Editorial – Heft 03 2024

Liebe Leserinnen und Leser, herzlich willkommen im Berliner Anwaltsblatt

Die Erfahrungen in Polen und Ungarn haben auf ganz unterschiedliche Weise gezeigt, dass die Resilienz der rechtsstaatlichen Institutionen und gerade die Unabhängigkeit der Justiz als wesentlicher Baustein eines demokratischen Staatswesens in hohem Maße schützenswert ist. Bei unserem Berliner Anwaltsessen vom vergangenen November richtete Prof. Dieter Grimm sein Augenmerk daher auf die rechtliche Möglichkeit einer „Systemtransformation“ und warnte: „Es ist wichtiger, sich um das Wahlrecht zu kümmern, als um Parteiverbote.“

Uwe Freyschmidt | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Strafrecht | Vorsitzender des Berliner Anwaltsvereins

Die PIS-Partei in Polen habe mit 36 Prozent der Stimmen eine absolute Mehrheit erhalten, FIDES in Ungarn mit 53 Prozent der Stimmen mehr als Zweidrittel der Parlamentsmandate (eine verfassungsändernde Mehrheit). „Beide Parteien verdanken die Möglichkeit der Systemveränderung dem dort geltenden Wahlrecht.“ Doch das Wahlrecht, so mahnte Grimm, ist in Deutschland in einem (einfachen) Wahlgesetz geregelt, nicht im Grundgesetz, und somit durch einfache Mehrheit abänderbar.

Die gleiche Anfälligkeit für einen „Systemwechsel“ besteht auch bei der Organisation des Bundesverfassungsgerichts und der Wahl der Verfassungsrichter. Die in Deutschland geltenden Regelungen setzen einer poli tischen Instrumentalisierung der Justiz im Ernstfall keine ausreichenden Hindernisse entgegen. Denn die Gerichtsorganisation und die Wahl der Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter können mit einfacher Mehrheit geändert werden. § 6 Abs. 1 BVerfGG, der allein die Zweidrittelmehrheit bei der Wahl der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts vorschreibt, kann mit einfacher Mehrheit geändert und das Quorum für die Richterwahl abgeschafft werden. Auch die Schaffung neuer Richterstellen oder Spruchkörper wäre durch einfache Gesetzesänderung möglich, denn auch die Zahl der Richter und Richterinnen ist nicht auf Verfassungsebene verankert.

Die Resilienz der Justiz erfordert eine Verankerung der Richterwahl und der wesentlichen Eckpfeiler der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Verfassungsebene. Nur so kann im Ernstfall ausgeschlossen werden, dass Institutionen wie die Verfassungsgerichtsbarkeit durch eine „systemverändernde“ einfache Mehrheit ausgehöhlt werden (vgl. DAV-Stellungnahme SN 50/2022). Wir Anwältinnen und Anwälte müssen weiter für eine Stärkung unserer rechtsstaatlichen Institutionen werben!

Nicht zuletzt sind wir Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte die wichtigsten Kommunikatoren gegenüber der Bevölkerung in Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Es ist unsere Aufgabe, deren wesentliche Voraussetzungen zu erklären. Wir im Berliner Anwaltsverein tun dies unter anderem beim Projekt „Anwälte gehen in die Schule!“ (wenn auch Sie hierzu einmal bereit sind, schreiben Sie uns: mail@berliner-anwaltsverein.de).

Wir leben in bewegten Zeiten. Es ist wichtig, auch außerhalb der Mandatstätigkeit und außerhalb der eigenen privaten „Bubble“ das Gespräch zu suchen und unsere Kompetenz einzubringen. Daher plädiere ich dafür, die rechtspolitischen Entwicklungen stets genau zu hinterfragen und im Berliner Anwaltsverein dazu Foren anzubieten, in denen nicht nur schlagwortartig argumentiert, sondern den Dingen auf den Grund gegangen wird. Unsere Veranstaltungsreihe „Zuhören – mitreden!“ ist eine wunderbare Möglichkeit, diesem Anspruch gerecht zu werden.

Heft 03 | 2024 | 73. Jahrgang