Die Resilienz des Rechtsstaates
„Zuhören – Mitreden!“
Am 23. September lud der Berliner Anwaltsverein aus Anlass der aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland zu einer neuen spannenden Veranstaltung „Zuhören – Mitreden!“ zu dem Thema Resilienz des Rechtsstaates ein. Eingeladen zu der Diskussion waren im Podium Juristen aus verschiedenen Bereichen und mit divergierenden Meinungen, sodass ein breites Meinungsfeld zu Gast war. So nahmen im Podium die Berliner Senatorin für Justiz und Verbraucherschutz Frau Dr. Badenberg, der Rechtsanwalt und Notar, ehem. Präsident des DAV und ehem. Vorsitzende des Berliner Anwaltsvereins Ulrich Schellenberg, Anna-Mira Brandau, MJur (Oxford), Juristin bei dem Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs, Frau Rechtsanwältin Malgorzata Gemen, (poln.), Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten der polnischen Anwaltskammer in Szczecin und Berlin sowie Prof. Dr. Ralf Höcker, LL.M. (London), Rechtsanwalt in Köln, teil. Durch den Abend geführt haben Uwe Freyschmidt, Rechtsanwalt und Vorsitzender des Berliner Anwaltsvereins, Vorstandsmitglied des DAV und Dr. Ursula Knapp, Journalistin in Karlsruhe, welche die Diskussion mit gut durchdachten Fragen anregte.
Christine Rattey | Rechtsanwältin | Licence en droit (Frankreich) | Schellenberg Unternehmeranwälte | www.unternehmeranwaelte.de | Vorstandsmitglied des BAV
Aufgrund der Brandbreite des Themas wurde die Thematik des Abends eingegrenzt auf die Resilienz der deutschen Verfassung und die Meinungsfreiheit. Beiden Themen lieferten im Laufe des Abends einigen spannenden Gesprächsstoff und machten die unterschiedlichen politischen Ansichten und auch Probleme des Rechtsstaates im Umfang mit Verfassungsfeinden deutlich.
DIE RESILIENZ DER VERFASSUNG
Was passiert, wenn eine autoritäre, populistische Partei die Mehrheit bekommt? Das war eine der wichtigen Fragen des Abends, denn die Zweidrittelmehrheit ist regelmäßig eine Hürde, die im Grundgesetz als Schutzfunktion der Demokratie dient. Sie ist beispielsweise auch die erforderliche Mehrheit im Richterwahlausschuss, auch für Verfassungsrichter. Wenn nun die AfD aufgrund der Wahlergebnisse und der Zweidrittelmehrheit in Richterwahlausschüssen verhindern kann, hat sie effektiv das Recht, die Richterbesetzung – auch für Verfassungsrichter – zu blockieren. Das könnte dazu führen, dass keine neuen Richter gewählt werden können und damit die Rechtsprechung darunter leidet, bis die AfD einer Richterwahl zustimmt. Dies vermittelt der AfD eine gewisse Machtsituation, die dazu führen kann, dass sie die Richterwahl beeinflusst und von ihr bevorzugte Richter wählen lässt.
„Was passiert, wenn eine autoritäre, populistische Partei die Mehrheit bekommt“
Frau Brandau, die sich für das zurecht viel beachtete Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs intensiv mit dem Thema befasst hat, erklärte dies anschaulich. Die Gerichte könnten im Ernstfall nicht mehr ordnungsgemäß besetzt werden, wenn die Verfahren zur Richterwahl zu lange dauern. So könnte die AfD in Thüringen den Richterwahlausschuss blockieren, aber gerade aktuell wird Nachwuchs wichtig, denn in der nächsten Wahlperiode in Thüringen werden gut 50 Prozent der Richter aus dem Amt ausscheiden. Eine effektive Rechtsprechung wird mit Blockaden mindestens erschwert. Und leider handelt es sich hierbei um ein realistisches Szenario, nicht um abwegige Theorie. Nach den Erläuterungen von Frau Brandau wurde im Podium über die Gefahren für die Verfassung und die Richterwahlausschüsse diskutiert, auch darüber, wie man vorbeugende Maßnahmen treffen kann. Herr Schellenberg und Frau Brandau wiesen darauf hin, dass das Grundgesetz Vorkehrungen zum Schutz der Verfassung trifft. Diese müssten nur in Zukunft auch genutzt werden. Es stellte sich die Frage, ob das Grundgesetz durch Regelungen der Länder flankiert werden sollte zum Schutz der Verfassung.
