Doppelstandards im Völkerstrafrecht
Warum das Völkerstrafrecht an Glaubwürdigkeit verliert – und was sich ändern muss
VÖLKERRECHTLICHE PRAXIS ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT
Das Programm der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 konnte nie ganz umgesetzt werden. Vor allem den mächtigen Staaten der Erde waren ihre eigenen Interessen immer wichtiger als die universellen Menschenrechte. Dennoch konnten zivilgesellschaftliche Akteure zuletzt viel Gutes im Sinne der konkreten Utopie der Menschenrechte bewirken: einerseits den harten Kern verteidigen wie das Recht, nicht gefoltert oder vergewaltigt zu werden, zugleich aber auch die Vision von lebenswerten Verhältnissen für alle Menschen auf dieser Welt formulieren.

Wolfgang Kaleck | Menschenrechtsanwalt | European Center for Constitutional and Human Rights | https://www.ecchr.eu

Der Al-Salam Turm, in dem die Familie Kiliani untergebracht war
© ECCHR/Chantal Meloni

Der Al-Senidar-Fabrikkomplex in Jemen nach einem Luftangriff der Militärkoalition unter Saudi-Arabien und den VAE
© Mwatana
Dabei erwies sich das Völkerstrafrecht als eine der dynamischsten Materien im Völkerrecht der letzten Dekaden. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) steht für ein zivilisatorisches Versprechen: Schwerste Menschenrechtsverletzungen sollen nicht ungesühnt bleiben – unabhängig von Machtverhältnissen oder geografischer Lage. Doch zwischen normativem Anspruch und realpolitischer Praxis klafft eine Lücke. Der argentinische Rechtswissenschaftler Maximo Langer untersuchte Ende der 2000er-Jahre über 1000 Strafanzeigen aus den fünf westeuropäischen Jurisdiktionen Spanien und Belgien sowie Frankreich, Großbritannien und Deutschland von zivilgesellschaftlichen Akteuren gegen mutmaßliche Straftäter aus der ganzen Welt. Davon richteten sich viele gegen Angehörige von mächtigen Staaten. Rechtlich hätte durchaus die Möglichkeit bestanden, etwa wegen der russischen Kriegsverbrechen in Tschetschenien oder der systematischen Folter der USA in Irak und Afghanistan Strafverfahren in europäischen Staaten einzuleiten. Doch zur Anklage und zur Verurteilung sind nur etwas über dreißig Sachverhalte gelangt, die sich mit Verbrechen in afrikanischen Staaten, Jugoslawien oder Deutschland, im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus, beschäftigten. Das Völkerstrafrecht wird, so der Schluss von Langer, demnach dann angewandt, wenn der politische und ökonomische Schaden gering ist, also vorwiegend gegen Angehörige schwacher Staaten oder bereits aus ihren Machtpositionen ausgeschiedenen Personen. Die mächtigen Rechtsverletzer bleiben unbehelligt. Es herrschen also Doppelstandards im Völkerstrafrecht.
Von Doppelstandards kann allerdings nur gesprochen werden, wenn ansatzweise Konsens über die völkerrechtlichen Regeln, also die Standards, herrscht. Kaum sind diese Worte niedergeschrieben, muss angesichts der ersten Maßnahmen der Trump-Administration, den Sanktionen gegen den IStGH und dem Einfrieren der Finanzierung wichtiger UN-Stellen befürchtet werden, dass die Standards des Völker(Straf-)rechts als Referenzsystem insgesamt verloren gehen.
„Menschenrechte müssen immer wieder neu gegen Widerstände erkämpft werden“
VON NÜRNBERG NACH DEN HAAG
Das Völkerstrafrecht ist ein Kind des 20. Jahrhunderts – geprägt durch die Gräuel des Nationalsozialismus, in Jugoslawien und Ruanda und die rechtshistorischen Meilensteine der Nürnberger Prozesse. Erst 1998 wurde bei der Staatenkonferenz in Rom mit dem Römischen Statut ein ständiger Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) geschaffen. Doch seine Wirkmächtigkeit wird bereits durch das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat und die Absenz mächtiger Staaten wie den USA, Russland und China eingeschränkt. Deutschland etablierte sich als eine der wichtigsten Motoren der Rechtsentwicklung und schuf 2002 mit dem VStGB ein bedeutsames Instrument zur nationalen Verfolgung internationaler Verbrechen nach dem Weltrechtsprinzip.
FORTSCHRITTE UND RÜCKSCHRITTE
Die Bilanz des deutschen Völkerstrafrechts ist durchwachsen. Die Strafverfolgung nach dem VStGB konzentriert sich stark auf nichtstaatliche Akteure mit Terrorismusbezug. Einige Verfahrenskomplexe sind als Erfolg zu werten, etwa die Prozesse gegen syrische Geheimdienstmitarbeiter vor dem OLG Koblenz oder die weltweit erste Verurteilung wegen Völkermord an den Jesid:innen.
Im Januar 2022 wurde der syrische Oberst Anwar R. wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die mediale Resonanz auf dieses Urteil war weltweit gewaltig. Denn erstmals wurde ein (ehemaliger) Funktionär des Assad-Regimes wegen dessen Menschenrechtsverbrechen vor Gericht gestellt und verurteilt.
