Ein kleines Wunder
Berlin-Moabit – Kriminalgericht, Saal 217, Freitag, 20. Juni, 9.35 Uhr – letzter Verhandlungstag
Für jemanden, der nach Ansicht der Presse und der überwiegenden Zahl seiner Kollegen auf absolut verlorenem Posten stand, hatte Rechtsanwalt Rocco Eberhardt allerbeste Laune. Feeling Good pfeifend betrat er den altehrwürdigen Saal 217 und ließ seinen Blick zufrieden über die mit dunklem Holz getäfelten Wände bis zur Richterbank schweifen.

Florian Schwiecker ist 1972 in Kiel geboren und hat viele Jahre in Berlin als Strafverteidiger gearbeitet. Während seiner Tätigkeit für ein internationales Wirtschaftsunternehmen in den USA entstand die Idee zu seinem ersten Thriller „Verraten“. Seit einigen Jahren ist er im Management eines führenden globalen Unternehmens im Bereich künstlicher Intelligenz in der Medizin tätig und hält Vorträge dazu in der ganzen Welt. Zusammen mit Michael Tsokos schreibt er die mittlerweile fünf Bände umfassende Bestseller-Krimi-Reihe rund um den Strafverteidiger Rocco Eberhardt und den Rechtsmediziner Doktor Justus Jarmer. Florian Schwiecker empfiehlt regelmäßig Krimis in seiner Thriller-Kolumne auf freundin.de.
Roccos ohnehin schon gute Stimmung besserte sich sogar noch, als er seinen schärfsten Kritiker, und in dieser Sache auch gewissermaßen seinen Gegner, am Tisch der Verteidigung stehen sah. Rechtsanwalt und Notar Doktor von Klosterwitz, von der Presse auch gerne als der Anwalt der Reichen und Schönen bezeichnet, schien gerade einigermaßen erfolglos Tobias Baumann, Roccos besten Freund und Privatdetektiv, in ein Gespräch verwickeln zu wollen.
„Hallo zusammen“, begrüßte Rocco beide und warf seine Robe lässig über den Stuhl. Dann legte er sein iPad zentral vor sich auf den Tisch. Im Unterschied zu den anderen Prozessbeteiligten war er zwischenzeitlich komplett auf die digitale Akte umgestiegen, was ihm den von den meisten Anwälten genutzten Pilotenkoffer ersparte.
„Sie sehen ja aus, als wäre Ihnen eine Laus über die Leber gelaufen“, sagte Rocco mit hochgezogenen Augenbrauen und einem breiten Lächeln auf den Lippen und musterte den Notar von oben bis unten. „Und das an diesem schönen Sommertag.“
Von Klosterwitz schien Roccos gute Laune überhaupt nicht nachvollziehen zu können. Er erwartetete wohl eher Verzweiflung, zumindest aber Demut, räusperte sich und wandte sich dann mit ernstem Ton an Rocco.
„Ich kann nicht verstehen, warum Sie sich hier so entspannt geben. Und Ihre gute Laune, werter Kollege Eberhardt, wird Ihnen das Gericht auch spätestens in sechs Stunden vermiesen. Denn Ihr Mandant wird für sehr lange Zeit einfahren. So sagt man das doch in Ihren Kreisen, oder?“
Von Klosterwitz macht eine Pause, vermutlich, um seinem Vortrag eine gewisse Dramatik zu verleihen. Mit einem Ton, der Rocco an die Standpauke eines Lehrers erinnerte, der gerade einen Schüler beim Rauchen auf dem Jungenklo erwischt hatte, fuhr er fort. „Und wissen Sie auch, warum Ihr Mandant schon bald gesiebte Luft atmen wird?! Weil er es verdient hat, der kleine Gauner. Und ich sage Ihnen noch was. Sie haben das auch verdient. Eine krachende Niederlage wird das für Sie werden. Von wegen Berlins bester Strafverteidiger. Schiffbruch werden Sie erleiden, Herr Kollege. Schiffbruch!“
Mit diesen Worten beendete er seine Ansprache, blickte noch einmal abschätzig zu Rocco, ehe er sich auf dem Absatz umdrehte, offensichtlich, um Staatsanwältin Tina Marfurt zu begrüßen, die gerade mit fünf Leitzordnern bewaffnet in der Tür des Gerichtssaals erschien.
