Erbausschlagung im europäischen Rechtsverkehr

Urteil des EuGH vom 2. Juni 2022 (C-617/20)

Das Urteil des EuGH vom 2. Juni 2022 (C-617/20) beleuchtet wesentliche Aspekte der Erbausschlagung im EU-Ausland. Es klärt die Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer Erbausschlagung, die von einem Gericht eines Mitgliedstaats erklärt wurde. Dabei wird besonders hervorgehoben, worauf Erben in verschiedenen EU-Ländern achten müssen, um eine rechtswirksame Erklärung abzugeben.

„Das Urteil des EuGH vom 2. Juni 2022 (C-617/20) beleuchtet wesentliche Aspekte der Erbausschlagung im EU-Ausland“

Małgorzata Gemen | polnische Rechtsanwältin und Gründerin der Anwaltskanzlei Adwokat Małgorzata Gemen mit dem Sitz in Stettin, | Polen | www.kanzlei-gemen.de

Die Europäische Erbrechtsverordnung und die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten

Die Europäische Erbrechtsverordnung (EuErbVO) sieht vor, dass jeweils nur der Mitgliedstaat für die Regelung eines Erbfalls zuständig ist, in dem der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Art. 4ff. EuErbVO). Mit dieser Konzentration der Zuständigkeit sollen ein Wettlauf um den günstigsten Gerichtsstand und widersprüchliche Gerichtsentscheidungen vermieden werden. Eine Ausnahme gilt für die Erbausschlagung. Die Erbausschlagung kann der Erbe auch in dem Mitgliedstaat erklären, in dem er selbst seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 13 EuErbVO) und nicht nur im Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers (Art. 4 EuErbVO). Dies ist eine sehr sinnvolle Ausnahme, für die sich die Rechtspraxis eingesetzt hatte.

Fehlende Mitteilungsregelung in der EuErbVO

In der EuErbVO fehlt jedoch eine Regelung, wie eine solche Erbausschlagung den Behörden des für das Nachlassverfahren zuständigen Mitgliedstaats zur Kenntnis gebracht werden soll. Die Ausschlagenden sollten gemäß Erwägungsgrund 32, Satz 3 der EuErbVO,

„das Gericht oder die Behörde, die mit der Erbsache befasst ist oder sein wird, innerhalb einer Frist, die in dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht vorgesehen ist, selbst davon in Kenntnis setzen, dass derartige Erklärungen abgegeben wurden“.

Das mag funktionieren, wenn das Nachlassgericht den Ausschlagenden über seine Zuständigkeit über den Nachlass informiert hat. Andernfalls wird der Ausschlagende aber in der Regel überfordert sein festzustellen, welcher ausländischen Behörde er die Erbausschlagung mitteilen soll.

Das EuGH-Urteil

Im vom EuGH entschiedenen Fall (C-617/20) zeigte sich diese Problematik deutlich. Das Nachlassgericht Bremen hatte zwei in den Niederlanden ansässige Miterben kontaktiert. Diese hatten die Erbausschlagung (innerhalb der sechsmonatigen Frist des § 1944 Abs. 3 BGB) bei dem in den Niederlanden zuständigen Gericht erklärt. Das Nachlassgericht Bremen erhielt die Ausschlagung aber erst auf nochmalige Rückfrage bei den betreffenden Miterben – zunächst nur als Kopie ohne Übersetzung, danach als Kopie mit deutscher Übersetzung – und erst deutlich nach Ablauf der sechsmonatigen Ausschlagungsfrist. Das Nachlassgericht hielt daher die Ausschlagung für verfristet.

Im Beschwerdeverfahren legte das OLG Bremen dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren die Frage vor, ob die formgerechte Erbausschlagung in den Niederlanden auch ohne Zugang beim zuständigen deutschen Nachlassgericht für die Wirksamkeit der Ausschlagung genüge. Der EuGH formulierte die Vorlagefrage in eine Frage nach der Formwirksamkeit um. Denn darunter versteht der EuGH auch die Frage des Zugangs und die Einhaltung der Frist durch den Zugang bei der ausländischen Behörde, also alle Verfahrensvorschriften.

„Nach Auffassung des EUGH obliegt es den betroffenen Erben, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um das zuständige Nachlassgericht von der Ausschlagung der Erbschaft in Kenntnis zu setzen. Diese Obliegenheit ist jedoch nicht fristgebunden“

Der Tenor des Urteils lautet:

„Die Art. 13 und 28 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses sind dahin auszulegen, dass eine von einem Erben vor einem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts abgegebene Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft als hinsichtlich ihrer Form wirksam gilt, wenn die vor diesem Gericht geltenden Formerfordernisse eingehalten worden sind, ohne dass es für diese Wirksamkeit erforderlich wäre, dass sie die Formerfordernisse erfüllt, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht beachtet werden müssen.“

In Bezug auf den o.g. Fall (C-617/20) genügte demnach die Einhaltung des anwendbaren Erbrechts (hier also deutsches Recht) oder des Rechts am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Ausschlagenden (hier also niederländisches Recht).

Nach Auffassung des EUGH obliegt es den betroffenen Erben, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um das zuständige Nachlassgericht von der Ausschlagung Ausschlagung der Erbschaft in Kenntnis zu setzen. Diese Obliegenheit ist jedoch nicht fristgebunden.

Fazit

Die Entscheidung des EuGH (C-617/20) ist von erheblicher Bedeutung für die Praxis der Erbausschlagung im europäischen Rechtsverkehr. Sie bringt Klarheit darüber, dass eine formgerechte Erbausschlagung auch dann wirksam ist, wenn sie lediglich den Anforderungen des Rechts am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Ausschlagenden genügt, selbst wenn die Erklärung dem zuständigen Nachlassgericht nicht „rechtzeitig“ zugeht. Dies stärkt die Rechtssicherheit für Erben, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat haben als dem des Erblassers.

Diese Entscheidung unterstreicht jedoch die Notwendigkeit einer weiteren Harmonisierung der Mitteilungspflichten zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten. Eine ergänzende Regelung in der EuErbVO könnte die Effizienz und Transparenz im grenzüberschreitenden Nachlassverfahren weiter verbessern. Für die Rechtspraxis ist die EuGH-Entscheidung ein wichtiger Schritt hin zu einer kohärenteren und anwenderfreundlicheren Gestaltung des europäischen Erbrechts.

Heft 09 | 2024 | 73. Jahrgang