Freiheit – mit Navi oder mit Datenschutz?

Die Dinner Speech zum Berliner Anwaltsessen 2024

Beim Berliner Anwaltsessen 2024 hielt Peter Schaar die Dinner Speech – der Datenschutzaktivist und Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit von 2003 – 2013. Heute ist er skeptisch geworden im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Datenschutzgesetzgebung und der föderalen Behördenpraxis.

Einen weiten historischen Bogen spannte Peter Schaar in seiner Dinner Speech zum Berliner Anwaltsessen 2024: Es begann 1890 mit dem „wunderbaren“ Aufsatz der Juristen Samuel D. Warren und Louis D. Brandeis im Harvard Law Review: Angesichts der bahnbrechenden Erfindung einer neuen Technologie – der Kamera – legten sie dar, dass es nun möglich sei, den privaten Bereich einer Wohnung durch ein Fenster zu dokumentieren. Dies ergab ganz neue Fragen für Eigentum, Privatheit, urheberrechtliche Aspekte – und die Rechtsfigur „Schutz der Information“. Die Geburtsstunde des Datenschutzes.

Christian Christiani | BAV

Damals wie heute, so Schaar, gehe technische Innovation der juristischen voraus: „Technologie ist Treiber des Rechts“. Die Entwicklung des modernen Datenschutzes seit ca. 1960 brachte die ersten Datenschutzgesetze. Das war noch in einer analogen Welt, in der zentrale Datenverarbeitung ohne Bildschirmarbeitsplätze erfolgte. Schaar erinnerte an die in Deutschland „besonders engagierte Debatte“. Diese sei angesichts der Ausbreitung der Computer geführt worden und überparteilich und juristisch innovativ verlaufen. „Danach“, so Schaar, „hat sich 30 Jahre eigentlich nichts mehr getan“.

1983, Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Recht auf informationelle Selbstbestimmung hinsichtlich persönlicher Daten – Menschen sollten sich ohne Furcht vor staatlicher Registrierung entfalten können. Doch es ging nicht nur um reale Datenverarbeitung, so Schaar, sondern Teil der Diskussion war auch die „gefühlte Datenverarbeitung“. „Wer befürchten muss, dass er bei einer Demo registriert wird, wird diese Grundrechte nicht mehr wahrnehmen. Ich nenne das den Chilling Effect.“ Danach war nicht nur der Missbrauch, sondern auch die Datenverarbeitung als solche als Eingriff ins Persönlichkeitsrecht zu sehen – ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. „Datenverarbeitung sollte eigentlich überhaupt nicht stattfinden“, so die damalige These.

Durch den Eingriff ins Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung brauchte es nun Gesetze, die sich um die Datenbearbeitung kümmern. Nicht allgemeine Regeln im BGB, sondern spezielle Datenschutzgesetze und eine „Gesetzgebungsflut“ bereichsspezifischer Gesetze mit Datenschutznormen. „Ist das wirklich zweckmäßig?“ Schaar kritisierte, vielfach sei schon unklar, welches Gesetz im Einzelfall überhaupt anwendbar ist. Hierdurch werde nicht die erstrebte Rechtsklarheit geschaffen, sondern eher eine Rechtsunsicherheit. Und vor allem: „Datenschutz wird als Verhinderungsinstrument angesehen. Ich gehöre zunehmend zu den Kritikern. Allein, Bedenken zum Datenschutz vorzubringen, reicht aus, um irgendwas totzumachen. Wie kommen wir da wieder runter?“

In unserer heutigen Informationslandschaft sei die Erforderlichkeit nicht mehr leicht zu beantworten. Dies erläuterte Schaar an der Frage, welche Informationen über Schüler*innen für ein Zeugnis „erforderlich“ sein könnten.

Doch während es bis in die 90er-Jahre IT für fest bestimmte Aufgaben gab, stehen wir nun woanders: „Im 21. Jahrhundert gilt: Wo Daten vorhanden sind, bieten sie neue Möglichkeiten, Erkenntnisse zu nutzen. Datenanalyse erfolgt aus unterschiedlichen Quellen. Jetzt werden Ergebnisse generiert aus Daten, die für völlig andere Zwecke verarbeitet wurden.“

„Im 21. Jahrhundert gilt: Wo Daten vorhanden sind, bieten sie neue Möglichkeiten, Erkenntnisse zu nutzen“

„Stimmt es eigentlich überhaupt, dass sich Menschen unfreier fühlen, wenn Daten über sie erhoben werden?“, fragte Schaar und erläuterte seine Zweifel: „Viele Menschen fühlen sich in überwachten Tiefgaragen sicherer als in nicht videoüberwachten.“ Es sei doch auch eine Beeinträchtigung, wenn man bestimmte kriminalitätsbelastete Orte nicht angstfrei betreten könne. „Es mag Menschen geben, die sich in einer Überwachungssituation unwohl fühlen und andere, die sich darin wohlfühlen“, so Schaar. „Manch einer, der über ein Navi verfügt, fühlt sich freier als jemand, der nicht über ein Navi verfügt.“ „Wir müssen fragen: Wie können wir diesen Grundrechtsaspekt erhalten, aber die anderen Aspekte berücksichtigen? Wir müssen Technik, nicht nur Recht, so gestalten, dass die möglichen Konflikte berücksichtigt sind.“ Als Beispiel nannte er „Privacy by Design“ und die Möglichkeit z. B. der Anonymisierung, um die Eingriffstiefe zu verringern.

„Wir müssen Verfahren finden, die über die Landesgrenze hinaus wirken. Wir leisten uns in jedem Bundesland ein Datenschutzrecht, eine Datenschutzbehörde, Gesetze, die z. T. nicht kompatibel sind.“ Sein Beispiel: die Landeskrankenhausgesetze mit unterschiedlichen Datenschutzvorschriften. Dagegen schlug Schaar Mehrheitsentscheidungen von Datenschutzbehörden vor, also die in anderen Ländern üblichen Gremienentscheidungen, während in Deutschland jede Behörde ihre eigene Entscheidung treffe. „Wir müssen fragen, ob der Weg, immer weiter ins Detail zu gehen, sinnvoll ist.“

„Ist der Datenschutz im 21. Jahrhundert angekommen? Nur bedingt. Ich erwarte von Datenschützern, dass sie aus ihrer Binnensicht heraustreten und sich damit beschäftigen, dass Datenschutz mehr Widerwillen erweckt als vor zehn oder 20 Jahren.“

Heft 01/02 | 2025 | 74. Jahrgang