„Sympathischer Kerl, das muss man ihm lassen“, raunte Tobias Baumann Rocco zu.
„Ja, durch und durch“, erwiderte dieser vollkommen ungerührt und fügte mit einem vielsagenden Blick hinzu: „Aber leider, leider nicht ganz up to date, was die Beurteilung des Falles betrifft.“
„Nun, das wollen wir ihm nicht vorhalten. Er weiß es halt einfach nicht besser“, sagte Tobi.
„Noch nicht“, schloss Rocco und eilte Staatsanwältin Marfurt zur Hilfe, der gerade die Hälfte ihrer Aktenordner zu entgleiten drohte.
Dankbar lächelte sie ihn an und warf einen Blick auf das iPad auf Roccos Tisch.
„Ich wünschte, der Staat würde uns mit den gleichen Mitteln ausstatten“, sagte sie schnaufend. „Dann würden wir tonnenweise Papier sparen und damit sogar ein bisschen was für unsere Umwelt tun.“
Rocco nickte zustimmend, nahm ihr die oberen drei Aktenordner ab und drückte sie von Klosterwitz in die Hand, der unbeholfen passiver Teil des Geschehens war.
„Geschätzter Kollege, vielleicht sind Sie so nett und helfen unserer Staatsanwältin mit den Akten“, schlug Rocco gespielt jovial vor, ehe er verschwörerisch hinzufügte: „Und möglicherweise können Sie ihr ja auch noch den ein oder anderen Tipp geben, wie sie ihr Plädoyer halten soll. Schließlich wird meinem Mandanten vorgeworfen, das Eigentum Ihrer Mandanten aus deren Schließfächern gestohlen zu haben.“ Er lächelte den vollkommen überforderten von Klosterwitz an, der, die Akten balancierend, gar nicht mehr so souverän aussah, wie er sich das wohl gewünscht hätte. Zu allem Überfluss erhoben sich jetzt auch noch einige der Journalisten, die die ersten beiden Reihen des zwischenzeitlich bis auf den letzten Platz besetzten Gerichtssaals eingenommen hatten, um mit ihren Handykameras die ungewöhnliche Szene zu dokumentieren.
Rocco zwinkerte Staatsanwältin Marfurt noch einmal zu und sah jetzt auch einen fragenden Ausdruck auf ihrem Gesicht. Offensichtlich konnte sie ebenso wenig wie von Klosterwitz seine gute Laune nachvollziehen. Nach einhelliger Meinung der Prozessbeobachter, die, wie Rocco wusste, auch die Meinung der Staatsanwaltschaft spiegelte, würde sein Mandant vorrausichtlich noch heute zu einer jahrelangen Gefängnisstrafe verurteilt werden. Allerdings wussten diese allesamt auch nicht, was Rocco wusste.
Acht Wochen zuvor
2. KAPITEL
Berlin-Charlottenburg, Fasanenstraße 72, Kanzlei Eberhardt, Montag, 14. April, 10.45 Uhr
„Ich bin hier, weil ich gerne verhaftet werden möchte.“
Rocco zog die Augenbrauen hoch und fragte sich für einen Moment, ob er sich verhört hatte. Zweifelnd blickte er Andreas Malchow an und musterte den jungen Mann, der ihm an dem langen, gläsernen Besprechungstisch seiner Kanzlei gegenübersaß, von oben bis unten. Höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, mit hellblauen Jeans, weißen Sneakern und einem rosafarbenen Hoodie von American Eagle blickte er Rocco aus hellblauen Augen an. Ein offener Blick. Geradezu durchdringend. Aber nicht unsympathisch.
Vor allem aber sah er nicht so aus, als würde er scherzen. „Und was genau hat Sie zu dieser Entscheidung veranlasst?“, fragte Rocco, um Sinn in diesen doch sehr ungewöhnlichen Wunsch zu bringen.
„Aufmerksamkeit“, erwiderte dieser offen. „Und Wiedergutmachung.“ „Und dafür wollen Sie sich verhaften lassen?“, hakte Rocco nach, weil er nach wie vor keine Ahnung hatte, worum es hier eigentlich ging.
