Editorial – Heft 07 / 08 | 2023
Liebe Leserinnen und Leser, herzlich willkommen im Berliner Anwaltsblatt
Ein Kuriosum im deutschen Strafrecht stellt die Norm des § 142 StGB – Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, im Volksmund: Unfallflucht – dar. Die Regelung nimmt in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte eine Ausnahmestellung im deutschen Strafrecht ein.
Uwe Freyschmidt | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Strafrecht | Vorsitzender des Berliner Anwaltsvereins
Denn während grundsätzlich die Schadenherbeiführung unter Strafe gestellt wird, wird mit § 142 StGB das Nachtatverhalten nach der Schadenherbeiführung sanktioniert. Die Norm ist in ihrer gewachsenen Komplexität für die betroffenen Unfallbeteiligten – und erst recht für nichtdeutsche Verkehrsteilnehmer, die vergleichbar differenzierte Pflichten aus anderen Ländern nicht kennen – schwer verständlich. Sie dient nicht der Verkehrssicherheit, sondern ausschließlich der Beweissicherung hinsichtlich zivilrechtlicher Ansprüche. Deren Schutz mit der „Keule des Strafrechts“ zu gewährleisten ist jedoch nur in Extremfällen sinnvoll. Dies kann der Fall sein, wenn es um erhebliche Personenschäden geht, bei Unfällen mit Sachschäden erscheint die Notwendigkeit einer strafrechtlichen Sanktion jedoch zweifelhaft. Folgerichtig wird in anderen europäischen Ländern danach differenziert, ob ein Unfall mit Personenschaden oder ein solcher mit Sachschaden vorliegt. Bei Letzterem entfällt die Wartepflicht am Unfallort jedenfalls dann, wenn keine feststellungsbereiten Personen anwesend sind, der Unfall muss dann lediglich nachträglich gemeldet werden.
Es ist daher zu begrüßen, dass der Bundesjustizminister eine Reform des § 142 StGB in Erwägung zieht, einschließlich der Herabstufung von Fällen der Unfallflucht bei reinen Sachschäden auf eine bloße Ordnungswidrigkeit. Kritische Stimmen hierzu sind bereits aus Polizei und Justiz zu vernehmen. Die Anwaltschaft – genauer: der Deutsche Anwaltverein – begrüßt jedoch diese Initiative (vgl. ausführlich DAV-Stellungnahme Nr. 33/2023).
Doch es geht noch mehr Entkriminalisierung im Verkehr: Zu Recht ist auch die Einordnung der „Beförderungserschleichung“ als Straftatbestand in der Diskussion. Verfolgung und Ahndung dieses Verhaltens als Straftat verursachen unverhältnismäßig hohe Kosten, belasten die Justiz sowie die Ermittlungsbehörden unnötig. Auch hier sollte das Strafrecht – bekanntlich Ultima Ratio – verschlankt werden. Der DAV plädiert seit Jahren für die Herabstufung zur Ordnungs widrigkeit.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich einen schönen – von Verkehrsunfällen ungetrübten – Sommer!