Die Rolle der Anwaltschaft bei der Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie

Aus polnischer und deutscher Sicht

Anwälte tragen eine besondere Verantwortung bei der Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Diese Verantwortung erwächst aus unserem Berufsethos, das auf den Prinzipien der Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und dem Schutz der individuellen Rechte basiert. Die jüngsten Ereignisse in Europa haben gezeigt, wie fragil diese fundamentalen Werte sind. Der Schutz der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie ist heute dringlicher denn je. Besonders wichtig ist dabei der offene Dialog mit der Zivilgesellschaft.

Małgorzata Gemen | polnische Rechtsanwältin und und Mediatorin | Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten der polnischen Anwaltskammer und Gründerin der Anwaltskanzlei Adwokat Małgorzata Gemen mit dem Sitz in Stettin, | Polen | www.kanzlei-gemen.de

Bilder: Deutsch Polnische Gesellschaft Berlin e.V.

Ende August hatten wir die Gelegenheit, eine Gruppe der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Berlin e.V. (DPGB) auf ihrer Reise nach Warschau zu begleiten. Seit über 50 Jahren verfolgt die DPGB das Ziel, die Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland zu fördern. Im Rahmen dieser Reise fand in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Warschau ein Treffen mit Vertretern der deutschen und polnischen Anwaltschaft statt, das wir initiiert haben.

DIE POLNISCHE ANWALTSCHAFT

Adw. Mikołaj Pietrzak, Dekan der Warschauer Anwaltskammer, begann seinen Vortrag mit der Beantwortung der Frage, was Rechtsstaatlichkeit eigentlich bedeutet. Seiner Meinung nach lässt sich dieses Konzept am einfachsten erklären, indem man aufzeigt, was Rechtsstaatlichkeit nicht ist. Der Grundsatz der Gewaltenteilung spielt dabei eine wesentliche Rolle. Wenn dieses System ins Wanken gerät – wie in den letzten Jahren in Polen durch verschiedene Maßnahmen gegen die Justiz – wird klar, dass strukturelle Veränderungen in einem Land am einfachsten durch die „Abschaffung“ einer unabhängigen Justiz eingeleitet werden können. Sobald die Justiz geschwächt ist, richtet sich der Fokus auf die freie Medienlandschaft.

Die Juristen sind die ersten, die Risiken für die Rechtsstaatlichkeit erkennen. In seinen Ausführungen betonte Dekan Pietrzak, dass die polnische Anwaltschaft leider zu spät begonnen hat, sich für den Schutz der Rechtsstaatlichkeit einzusetzen, und dass die deutsche Anwaltschaft aus dieser Erfahrung lernen sollte. Obwohl die Maßnahmen der polnischen Anwaltschaft verspätet eingeleitet wurden, trugen sie im späteren Verlauf durch ihre Intensität und Entschlossenheit dennoch zur Veränderung in Polen bei. Die Handlungen der polnischen Anwaltschaft waren vielfältig: Sie reichten von der kostenlosen rechtlichen Unterstützung für Richter, Staatsanwälte und Protestierende (wie bei den berühmten Streiks für Frauenrechte in Polen) über internationales Auftreten und die Suche nach Unterstützung im Ausland (Dekan Pietrzak hob hier die große Unterstützung aus Deutschland hervor) bis hin zum Kontakt mit der Gesellschaft, einschließlich der Organisation von Treffen und Gesprächen über die Verfassung (Projekt „Tour de Konstytucja“). Die Stimme der polnischen Anwaltschaft war laut und mutig.

„Rechtsstaatlichkeit und Demokratie lassen sich schnell zerstören, aber ihre Wiederherstellung benötigt Jahre“

Um die Situation in Polen während der Regierungszeit der Partei PiS zu veranschaulichen, berichtete Dekan Pietrzak von seinen persönlichen Erfahrungen. Während einer Vorstandssitzung im Büro der Warschauer Anwaltskammer hörte er durch die geöffnete Tür des Balkons laute Rufe. Als er sich zusammen mit anderen Mitgliedern des Vorstands dem Fenster näherte, sahen sie eine große Gruppe von Befürwortern der damaligen Politik, die die Straße entlangzogen und dabei unter anderem „Tod den Feinden des Vaterlandes“ skandierten. In diesem Moment wurde den Anwesenden bewusst, dass sie höchstwahrscheinlich hiermit gemeint waren. Für Dekan Pietrzak war dies der Moment, in dem ihm bewusst wurde, dass die Anwaltschaft tätig werden muss, um die Demokratie zu retten. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie lassen sich schnell zerstören, aber ihre Wiederherstellung benötigt Jahre.

Seit Oktober 2023 hat in Polen ein Machtwechsel stattgefunden. Der neue polnische Justizminister, Prof. Adam Bodnar, steht nun vor der sehr schwierigen Aufgabe des Wiederaufbaus des Rechtsstaates. Die polnische Anwaltschaft engagiert sich aktiv in dem Prozess und setzt ihre Bemühungen fort, um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu schützen.

