Digitalisierung der Justiz
Zugleich ein Bericht über Vorträge bei der Juristischen Gesellschaft zu Berlin
Modernisierung und Digitalisierung der Justiz ist seit Jahr- (zehnt)en ein Dauerthema und es scheint jetzt tatsächlich mehr und mehr Fahrt aufzunehmen. So hat sich auch die ehrwürdige Juristische Gesellschaft zu Berlin1https://www.juristische-gesellschaft.de/. dem Thema gleich in zwei aufeinander folgenden Vorträgen angenommen – beides mal mit ReferentInnen, die man mit Fug und Recht als treibende Kräfte bezeichnen darf.
Am 12. Februar 2025 hatte Herr Professor Dr. Thomas Riehm von der Universität Passau zum „Zivilprozess der Zukunft – Zukunft des Zivilprozesses“ referiert, am 9. April 2025 Frau Stefanie Otte, Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle, zum Thema „Anforderungen an eine moderne Justiz im digitalen Zeitalter“.


ZUR EINORDNUNG: WER MACHT WAS – ODER: WHO IS WHO
Vor nicht allzu langer Zeit legten recht kurz nacheinander gleich zwei Gremien Ideen für Reformen im Zivilprozess vor – mit der gleichen Überschrift: „Zivilprozess der Zukunft“. Die Gremien sind voneinander unabhängig, allerdings gibt es teilweise personelle Überschneidungen. „Die Reformkommission im Auftrag des 3. Digitalgipfels der Justizministerinnen und Justizminister des Bundes und der Länder“ begann im Juli 2024 mit ihrer Arbeit und steht unter der Leitung des Bundesministeriums der Justiz, des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz und der Behörde für Justiz und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg. Sie setzte sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Landesjustizverwaltungen, der Wissenschaft, des Bundesgerichtshofs sowie der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, juristischer Verbände (Deutscher Richterbund, Bundesrechtsanwaltskammer, Deutscher Anwaltverein und etwa auch der Legal Tech Verband und EDV-Gerichtstag) zusammen. Sie legte ihren Abschlussbericht2https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Nav_Themen/250131_Abschlussbericht_Zivilprozess_Zukunft.html?nn=110490. am 31. Januar 2025 vor.
Das andere Gremium war die Arbeitsgruppe der OLG-Präsidenten, die schon im Mai 2023 begonnen hatte und im Mai 2024 die „Münchener Thesen“3https://oberlandesgericht-celle.niedersachsen.de/startseite/rechtsprechung/zivilprozess_der_zukunft_tagungsband/justiz_der_ zukunft/munchener-thesen-zum-zivilprozess-der-zukunft-233869.html. verabschiedete. In der Arbeitsgruppe „Zivilprozess der Zukunft“, die den Tagungsband4https://oberlandesgericht-celle.niedersachsen.de/download/214703/Tagungsband_zum_Zivilprozess_der_Zukunft_der_Abschlussveranstaltung.pdf. bei der Abschlussveranstaltung am 16. November 2024 in Celle vorgelegt hat, war eine breite Gruppe von Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen der Justiz, Rechtsanwaltschaft und Wissenschaft vertreten. Die Initiative wurde von den Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs getragen.
Beide ReferentInnen gehören zu den zentralen Akteuren und Mitwirkenden der Arbeitsgruppe und Frau Otte war auch in der Reformkommission dabei. So kam es, dass die Münchener Thesen auch in die Arbeit der Reformkommission einflossen.
GLEICHZEITIG, UNABHÄNGIG UND INHALTLICH TEILWEISE ÄHNLICH
Die beiden Gruppen sind sich in vielen Punkten einig. Unterschiede gibt es vor allem bei etwaigen neuen Pflichten für die Justiz. Wie immer werden die Ergebnisse unterschiedlich bewertet, aber das liegt im Auge des Betrachters.
Die Reformkommission hat die Justizverwaltung im Blick, schaut aber auch auf die Anwaltschaft und andere Rechtsdienstleister, die Arbeitsgruppe geht die Sache eher aus der RichterInnen-Perspektive an.