PLÄNE DER BERLINER JUSTIZ
Die Berliner Senatorin für Justiz Dr. Badenberg berichtete von den Plänen in Berlin, sich mit dem Thema zu befassen befassen. Sie berichtete unter anderem, dass in einer Frühjahrskonferenz dieses Jahr die Frage besprochen wurde, wo Vorkehrungen getroffen werden müssen, damit Verfassungsfeinde nicht in der Justiz tätig sind. In Berlin wolle man nicht warten, bis der Ernstfall eingreife. Daher wird im Herbst besprochen, welche Gesetze angepasst werden müssten, um entsprechende Vorkehrungen, beispielsweise auch für Richterwahlausschüsse zu treffen. Hierbei wird berücksichtigt, dass Berlin nicht nur eigene Richterwahlausschüsse, sondern auch solche gemeinsam mit dem Land Brandenburg hat. Die Berliner Justiz befasst sich also mit der Gefahr und will Vorkehrungen zum Schutz des Rechtsstaates entwickeln. Welche genau dies sind, bleibt abzuwarten. An dem Abend wurden keine konkreten Ideen oder gar Gesetzesvorschläge benannt.
Dr. Höcker wies darauf hin, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass, nur weil die AfD eine Mehrheit hat, nur Richter mit verfassungsfeindlicher Einstellung gewählt werden oder die Wahl anderer Richter blockiert würde. Ihm wurde insoweit zugestimmt, dass niemand gewählt werden muss. Unabhängig davon muss es jedoch Auswege für den Fall von Blockadesituationen geben, um die effektive Rechtsprechung nicht zu gefährden, denn Blockadesituationen wird es geben.
VON DEN ENTWICKLUNGEN IN POLEN LERNEN
Einen interessanten Einblick in ein Land, wo das Problem deutlich fortgeschrittener ist und nun behoben werden soll, konnte Frau Gemen geben. Sie berichtete über die langsame Entwicklung in Polen während der langen Regierung der PiS-Partei in Polen. Sie berichtete über den Ablauf, der Übernahme durch die PiS-Partei, die in der Staatsanwaltschaft begann und dann in der Justiz voranschritt und den nun langsamen Wiederaufbau in Polen. Sie berichtete beispielsweise, dass zur Übernahme der Gerichte von der PiS-Partei eine Disziplinarkammer eingerichtet wurde, und Anwälte vor der Frage standen, ob sie angeklagte Richter vor der Disziplinarkammer anwaltlich vertreten und damit auch diese Disziplinarkammer anerkennen oder eine Vertretung ablehnen. Letztlich entschieden sich viele Anwälte für eine Vertretung der Richter. Es war ein interessantes Beispiel, vor welche Probleme konkret die Anwaltschaft gestellt wurde. Die Entwicklung in Polen im letzten Jahrzehnt kann und sollte in Deutschland beachtet werden, um ähnliche Fehler zu vermeiden.
DIE VERROHUNG DES POLITISCHEN DISKURSES
Eine weitere Problematik, die mit der politischen Entwicklung in Deutschland auffällt, ist die Verrohung des politischen Diskurses. Daher sollte auch die Meinungsfreiheit unter diesem Aspekt ein Thema des Abends sein.