DIE DEUTSCHE ANWALTSCHAFT

Für die deutsche Anwaltschaft nahm Rechtsanwalt und Notar Ulrich Schellenberg, vormals Präsident des Deutschen Anwaltvereins, an der Veranstaltung teil. Auch er machte sehr deutlich, dass es gerade auf die Anwaltschaft als Garanten des Rechtsstaates ankommt. Die Anwaltschaft sei wie ein Feinmessgerät für die im Rechtsstaat drohenden Gefahren. Dies gründet sich auf den Umstand, dass die Anwaltschaft in der Verteidigung der Rechte des Einzelnen gerade auch bei gesellschaftlichen Konflikten in der ersten Reihe steht. Die Anwaltschaft weiß um die existentielle Bedeutung der Unabhängigkeit der Justiz. Schellenberg berichtete über die Einrichtung des „Weimarer Dreieck der Anwaltschaft“, einem Veranstaltungsformat, in dem neben der Rechtsanwaltskammer Paris und der Rechtsanwaltskammer Warschau der Deutsche Anwaltverein sich zusammengeschlossen haben, um gemeinsam auf Fehlentwicklungen zu reagieren.

„Die Anwaltschaft ist wie ein Feinmessgerät für die im Rechtsstaat drohenden Gefahren“

Unmittelbarer Anlass für die Gründung des „Weimarer Dreieck der Anwaltschaft“ war der dramatische Umbau der Justiz in Polen während der Regierungszeit der PiS.

Schellenberg griff den Hinweis von Dekan Pietrzak auf, wonach die polnische Anwaltschaft zu spät reagiert habe, und macht deutlich, dass es nun Aufgabe der deutschen Anwaltschaft sei, hellwach zu sein, ohne in falschen Aktionismus zu verfallen. Schellenberg skizzierte drei konkrete Bereiche, in denen die Anwaltschaft ihren Beitrag zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit auch in der Bundesrepublik erbringen kann. Er verwies hierzu zunächst auf das Projekt „Anwälte gehen in die Schulen“. Mit diesem Projekt tragen Anwältinnen und Anwälte ihre persönlichen Erfahrungen über die Bedeutung von Recht und Rechtsstaatlichkeit in die Schulklassen.

Ziel dieses Projektes ist die abstrakte Bedeutung von Recht für die Schüler konkret erlebbar werden zu lassen. Wie im Sport auch, ist ein gedeihliches gesellschaftliches Miteinander nur möglich, wenn alle fair spielen, sich also an die Regeln halten.

Der Berliner Anwaltsverein unterhält dieses Projekt nun schon seit 20 Jahren. Auch der Deutsche Anwaltsverein unterstützt dieses Projekt seit Langem bundesweit. Der Schutz der Rechtsstaatlichkeit bedarf aber auch einer konstruktiv-kritischen Begleitung von Gesetzesvorhaben.

Hier ist es Aufgabe der Anwaltschaft klarzumachen, dass eben gerade nicht alles, was politisch gewollt ist, auch rechtlich insbesondere verfassungsrechtlich durchgesetzt werden kann. Der Deutsche Anwaltsverein begleitet seit Jahrzehnten die politische Arbeit mit kritischen Stellungnahmen und weist sehr früh im Gesetzgebungsverfahren auf verfassungsrechtliche Probleme hin. Leider hat der Deutsche Anwaltsverein mit seinen Bedenken viel zu oft Recht und es bedarf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, um die Gesetze letztlich wieder zu korrigieren. Auch das ist ein aktives Eintreten der Anwaltschaft für die Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik. Der Dritte und im Moment drängendste Bereich, in dem die Anwaltschaft aktiv für den Schutz des Rechtsstaates in der Bundesrepublik eintritt, ist die Bestandsaufnahme insbesondere verfahrensrechtlicher Regelungen sowohl im parlamentarischen Bereich als auch im Bereich der Justiz, um zu klären, ob und wenn ja, an welchen Stellen gesetzliche Regelungen mit Blick auf illiberale Tendenzen auch in der Bundesrepublik „wetterfest“ gemacht werden müssen. Ein Kernstück der bundesdeutschen Rechtsund Gesellschaftspolitik der letzten Jahrzehnte war, dass es über alle Parteigrenzen hinweg einen demokratischen Grundkonsens gab, auf dessen Grundlage insbesondere wichtige Personalentscheidungen in den Parlamenten und den Gerichten getroffen werden konnten.

Dieser Konsens aller Demokraten gerät zunehmend unter Druck, wenn – wie jetzt in Thüringen – eine vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingeschätzte Partei über eine parlamentarische Sperrminorität verfügt. Hier leistet die deutsche Anwaltschaft einen elementaren Beitrag, um zum Beispiel die Verfahrensregeln des Bundesverfassungsgerichts zu überarbeiten. Insoweit greift die deutsche Anwaltschaft dem Hinweis von Mikolaj Pietrzak gern auf. Man kann nicht früh genug aktiv werden, wenn es um den Schutz der Rechtsstaatlichkeit geht.

Abschließend lässt sich sagen, dass die Rolle der Anwaltschaft bei der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie von entscheidender Bedeutung ist. Sowohl in Polen als auch in Deutschland zeigt sich, dass Juristen eine zentrale Funktion als Hüter der Verfassung und als Wächter gegen illiberale Tendenzen einnehmen. Es ist unerlässlich, dass die Anwaltschaft weiterhin aktiv für den Schutz dieser Grundwerte eintritt, um sicherzustellen, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht nur erhalten, sondern auch gestärkt werden. Der offene Dialog mit der Zivilgesellschaft bleibt dabei ein essenzielles Instrument.

Heft 11 | 2024 | 73. Jahrgang