer, Rechtsanwalt & Avocat à la Cour) und Belgien (David Diris, MA, Rechtsanwalt). Die Länderberichte gaben Einblicke in sehr unterschiedliche Entwicklungen und Schwierigkeiten, die jedoch alle denselben Grundkonflikt betreffen: Wie kann die Justiz in modernen Demokratien ihre Aufgaben erfüllen und zugleich gegenüber politischen, ökonomischen und technologischen Herausforderungen standhalten?

Die Diskussion konzentrierte sich auf vier Schwerpunkte:

  1. das Ansehen der Justiz,
  2. die Arbeit der Gerichte,
  3. die Wettbewerbsfähigkeit der Justiz und
  4. die Rolle von künstlicher Intelligenz (KI).

„Die Unterschiede sind groß – und gerade ein Vergleich ermöglicht wertvolle Rückschlüsse auf den Zustand der Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit“

Im Folgenden werden die Beiträge der Länder dargestellt. Dabei zeigt sich, dass die Unterschiede groß sind – und dass gerade ein Vergleich wertvolle Rückschlüsse auf den Zustand der Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit ermöglicht.

1. ANSEHEN DER JUSTIZ

1.1 Polen

Das Ansehen der polnischen Justiz ist seit Jahren schwer erschüttert. Hauptursache ist der massive politische Einfluss auf die Gerichte. Unter den Regierungen der PiSPartei wurden sowohl das Verfassungsgericht als auch die ordentlichen Gerichte in einer Weise reformiert, die ihre Unabhängigkeit infrage stellte. Richter wurden ausgetauscht, Disziplinarkammern eingeführt, und die Regierung nahm direkten Einfluss auf Ernennungen. Für die Bevölkerung bedeutet dies, dass das Vertrauen in die Gerichte stark abgenommen hat; viele Bürger zweifeln an deren Neutralität.

1.2 Spanien

In Spanien steht weniger politische Einflussnahme im Vordergrund als vielmehr die fehlende Reformbereitschaft. Der Consejo General del Poder Judicial, das zentrale Gremium für die Selbstverwaltung der Justiz, ist seit Jahren blockiert, da die politischen Parteien sich nicht auf eine Neubesetzung einigen können. Dies vermittelt den Eindruck einer Justiz, die im politischen Streit zerrieben wird. Das Ansehen leidet hier vor allem unter der Wahrnehmung von Stillstand und mangelnder Effizienz.

1.3 Luxemburg

Luxemburg präsentiert ein Gegenmodell: Das Vertrauen in die Justiz ist vergleichsweise hoch. Es gibt keine gravierenden politischen Eingriffe oder Skandale, die das Bild der Justiz beschädigen. Vielmehr wird die Justiz als solide und professionell wahrgenommen. Dies hängt auch mit der überschaubaren Größe des Landes zusammen, die Transparenz und Nähe fördert.

1.4 Belgien

In Belgien ist das Vertrauen bis heute durch den Fall Dutroux nachhaltig beschädigt. Die groben Fehler und Skandale – von der vorzeitigen Haftentlassung bis hin zum Verlust von Beweismaterial – führten 1996 zum „Witte Mars“, bei dem über 300.000 Menschen gegen das Justizversagen protestierten. Seither haftet der Justiz ein Ruf von Ineffizienz und Misstrauen an, der trotz Reformen nur schwer überwunden werden konnte.

Während Luxemburg das Bild einer stabilen Justiz bietet, illustrieren Polen und Belgien, wie politischer Druck bzw. spektakuläre Skandale das Vertrauen langfristig unterminieren können. Spanien zeigt einen Mittelweg: weniger Skandal, dafür eine lähmende Reformblockade. Für die streitbare Demokratie ist klar: Vertrauen entsteht nicht allein durch formale Strukturen, sondern durch gelebte Unabhängigkeit und Kompetenz.

2. ARBEIT DER GERICHTE

2.1 Polen

Die polnischen Gerichte sind organisatorisch überlastet, zugleich aber auch durch die politische Einflussnahme in ihrer täglichen Arbeit eingeschränkt. Richter müssen mit Disziplinarverfahren rechnen, wenn sie sich gegen politische Erwartungen stellen. Dies lähmt die Arbeit zusätzlich und erschwert eine unabhängige Rechtsprechung.

2.2 Spanien

Spanische Gerichte sind traditionell stark überlastet. Viele Verfahren ziehen sich über Jahre, was die Justiz für Bürger wie Unternehmen schwer zugänglich macht. Zwar gibt es Digitalisierungsinitiativen, doch bleibt die strukturelle Überforderung spürbar.