„Unter anderem. Aber nicht nur.“ „Und wofür sollte die Polizei Sie genau verhaften?“ Ohne darauf zu antworten, zog Malchow die aktuelle Ausgabe des meistgelesenen Hauptstadtblattes aus seinem hellgrauen Rucksack und legte sie vor Rocco auf den Tisch. In großen schwarzen Lettern, unterstrichen mit einer fetten roten Linie, war da zu lesen:
„Berliner Polizei tappt weiter im Dunkeln. Spektakulärer Bankraub bleibt seit einer Woche ungeklärt. Täter sind mit Millionenwerten entkommen.“ Unterhalb der Überschrift war das leicht unscharfe Bild eines Tresorraums mit Bankschließfächern zu sehen, von denen einige aufgebrochen waren.
„Das waren Sie?“, fragte Rocco und verstand immer weniger, was hier gerade vor sich ging.
„Ja, das war ich.“
„Aber doch nicht alleine?“
„Das spielt keine Rolle“, erwiderte Malchow vollkommen ruhig.
„Und warum wollen Sie sich jetzt stellen?“
„Das sagte ich doch bereits. Aufmerksamkeit und …“
„Ja, ja, Wiedergutmachung“, vollendete Rocco den Satz. „Das habe ich schon verstanden. Aber ich habe noch nicht begriffen, warum das Ganze. Sieht ja so aus, als wenn Sie bis jetzt unerkannt geblieben sind.“
„Stimmt“, entgegnete Malchow. „Aber nur bis jetzt. Was mir tatsächlich auch eine diebische Freude bereitet.“ Dann lehnte er sich leicht über den Tisch und fügte mit leiser Stimme, ganz so als mache er sich Sorgen, jemand könnte ihn belauschen, hinzu: „Und das hat folgenden Hintergrund.“
In den nächsten dreißig Minuten erzählte er Rocco eine der wohl ungewöhnlichsten Geschichten, die dieser je gehört hatte. Rocco kam nicht umhin, mit zunehmender Zeit mehr Respekt für die unglaubliche Chuzpe dieses jungen Mannes zu empfinden. Als Malchow fertig war, lehnte er sich selbstbewusst in seinem Stuhl zurück, schlug lässig ein Bein über das andere und grinste Rocco an.
„Und, sind Sie dabei?“
Rocco dachte kurz nach. Wenn er sich auf dieses Spiel einließ, würde er für eine ganze Zeit lang die Strafverfolgungsbehörden im Dunkeln tappen lassen. Ja sogar an der Nase herumführen. Aber das war vollkommen okay. Denn als Strafverteidiger war es nicht seine Aufgabe, die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft zu erledigen. Ganz im Gegenteil: Er war im Rahmen der Gesetze nur seinem Mandanten verpflichtet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und wenn er ehrlich war, fand er das Vorhaben doch sehr unterstützenswert.
„Also gut“, sagte er nickend. „Ich bin dabei. Aber bevor wir die Polizei rufen, müssen wir noch einige Sachen klarstellen. Und vorbereiten. Denn wenn wir das so durchziehen, wie Sie sich das gedacht haben, müssen wir mit Widerstand und Angriffen rechnen. Und gänzlich unbeschadet werden Sie auch nicht aus der Sache herausgehen.“
„Das, lieber Herr Eberhardt, ist es ja wohl wert.“
3. KAPITEL
Berlin-Charlottenburg, Fasanenstraße 72, Kanzlei Eberhardt, Montag, 14. April, 14.20 Uhr
Hauptkommissarin Jenny Adams blätterte zum zweiten Mal durch ihre Notizen und blickte abwechselnd erstaunt von Rocco Eberhardt zu Andreas Malchow. Offensichtlich versuchte sich die Beamtin einen Reim darauf zu machen, was die beiden ihr gerade erzählt hatten. Rocco hatte das Gefühl, dass sie sich ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut fühlte. Sie sah sich sorgfältig in seinem Büro um, und er fragte sich, ob sie nach einer versteckten Kamera Ausschau hielt.