Dann gibt es noch die „Berliner Gruppe“, eine interdisziplinär besetzte Expertengruppe, die auf Initiative von Stefanie Otte und Professor Dr. Stephan Breidenbach eine Vision für den Zivilprozess 2040 entwickelt hat.5https://berliner-gruppe.com/.
Wer sich die eigene Lektüre der Arbeitsergebnisse ersparen wollte, war gut beraten, zu den Vorträgen zu gehen. Vom zweiten der beiden Termine soll hier berichtet werden.
ANFORDERUNGEN AN EINE MODERNE JUSTIZ IM DIGITALEN ZEITALTER
Im Vortrag am 10. April 2025 von Frau Otte stand die richterliche Sicht im Mittelpunkt: Ausgangspunkt war die Bestandsaufnahme, dass es zwar nach wie vor eine hohe Akzeptanz des Rechtsstaates gebe, aber doch eine schleichende Vertrauenserosion zu beobachten sei. Ebenso bemerkenswert (wie richtig) fand ich die Feststellung, dass analoge Gerichte im digitalen Zeitalter durchaus als Fremdkörper angesehen werden können. Weiter stellte Frau Otte den derzeitigen Stand der Digitalisierung mit all seinen Unzulänglichkeiten dar, etwa die unzureichende technische Ausstattung oder das Fehlen eines einheitlichen Videokonferenzsystems und einer Anonymisierungs- und Transkriptionssoftware. Sie stellte die Reformüberlegungen dar und hatte sogar schon eine Folie zum Koalitionsvertrag dabei. Sie setzte drei Schwerpunkte:
Bei den Digitalisierungszielen steht der erleichterte Zugang zum Recht ganz weit oben. Sie erläuterte das Konzept eines bundeseinheitlichen Portals als zentrale Online-Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger, das auch als „Gesicht der Justiz im digitalen Raum“ angesehen werden kann. Im „Frontend“ soll es den Rechtsuchenden einen einfachen Zugang zu digitalen Justizdienstleistungen erleichtern (z. B. Infothek mit Informationsbroschüren, abstrakte Rechtsinformationen, digitale Rechtsantragstelle) im „Backend“ modular und erweiterbar aufgebaut sein (z. B. Konfliktberatung, Mediation bzw. Güterichterverfahren oder Online-Klageerhebung).
„Eine Automatisierung der Rechtsfindung“
Der nächste Aspekt ist direkt auf die Arbeit der Gerichte zugeschnitten: Die automatisierte Rechtsfindung, von der Analyse der Fälle z. B. durch Extrahierung von Daten aus den Schriftsätzen oder die Visualisierung von Sachverhalten bis hin zur Texterstellung, etwa der Korrektur von Schriftstücken (auch im Hinblick auf ihre Lesbarkeit) oder weitergehend sogar dem Entwurf von Beschlüssen und Urteilen. Selbstverständlich sind dem durch das Grundgesetz und die Europäische KI-Verordnung Grenzen gesetzt. Sie stellte dann kurz einige der der schon bestehenden und bekannten Beispiele dar, etwa FRAUKE (Fluggastrechte), OLGA (Diesel), FRIDA (OWi). Etwas näher ging sie auf die Beispiele aus der niedersächsischen Justiz ein: MAKI,6Massenverfahrensassistenz mithilfe von KI, eine Chatbot-Funktion, mit der Informationen aus den Akten extrahiert und zusammengefasst werden können. EMIL,7Ein Chatbot zur Aufbereitung der Erkenntnismittel in Asylverfahren für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, insbesondere zu Informationen zu Herkunftsländern der Asylsuchenden. TabeA.8Ein in Entwicklung befindliches Assistenzsystem zur Aufbereitung von Tatbeständen im Asylbereich. Besonders hoffnungsfroh stimmte mich der Hinweis auf ALeKs:9Anonymisierungs- und Leitsatzerstellungs-Kit zur smarten Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen. Offensichtlich stellt die rechtssichere Anonymisierung von Urteilen für RichterInnen einen sehr großen Aufwand – und daher ein Hindernis – dar. Wenn die Technik dazu führt, dass mehr Urteile veröffentlicht werden, wäre auch dies schon mal ein großer Schritt für die Rechtsfindung.