2.3 Luxemburg

In Luxemburg sind die Gerichte gut organisiert und arbeiten vergleichsweise effizient. Verfahren dauern selten unangemessen lang und die richterliche Arbeit ist stabil. Strukturelle Überlastungen wie in Spanien oder Belgien bestehen kaum.

2.4 Belgien

Belgien kämpft seit Jahren mit enormen Rückständen. Am Berufungsgericht Brüssel warten rund 15.000 Zivilsachen; Verhandlungstermine können sieben Jahre nach Einreichung erfolgen. Fehlende Zwischenentscheidungen („Vorfragen“) und überlange Schriftsätze verschärfen das Problem. Zwar haben einzelne Gerichte Maßnahmen ergriffen (z. B. 15-Minuten-Plädoyers in Gent), doch das strukturelle Defizit bleibt.

Hier zeigt sich eine klare Spaltung: Luxemburg steht für eine funktionierende Justizpraxis, während Spanien und Belgien unter chronischer Überlastung leiden. Polen wiederum illustriert, dass Effizienz auch durch politische Gängelung gefährdet sein kann. Eine streitbare Demokratie benötigt nicht nur unabhängige, sondern auch leistungsfähige Gerichte.

3. WETTBEWERBSFÄHIGKEIT DER JUSTIZ

3.1 Polen

Die Wettbewerbsfähigkeit der polnischen Justiz ist durch die politische Lage massiv geschwächt. Internationale Investoren zweifeln an der Verlässlichkeit von Verfahren, was auch die ökonomische Attraktivität des Landes mindert.

3.2 Spanien

Spanien ist zwar wirtschaftlich bedeutend, leidet aber unter ineffizienten Verfahren, die internationale Unternehmen abschrecken. Die Blockade im Justizrat verhindert Modernisierungen, die dringend erforderlich wären.

3.3 Luxemburg

Luxemburg profitiert als internationaler Finanzplatz von einer funktionierenden und vertrauenswürdigen Justiz. Verfahren werden zügig geführt, und die Justiz ist ein Standortvorteil.

3.4 Belgien

Belgien hat trotz niedriger Prozesskosten ein gravierendes Wettbewerbsproblem: Verfahren dauern zu lange, und Strategien wie der „Belgian Torpedo“ haben das Land als Justizstandort geschwächt.

Für die Wettbewerbsfähigkeit sind Geschwindigkeit und Verlässlichkeit entscheidend. Luxemburg zeigt, wie dies gelingt; Polen und Spanien zeigen die negativen Effekte politischer bzw. organisatorischer Blockaden. Belgien illustriert, dass auch günstige Kosten nicht helfen, wenn Verfahren faktisch unberechenbar sind.

4. KÜNSTLICHE INTELLIGENZ IN DER JUSTIZ

4.1 Polen

Die Diskussion um KI spielt bislang eine untergeordnete Rolle; zentrale Themen sind politische Unabhängigkeit und strukturelle Arbeitsfähigkeit.

4.2 Spanien

Spanien hat im Bereich KI die aktivsten Initiativen. Erste Pilotprojekte zielen auf automatisierte Übersetzungen, Datenanalyse und Effizienzsteigerung in Verfahren.

4.3 Luxemburg

Luxemburg verfolgt einen vorsichtigen Ansatz. KI wird getestet, aber mit klarer Betonung ethischer Leitlinien und richterlicher Verantwortung.

4.4 Belgien

Belgien hat in den letzten Jahren große Fortschritte bei der Digitalisierung gemacht (E-deposit, DPA-Plattform, Videokonferenzen). KI-Anwendungen stehen jedoch noch am Anfang; Priorität lag bislang auf dem Nachholen grundlegender digitaler Infrastruktur.

Spanien ist Vorreiter, Luxemburg agiert vorsichtigprogressiv, Belgien konzentriert sich auf Grundlagen, Polen bleibt zurück. Für die streitbare Demokratie stellt sich die Frage, wie weit Effizienzgewinne durch KI gehen dürfen, ohne rechtsstaatliche Garantien zu gefährden.

5. FAZIT

Die intensive Diskussion im Rahmen der Podiumsdiskussion verdeutlichte, dass die Herausforderungen europäischer Justizsysteme sehr unterschiedlich gelagert sind, jedoch ein gemeinsames Ziel haben: Stärkung von Vertrauen, Effizienz und Unabhängigkeit.

Heft 11 | 2025 | 74. Jahrgang