„Das ist jetzt wirklich ausgesprochen ungewöhnlich“, sagte sie schließlich. „Und ob Sie sich damit einen Gefallen tun, weiß ich nicht. Aber das ist mir jetzt auch egal. Sie sind volljährig und haben mit Rechtsanwalt Eberhardt auch noch einen Rechtsbeistand an Ihrer Seite.“
„Ganz genau“, sagte Malchow und nickte ihr zu. „Und jedes einzelne Wort, das ich Ihnen erzählt habe, ist wahr.“
„Dann lassen Sie es mich noch einmal kurz zusammenfassen, damit ich auch wirklich sicher bin, dass ich nichts falsch verstanden habe“, sagte Adams skeptisch.
„Aber gerne, das sollten Sie unbedingt tun“, stimmte Rocco Eberhardt ihr zu.
„Also, Sie, Herr Malchow, haben einen Tunnel von einer Garage aus, die Sie zu diesem Zweck angemietet haben, unter der Straße bis zum Tresorraum der privaten Sicherheitsfirma gegraben. Ob und von wem Sie dabei unterstützt wurden, wollen Sie nicht mit uns teilen.“
„Genau.“
„Dann sind Sie am vergangenen Sonntagmorgen als letztem Schritt Ihres Plans durch die Außenwand in den Tresorraum eingedrungen …“ „… wo ich dann fünf der über vierhundert Schließfächer aufgebrochen habe“, fügte Malchow hinzu. „Genau so war es.“
„Um dann mit dem Inhalt der Schließfächer, die Rechtsanwalt und Notar Doktor von Klosterwitz für seine Mandanten dort angemietet hatte, zu entkommen.“
„Soweit Sie sich auf das Entkommen beziehen, haben Sie ganz offensichtlich Recht.“
Hauptkommissarin Adams sah Rocco zweifelnd an. „Und was genau erwartet Ihr Mandant sich von diesem Geständnis?“
„Aufmerksamkeit“, erwiderte Rocco schmunzelnd. „Und Wiedergutmachung.“
„Das heißt, Sie möchten jetzt auch das Diebesgut übergeben?“, fragte die Beamtin und blickte wieder zu Malchow.
„Dazu werden wir uns nicht äußern“, antwortete Rocco. „Ich werde Ihren Mandanten vorläufig festnehmen müssen“, entgegnete Adams.
„Darüber könnten wir jetzt leidlich streiten, ob die Voraussetzungen von Paragraf einhundertsiebenundzwanzig, der die vorläufige Festnahme regelt, auch wirklich vorliegen“, sagte Rocco und klopfte auf die vor ihm auf dem Tisch liegende aktuelle Ausgabe der Strafprozessordnung. „Aber das wird nicht nötig sein. Mein Mandant weist ausdrücklich darauf hin, dass er dem nicht widersprechen wird.“
„So ist es“, entgegnete Malchow. „Und weil ich mit dem Gedanken gespielt habe, mich abzusetzen, liegt nach meiner Einschätzung der Haftgrund der Fluchtgefahr vor. Oder mit anderen Worten, Sie müssen mich auf jeden Fall festnehmen, bevor ich es mir noch anders überlege und mich aus dem Staub mache.“
„Sie wollen mich doch verarschen“, warf Hauptkommissarin Adams wütend ein. „Sie gestehen vollkommen ohne Not eine Tat ein. Einen Bankeinbruch, der nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen möglicherweise nie aufgeklärt worden wäre. Und dann lassen Sie sich auch noch freiwillig verhaften. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.“
„Abgesehen davon, dass es sich hier um eine private Sicherheitsfirma mit Schließfächern handelt, es also technisch gesehen ein Einbruch in deren Räume war und kein Einbruch in eine Bank, und dass wir kein Wort darüber verloren haben, ob und was sich in den Schließfächern befindet, und dass mein Mandant sich nicht verhaften lässt, sondern Sie ihn vorläufig festnehmen werden, so dass Sie dann über die Staatsanwaltschaft in Ruhe einen Haftbefehl wegen Fluchtgefahr beantragen können, ist das absolut zutreffend“, entgegnete Rocco, ehe er hinzufügte: „Und nein, wir wollen Sie keineswegs auf den Arm nehmen.“
„Da waren Millionen drin“, erwiderte die Hauptkommissarin. „Das hat uns doch von Klosterwitz versichert.“
„Nun, er muss es ja wissen“, entgegnete Rocco, ohne weiter darauf einzugehen.
Adams schüttelte den Kopf und drehte sich zu der uniformierten Polizistin um, die bis dahin ruhig auf der Stirnseite des Besprechungstisches gestanden hatte.
