Editorial – Heft 12/2022

Liebe Leserinnen und Leser, herzlich willkommen im Berliner Anwaltsblatt

„Senatorinnen Kipping und Kreck regen Räumungsmoratorium an“, so heißt es in einer Pressemitteilung vom 14.10.2022 der Berliner Senatsverwaltung für Justiz. „Berlinerinnen und Berliner sollten in den aktuellen Krisen vor dem Verlust der Wohnungen durch eine Räumung geschützt werden. (…) Die Justizverwaltung unterstützt die Anregung und hat sich deshalb mit einem Schreiben der beiden Senatsverwaltungen an die Gerichtspräsidentinnen und Gerichtspräsidenten in der Stadt gewandt, um sie für die abzeichnende Notsituation zu sensibilisieren.“

Die Sorge um die Finanzierbarkeit von Wohnung und Heizung für viele Menschen in unserer Stadt ist berechtigt. Doch zu dem Brief der Senatorinnen haben wir Fragen: Was genau ist die Erwartung an Gerichtspräsidentinnen und Gerichtspräsidenten, die einen solchen Brief der Senatorinnen erhalten – welche Handlungen sollen daraus folgen? Welche gesetzliche Grundlage gibt es für ein solches Moratorium – oder regen die Senatorinnen hier ein ungesetzliches „Räumungsmoratorium“ an? Warum genau soll die Justiz im Rahmen von Räumungsverfahren, deren Abläufe, Rechtsmittel etc. gesetzlich vorgegeben sind, „sensibilisiert“ werden? Halten die Senatorinnen es tatsächlich für die Aufgabe von Gerichtspräsidentinnen, Bitten der Senatorinnen an Richterinnen und Richter weiterzuleiten?

„Wir wollen die Richterinnen und Richter und die Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher darauf aufmerksam machen, dass viele Bürgerinnen und Bürger vor herausfordernden Zeiten stehen. Damit die Zuständigen angesichts der großen Notlage die aktuell notwendigen und angemessenen Entscheidungen treffen können“, so die Justizsenatorin.

Mit welcher Erwartung geschieht dies? Sollten Richterinnen und Gerichtsvollzieher in rechtlich weitgehend zwingend vorgeprägten Verfahren nach den Erwartungen der Politik vorgehen? Wie genau sollen Sie ohne Verletzung ihrer Dienstpflichten und unter Anwendung des Rechts durch „angemessene Entscheidungen“ ein „Räumungsmoratorium“ bewirken?

Auch der Londoner Bürgermeister Sadiq Kahn hat Hilfen für Bürgerinnen und Bürger und ein Räumungsmoratorium angeregt – und zwar gegenüber der zuständigen Regierung und dem Parlament. Dies ist der einzig rechtsstaatlich richtige Weg – Einflüsterungen, Empfeh lungen und „Anregungen“ zu Justizentscheidungen von Senatorinnen an die Justiz sind auch in Krisenzeiten inakzeptabel.

Nun ein herzlicher Glückwunsch: Zwei der drei Friedensnobelpreisträger 2022 kommen aus der Anwaltschaft: Neben der Menschenrechtsorganisation Memorial (ehemals Moskau, jetzt überwiegend im Exil) wurde das Center for Civil Liberties, gegründet von der ukrainischen Menschenrechtsanwältin Oleksandra Metwijtschuk, und der Menschenrechtsanwalt Ales Bjaljazki (Belarus) ausgezeichnet. Die Arbeit von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten in Belarus und in der Russischen Föderation zur Verteidigung der Menschenrechte ist beeindruckend (die staatlichen Drangsalierungen sind hingegen bedrückend). Sie erinnern auch uns an die wichtige Rolle und Verantwortung der Anwaltschaft bei der Verteidigung von Freiheit und Bürgerrechten. Ich wünsche Ihnen schöne Feiertage und kommen Sie gut ins neue Jahr!

Ihr Uwe Freyschmidt

Uwe Freyschmidt | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Strafrecht | Vorsitzender des Berliner Anwaltsvereins
Exklusiv für Mitglieder | Heft 12/2022 | 71. Jahrgang