Das Koblenzer Verfahren steht für eine zunehmende Auseinandersetzung vor allem der deutschen Justiz mit „fernem Unrecht“ auf der Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches, das seit 20 Jahren in Kraft ist. Nach dem anfänglichen Fremdeln der Strafverfolger*innen, welches sich in einer sehr niedrigen Fallzahl in den ersten Jahren nach Inkrafttreten ausdrückte, werden Völkerstrafverfahren mittlerweile zur Routine auch in Deutschland. Dennoch agiert die deutsche Strafverfolgung mit spürbarer Vorsicht gegenüber westlichen Verbündeten. So wurden Verfahren gegen US-amerikanische Verantwortliche wegen Folter in Guantánamo ebenso eingestellt wie Ermittlungen zu israelischen Militäraktionen in Gaza. Allerdings steuern internationale Institutionen wie die UN und der IStGH aufgrund der obstruktiven Haltung der Trump-Administration auf eine möglicherweise existenzgefährdende Krise zu. Zum zusätzlichen Legitimationsverlust trägt auch bei, dass nach Auffassung der französischen Regierung wie des designierten Bundeskanzlers Friedrich Merz der Haftbefehl des IStGH gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu auf europäischem Boden ohne Beachtung bleiben soll.
„Dennoch agiert die deutsche Strafverfolgung mit spürbarer Vorsicht gegenüber westlichen Verbündeten“
Die Krise wird dadurch verstärkt, dass in den letzten Jahren vermehrt Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit insgesamt den nationalen politischen Zielen untergeordnet wurden, wie sich jüngst auch in der deutschen Debatte um die Verschärfung des Asyl- und Migrationsrechts zeigt. Es zeigt sich ein Paradigma, in dem Deutschland und andere wirtschaftlich und politisch starke Staaten nur dann als Advokaten des Völkerrechts agieren, wenn es ihren eigenen Interessen dient. So werden Verstöße gegen Menschenrechte besonders dann verurteilt, wenn sie durch politische Gegnerstaaten vorgenommen werden. Das führt zu einem massiven Glaubwürdigkeitsverlust, welcher wiederum die Legitimität und Integrität der gesamten Völkerrechtsordnung gefährdet. In der Vergangenheit führte dies vor allem im Globalen Süden zu der Wahrnehmung, Menschenrechte seien primär ein machtpolitisches Instrument westlicher Staaten. Gleichzeitig werden diese Asymmetrien von autoritären Staaten gezielt ausgenutzt. So verweisen etwa Russland, die Türkei und China auf Doppelstandards in der westlichen Völkerstrafrechtspraxis, um eigene Rechtsbrüche zu rechtfertigen.
BLINDER FLECK: UNTERNEHMENSVERANTWORTUNG
Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zeigt sich im Umgang mit Unternehmen. Obwohl die menschenrechtlichen Schäden globaler Lieferketten – von Enteignungen über Zwangsarbeit bis hin zu Umweltzerstörung – gut dokumentiert sind, bleiben strafrechtliche Konsequenzen in Deutschland weitgehend aus.
Während in Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Schweden bereits gegen Unternehmen wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen oder Technologieexporten an autoritäre Regime ermittelt wurde, hat die deutsche Justiz trotz vorhandener Beweislage kaum gehandelt. Fälle wie der Export von Überwachungssoftware nach Syrien oder Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien blieben lange folgenlos, obwohl sie im Kontext des Jemen- Krieges völkerrechtlich hochproblematisch sind.
REALITÄT, VERANTWORTUNG UND HOFFNUNG
Menschenrechte müssen immer wieder neu gegen Widerstände erkämpft werden – insbesondere dort, wo sie mächtige Interessen berühren. Das Völkerstrafrecht ist kein perfektes, aber ein unverzichtbares Instrument zur Verteidigung dieser Rechte. Es kann nur dann Wirkung entfalten, wenn es frei von Doppelstandards angewandt wird.
Was also Deutschland betrifft, so hängt die Legitimität seines nationalen Völkerstrafrechts maßgeblich von einer konsequenten und gleichmäßigen Anwendung ab. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, bedarf es Reformen auf gesetzgeberischer Ebene, wie der Stärkung der Rechte von Betroffenen, sowie der Ausstattung der Ermittlungsbehörden mit ausreichenden Ressourcen. Schließlich ist ein grundlegender politischer Paradigmenwechsel erforderlich: Nur wenn der universelle Anspruch der Menschenrechte unabhängig von geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen ernst genommen wird – auch gegenüber westlichen Partnerstaaten oder wirtschaftlich einflussreichen Akteuren – kann das Völkerstrafrecht seiner normativen Funktion gerecht werden.

Protest für (Lieferketten-)Gerechtigkeit von Überlebenden und Familienangehörigen wegen eines Fabrik brands bei Ali Enterprises
© NTUF/AEFFAA/ECCHR
Die internationale Rechtsordnung braucht Reformen – nicht nur strukturell, sondern vor allem im politischen Selbstverständnis und der Praxis. Nur wenn auch westliche Demokratien bereit sind, das Recht über ihre Interessen zu stellen, kann der universalistische Anspruch der Menschenrechte glaubhaft aufrechterhalten werden. Andernfalls bleibt der Vorwurf der Instrumentalisierung bestehen – mit gravierenden Folgen für die globale Rechtskultur weit über das Völkerstrafrecht hinaus.