„Na gut, wie die Herren wollen. Polizeihauptmeisterin Brockhoff, nehmen Sie bitte Herrn Malchow vorläufig wegen des dringenden Tatverdachts auf Einbruchdiebstahl fest.“
„Soll ich ihm Handfesseln anlegen?“, fragte die Uniformierte. „Unbedingt“, erwiderte Malchow schmunzelnd und streckte seine Hände aus. „Es besteht ja Fluchtgefahr.“
4. KAPITEL
Berlin-Moabit – Kriminalgericht, Saal 217, Freitag, 20. Juni, 12.35 Uhr
„Bevor wir jetzt zu den Schlussplädoyers kommen“, wandte sich Richter Benedikt an die Prozessbeteiligten, „werden wir noch einmal für eine Mittagspause unterbrechen. Wir sehen uns dann in einer knappen Stunde, um 13.30 Uhr, wieder hier.“ Damit erhob er sich und verschwand mit den beiden Schöffen im Richterzimmer, das durch eine Tür mit dem Verhandlungssaal verbunden war.
Andreas Malchow, der nach wie vor offiziell in Untersuchungshaft war, wurde von einem Wachtmeister in einen Nebenraum gebracht. Rocco stand ebenfalls auf, blickte sich kurz um, musste aber nicht lange suchen. Rechtsanwalt und Notar Doktor von Klosterwitz kam schnurstracks aus dem Besucherbereich, von dem aus er die gesamte Verhandlung verfolgt hatte, auf ihn zu.
„So, lieber Eberhardt“, sagte er spöttisch. „Noch einmal kurz Mittagessen und dann geht es für Ihren Mandanten für Jahre in den Knast.“
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Rocco nonchalant. „Denn jetzt, lieber Herr Kollege von Klosterwitz, werden wir beide uns einmal miteinander unterhalten.“
„Warum sollte ich das tun, da habe ich weiß Gott Besseres vor.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, erwiderte Rocco und beugte sich nach vorne. Er wollte sichergehen, nicht von den noch zahlreich im Gerichtssaal befindlichen Personen gehört zu werden. Leise flüsterte er von Klosterwitz etwas zu. Von einer Sekunde auf die andere fielen dessen Mundwinkel nach unten und sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Von dem eben noch so selbstbewussten Juristen war nicht mehr viel übrig. Als Rocco nach knappen zwei Minuten fertig war, ging er einen Schritt zurück und sah von Klosterwitz direkt in die Augen.
„Und, haben wir einen Deal?“, fragte er.
„Das, das weiß ich nicht“, stotterte dieser unsicher. „Da muss ich erst mit meinen Mandanten Rücksprache halten.“
„Müssen Sie nicht“, hielt Rocco dagegen. „Wenn Sie jetzt nicht darauf eingehen, gibt es keinen Deal. Und mein Mandant wird nach der Mittagspause die ganze Wahrheit über den Inhalt der Schließfächer offenbaren. Auch darüber, wem die Inhalte wirklich gehörten.“
„Das können Sie nicht tun“, fuhr von Klosterwitz ihn in einem vergeblichen Versuch, seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen, fort. „Das werde ich nicht zulassen.“
„Gut“, sagte Rocco völlig ruhig. „Dann haben wir keinen Deal.“ Er zog seine Robe aus und hängte sie über den Stuhl. Ihm war natürlich völlig klar, dass von Klosterwitz tatsächlich mit seinen Mandanten würde sprechen müssen, ehe er etwas so Bedeutendes entscheiden könnte. Er hatte aber einfach Spaß daran, den aufgeblasenen Fatzke ein wenig zu ärgern. Deshalb ließ er sich auch etwas Zeit, ehe er auf seine Uhr blickte.
Mit versöhnlichem Ton sagte er: „Na gut, ich will ja kein Unmensch sein. Schließlich hängt Ihr guter Ruf und möglicherweise auch Ihre Zulassung als Anwalt mit an der Sache. Wir machen deshalb Folgendes. Ich werde ins Anwaltszimmer gehen. Und wenn Sie sich doch noch entscheiden, die Sache auf meine Art zu klären, dann kommen Sie in zehn Minuten dazu. Sind Sie auch nur eine Minute zu spät da, dann haben Sie und Ihre Mandanten eine einmalige Chance verpasst. Und das, lieber Kollege, um Ihre eigenen Worte zu benutzen, wäre dann ja wohl Ihr Schiffbruch.“
Mit diesen Worten griff er sich sein iPad und verließ den Verhandlungssaal.