Was müssen Politiker aushalten? Diese Frage stellte Dr. Knapp und führte in das Thema ein mit dem Problem, wie viele Rücktritte von Bürgermeistern es in letzter Zeit bundesweit gab. Viele dieser Rücktritte erfolgten aufgrund von Hetze und Drohsituationen. Sie stellte dabei die Frage, ob dies tatsächlich ein Problem ist, oder ob man in den sozialen Medien heute einfach mehr aushalten muss.
Die Berliner Justizsenatorin wies darauf hin, dass die Grenze das strafrechtliche Verhalten sei. Sie könne jedoch den Rückzug aus der Politik verstehen, vor allen Dingen, wenn Familien bedroht werden. Und sie glaube nicht, dass mit Gesetzesverschärfungen dem Ausdrücken in sozialen Medien Abhilfe geschaffen werden könne. Sie teilte jedoch auch mit, dass sie keine Lösung habe, denn es scheint keine zu geben und man kann wohl nur repressiv vorgehen. Die Regierung scheint sich viel mit dem Thema befasst zu haben. Aufgrund des enormen Wachstums der internationalen sozialen Medien mit und der Freiheit im Internet scheint eine Einschränkung faktisch kaum möglich.
Zudem wurde die Frage erörtert, was genau Hassrede ist – wie erfasst man diese und wo sind die Grenzen? Nur mit Antworten auf diese Frage kann eine Einschränkung möglich sein. Dr. Höcker war der Auffassung, dass Hass und Hetze unterhalb der Strafbarkeitsgrenze nicht Sanktionen unterliegen dürfen. Zwar sei Hass und Hetze ein Grund von Politikern zurückzutreten, aber seines Erachtens nach sei der Mensch ein unglaublich zähes Wesen. Die Gesetzeslage sei schon viel zu oft ausgenutzt worden, um etwas zu verbieten. Der Mensch sei zäh und müsse resilient sein. Eine Einschränkung halte er für den falschen Weg, denn letztlich seien es nur Worte.
„‚Worte bleiben nur Worte‘ ist nicht mehr tragbar“
Frau Brandau und Herr Schellenberg führten daraufhin aus, dass diese Ansicht „Worte bleiben nur Worte“ nicht mehr tragbar ist. Die enorme Reichweite in den sozialen Medien muss berücksichtigt werden. Es gibt einen Unterschied, ob man etwas abends am Stammtisch sagt oder auf Social Media mit hunderttausend Followern. Dieser Verantwortung müsse man sich bewusst sein.
Es wurde dann angeregt diskutiert, wo Grenzen bestehen, Grenzen zu setzen sind, und dass auch Sitte und Moral wesentliche Aspekte sind, die zu wenig herangezogen und immer weniger verwendet werden. Nachdem dies im Podium diskutiert wurde, wurden die Zuschauer eingeladen mitzudiskutieren. Viele Zuschauer meldeten sich und wollten etwas zu dem Thema beisteuern. Eine Reporterin der ARD wies darauf hin, dass an dem Abend viel über Sanktionen gesprochen wurde, aber das Problem sei, die wahnsinnige Reichweite, die man aufgrund der sozialen Medien mittlerweile hat, nicht mit präventiven Maßnahmen zu flankieren. Dies fasste gut die Diskussion zur Meinungsfreiheit zusammen, in der keine umsetzbare Idee genannt werden konnte, die Problemen vorbeuge. Stattdessen ging es vorwiegend um Sanktionen, also darum, was passiert, wenn es eigentlich schon zu spät ist.
„Es ist spät, aber noch nicht zu spät“
Es gab viele Wortmeldungen, und der Abend machte deutlich, wie viele Fragen und Meinungen zu dem Thema Resilienz des Rechtsstaates und der Meinungsfreiheit bestehen. Die Diskussion hätte lange andauern können. Gleichzeitig wurde deutlich, wie schwierig es ist, Lösungen zu entwickeln, gerade gute Ideen zu vorbeugenden Maßnahmen fehlen. Auch deutlich wurde die Verantwortung der Juristen, die aufgrund des Fachwissens sicher schneller Gefahren erkennen und handeln sollten. Es ist spät, aber noch nicht zu spät!