„Die Chancen von KI in der Justiz“
Abschließend ging es um DAS Thema der letzten Jahre: künstliche Intelligenz. Hier stellte die Referentin unter dem Stichwort „KI in der Justiz – Chancen“ einige der Möglichkeiten dar, die die Technik bieten kann. Der wichtige Punkt des einfachen Zugangs wird natürlich durch die schon erwähnten KI-basierten Chatbots erleichtert. Aber auch eine KI-gestützte Erfolgsabschätzung anhand ähnlich gelagerter Fälle wäre für die Justiz interessant – an einem solchen Tool dürfte die Anwaltschaft noch ein weitaus größeres Interesse haben. Einen ganz wichtigen Punkt sprach sie mit der Möglichkeit an, die Ausbildung des juristischen Nachwuchses mithilfe von VR-Training (mündliche Prüfungen, Zeugenbefragungen usw.) zu verbessern.
UND? WIE KOMMT MAN DA HIN?
Abschließend stellte die Referentin die wichtigsten Punkte vor, die aus ihrer Sicht erforderlich sind, den Weg nicht nur zu beschreiten, sondern auch möglichst ans Ziel zu kommen. Hier steht das Bekenntnis der Politik zum Rechtsstaat ganz vorne, wobei sie zu Recht die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern und bundeseinheitliche Lösungen anmahnte. Ein ganz entscheidender Punkt ist für Frau Otte dabei, dass die Gerichte mehr Einfluss bekommen sollen. Denn diese sind den Justizministerien der Länder, also der Exekutive unterstellt und hängen von ihr daher nicht nur im Hinblick auf Finanzund Personalausstattung ab. Sie scheute sich aber auch nicht, mehr Eigenverantwortung der Richterinnen und Richter zu fordern, wonach es eben nicht reicht, zu sagen, dass man die Fälle im Rahmen der Unabhängigkeit der RichterInnen bearbeiten möchte und mit anderen Dingen bitte möglichst unbehelligt bleiben möge. Dies geht aber natürlich nur, wenn der Dienstherr auskömmliche Investitionen in Personal und Technik bereitstellt.
„Das Bekenntnis der Politik zum Rechtsstaat steht ganz vorne“
In der anschließenden Diskussion ging es unter anderem darum, dass – das war für mich als Zivilrechtler sehr erhellend – ein fruchtbares Feld der Digitalisierung wohl auch der Strafprozess ist, in dem wohl mit relativ einfachen Mitteln sehr viel an Verfahrensbeschleunigung erreicht werden könnte. Sodann brachte ein Teilnehmer den Aspekt auf, dass die Digitalisierung auch dazu genutzt werden kann, das Wissen über den Rechtsstaat in den Schulen zu verbreiten. Dies ist sicherlich einfacher, wenn die Kinder und Jugendlichen nicht mehr Abläufe aus dem vorletzten Jahrhundert nachvollziehen sollen.
Fazit: Das Thema ist gekommen, um zu bleiben, es bleiben aber dicke Bretter zu bohren. Umso wichtiger sind Veranstaltungen wie diese, die dazu dienen, zum einen das Verständnis dafür zu erhöhen, was Digitalisierung eigentlich bedeutet und andererseits nach dem Motto „steter Tropfen höhlt den Stein“ auf allen Ebenen und bei allen Beteiligten langsam, aber sicher eine Bewusstseinsveränderung herbeizuführen, dass sich etwas ändern muss. Und dass man besser aktiv dabei sein sollte. Das gilt im Übrigen auch für die Anwaltschaft. Der Vortrag, bei dem die Begeisterung der Referentin für das Thema und die Energie, mit der sie diese Projekte angeht, auf höchst charmante Weise zum Ausdruck kam, war ein ziemlich großer Tropfen.
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- 6Massenverfahrensassistenz mithilfe von KI, eine Chatbot-Funktion, mit der Informationen aus den Akten extrahiert und zusammengefasst werden können.
- 7Ein Chatbot zur Aufbereitung der Erkenntnismittel in Asylverfahren für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, insbesondere zu Informationen zu Herkunftsländern der Asylsuchenden.
- 8Ein in Entwicklung befindliches Assistenzsystem zur Aufbereitung von Tatbeständen im Asylbereich.
- 9Anonymisierungs- und Leitsatzerstellungs-Kit zur smarten Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen.