5. KAPITEL
Berlin-Moabit – Kriminalgericht, Saal 217, Freitag, 20. Juni, 15.59 Uhr
Offensichtlich immer noch erstaunt, welche Wendung das Verfahren in den letzten zweieinhalb Stunden genommen hatte, stand Richter Benedikt hinter seiner Bank und blickte in den Verhandlungssaal. Mit fester, ruhiger Stimme sagte er: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. In der Strafsache gegen Andreas Malchow, geboren am 13. Oktober 1998, wird der Angeklagte wegen Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von dreihundertsechzig Tagessätzen zu je zwanzig Euro verurteilt.“
Richter Benedikt machte eine Pause und blickte durch seine randlose Lesebrille auf den weißen Zettel vor sich, auf dem er sich Notizen zu seinem Urteilsspruch gemacht hatte. Er zog ein weißes Stofftaschentuch aus seiner Tasche und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Rocco vermutete, dass der Vorsitzende ganz sicher sein wollte, kein Fehlurteil zu produzieren, weil er irgendetwas übersehen hatte. Er hatte fast ein bisschen Mitleid mit dem Richter. Der abrupte Wechsel in der Beurteilung des Falles musste ihn ordentlich durcheinandergebracht haben. Aber das war notwendig und Teil von Roccos Verteidigungsstrategie. Und schließlich würde sich alles zum Guten wenden. Zumindest für eine ganze Reihe von Menschen.
„Eine Bestrafung wegen Einbruchdiebstahls kommt in Ermangelung von Diebesgut nicht in Frage.“ Mit einem Ausdruck, dessen Missbilligung keinem im Saal entging, blickte er zu Rechtsanwalt und Notar Doktor von Klosterwitz, der in der ersten Reihe des Zuschauerraums Platz genommen hatte und so aussah, als würde er am liebsten im Erdboden versinken.
„Wie uns der Vertreter der zunächst angeblich Geschädigten glaubhaft durch die Vorlage dreier eidesstattlicher Versicherungen vermittelt hat, waren entgegen der ursprünglichen Annahme sämtliche von dem Angeklagten aufgebrochenen Schließfächer leer, so dass die Voraussetzungen des Paragrafen zweihundertdreiundvierzig Strafgesetzbuch nicht vorliegen. Denn auch wenn der Angeklagte, wie er ja eingestanden hat, die Schließfächer aufgebrochen hat, hat er keinen Diebstahl begehen können, da diese ja leer waren.“
Jetzt blickte der Richter zu Rocco und Andreas Malchow. Offensichtlich war ihm klar, dass die beiden hier ihr ganz eigenes Spiel gespielt hatten. Allerdings wusste er nicht, welches, und hatte aufgrund der Sachlage auch keinerlei Handhabe, etwas anderes zu beweisen.
„Ein versuchter Diebstahl scheidet ebenfalls aus, da auch dessen Voraussetzungen nicht nachgewiesen werden konnten.“
Richter Benedikt wischte sich erneut mit seinem Taschentuch über die Stirn, ehe er seufzend hinzufügte: „Schließlich entfällt auch eine Strafbarkeit wegen Hausfriedensbruch, weil die private Sicherheitsfirma Tresorum, ebenfalls nach Vorlage einer entsprechenden Urkunde durch Doktor von Klosterwitz, in letzter Minute einen entsprechenden Antrag zurückgezogen hat.“
Noch bevor der Vorsitzende dazu ansetzen konnte, die weiteren Bestandteile seines Urteilsspruchs zu verkünden, sprangen die Zuschauer im Saal auf und sprachen heillos durcheinander. Die Vertreter der Presse tippten wie wild auf ihren Smartphones, um das Ergebnis dieses unglaublichen Urteilsspruchs an ihre Redaktionen zu übermitteln oder direkt über die sozialen Medien zu teilen.
Rocco hingegen blickte mit einem breiten Lächeln zu seinem Mandanten, der während des gesamten Prozesses ruhig neben ihm gesessen hatte.
„Gut gemacht“, sagte er nur. Der erwiderte Roccos Lächeln. „Sie aber auch.“
6. KAPITEL
Berlin-Charlottenburg, Fasanenstraße 72, Kanzlei Eberhardt, Freitag, 20. Juni, 19.22 Uhr
Ein paar Stunden später, nachdem Andreas Malchow, ohne auf die Interviewwünsche der Presse einzugehen, als freier Mann, lediglich mit einer Geldstrafe behaftet, das Gericht verlassen hatte, waren Tobi und Rocco noch in Roccos Kanzlei gefahren. Dort angekommen ließ Rocco sich in einen der komfortablen weißen Lederstühle fallen, die um den langen gläsernen Besprechungstisch in seinem Büro standen. Er war zufrieden, dass dieses doch sehr ungewöhnliche Strafverfahren noch gut zu Ende gegangen war.
Er goss Tobi und sich jeweils ein großes Glas Wein ein und prostete seinem besten Freund zu. Tobi lächelte und prostete Rocco gleichfalls zu, ehe er ihn fragte:
„Jetzt sag mir doch bitte noch einmal, was genau du von Klosterwitz im Saal ins Ohr geflüstert hast.“
„Oh“, erwiderte dieser vergnügt und grinste über das ganze Gesicht. „Das war eigentlich ganz einfach. Ich habe ihm nur gesagt, dass in den Schließfächern neben vier Millionen Euro in bar auch ausreichend Unterlagen waren, die auf ihre Besitzer hindeuteten.“
„Allesamt Politiker“, sagte Tobias Baumann kopfschüttelnd.
„Allesamt Politiker“, bestätigte Rocco. „Und zwar mit Verantwortung für die Bau- und Wohnungspolitik in dieser Stadt.“
„Das Geld haben sie als Bestechung erhalten?“, fragte Tobias weiter.
„Das kann ich dir nicht einmal sagen, auch wenn vieles dafürspricht. Aber dass es nicht versteuert war, das steht fest. Und das habe ich von Klosterwitz auf den Kopf zugesagt.“
„Wusste er denn, dass seine Mandanten das Geld illegal erhalten hatten?“, hakte Tobi nach.
„Auch davon habe ich keine Ahnung“, sagte Rocco. „Kann sein, kann auch nicht sein. Vermutet haben dürfte er es wohl schon. Denn es ist eher ungewöhnlich, Schließfächer bei einer privaten Firma und nicht einer zugelassenen Bank anzumieten.“
„Warum?“, wollte Tobi wissen.
„Oh, das ist ganz einfach. Seit Anfang 2021 müssen Kredit- und Finanzinstitute dem Finanzministerium alle Schließfächer melden, die eröffnet werden“, erwiderte Rocco.
„Auch, was sich darin befindet?“, hakte Tobi nach.
„Nicht automatisch. Aber die Behörden können unter bestimmten Voraussetzungen den Inhalt überprüfen und gegebenenfalls darauf zugreifen.“
„Und das wäre dann für von Klosterwitz‘ Mandanten fatal gewesen“, schlussfolgerte Tobi.
„Ganz genau. Also blieb ihm nur ein Ausweg. Und den“, meinte Rocco amüsiert, „hat er dann auch ergriffen. So kam es, dass nach dem Rückruf mit seinen Mandanten diesen gerade noch rechtzeitig eingefallen ist, dass da wohl doch nichts in ihren Schließfächern aufbewahrt wurde.“
Tobi schmunzelte.
„Und was geschieht jetzt mit dem Geld, das es nie gegeben hat?“
„Keine Ahnung, ich weiß von keinem Geld“, erwiderte Rocco und zwinkerte seinem Freund zu. „Aber nach allem, was ich gehört habe, ist soeben eine Zuwendung in Millionenhöhe auf dem Konto einer wohltätigen Organisation eingegangen, die Familien finanziell unterstützt, die aufgrund der verfehlten Politik ihre Wohnung verloren haben. Woher das Geld für diese Spenden kommt, weiß niemand.“
„Tja“, schloss Tobi und griff sich einen weiteren engelsförmigen Keks. „Dann werden wir es wohl als das Einzige bezeichnen müssen, was es ist. Ein kleines Wunder.“