„Für die Verfassungsstaatlichkeit muss gearbeitet werden.“

Kurzbericht zur Dinner Speech beim Berliner Anwaltsessen von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Grimm.

Das Berliner Anwaltsessen ist – in diesem juristischen Kreis zu erwarten – auch ein Abend des Wortes. Neben dem Vorsitzenden des Berliner Anwaltsvereins, Rechtsanwalt Uwe Freyschmidt, begrüßte auch Justizsenatorin Dr. Felor Badenberg die Gäste des Abends und brachte ihre Freude zum Ausdruck, zum ersten Mal bei diesem wichtigen Treffen der Berliner Legal Community teilzunehmen. Angesichts des Hamas-Überfalls auf Israel mahnte sie zur Solidarität mit Israel und angesichts der antisemitischen Demonstrationen auf Berliner Straßen zur Solidarität mit den Jüdinnen und Juden in Deutschland und zum Engagement gegen Antisemitismus.

Die vollständige Rede von Prof. Dieter Grimm können Sie in einer der kommenden Ausgaben des Berliner Anwaltsblatt lesen | BAV

Der prägende und legendäre Rechtswissenschaftler und ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Grimm hielt die Dinner Speech beim Berliner Anwaltsessen 2023: „Das Grundgesetz – immer noch eine Erfolgsgeschichte?“

Ausgangspunkt war für Prof. Grimm der außerordentliche Erfolg des Grundgesetzes, mit der zeitweisen Rede vom „Verfassungspatriotismus“ – und des Bundesverfassungsgerichts mit seinen hohen Zustimmungsraten in der Bevölkerung. Grimm beschrieb das 40-jährige Jubiläum 1989 – kurz vor der Wiedervereinigung – als den Höhepunkt. Er beschrieb die Verfassungsdebatte im Zuge der Wiedervereinigung – Beitritt gemäß Art. 23 GG oder Neukonstitution gemäß Art. 146 GG? Letztlich, so Grimm, ebenso eine Stellvertreterdebatte wie die Hauptstadtdebatte im Hinblick auf die größere Frage nach der Zukunft eines wiedervereinigten Deutschlands und der damit einhergehenden Transformation. Ob mit dem Verzicht auf die Neukonstitution eine Chance vergeben worden sei und die heute wieder schärfere Ost-West-Spannung damit hätte vermieden werden können, das sei allerdings schwer zu beurteilen.

Im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft richtete Grimm den Blick auf die Bestrebungen populistischer Kräfte, eine „Systemtransformation“ herbeizuführen und warnte: „Es ist wichtiger, sich um das Wahlrecht zu kümmern als um Parteiverbote.“ Die PIS-Partei in Polen habe mit 36 % der Stimmen eine absolute Mehrheit erhalten, FIDES in Ungarn mit 53 % der Stimmen mehr als Zweidrittel der Parlamentsmandate (eine verfassungsändernde Mehrheit). „Beide Parteien verdanken die Möglichkeit der Systemveränderung dem dort geltenden Wahlrecht.“ Doch das Wahlrecht ist in Deutschland in einem (einfachen) Wahlgesetz geregelt, nicht im Grundgesetz. Die Umrechnung von Stimmen in Mandate müsse unbedingt auf Verfassungsebene befestigt werden, so Grimm, und Ähnliches gelte auch für die Wahl der Verfassungsrichter. 20 Jahre, so habe ein Politikwissenschaftler geschrieben, würde es dauern, eine Systemtransformation in einem Verfassungsstaat zu erreichen – was aber, wenn zuerst beim Verfassungsgericht und dessen Besetzung angefangen wird?

Angesichts der „offenkundigen Verfassungsverletzungen“ in Polen sei aber entscheidend, „ob eine Partei damit bei ihrer Bevölkerung durchkommt oder ob es im Hinblick auf künftige Wahlen als zu kostspielig erscheint“. In Deutschland sieht Grimm die „außerrechtlichen Voraussetzungen“ für die Verfassungsstaatlichkeit immer noch als „sehr stabil“ an, „die Befolgungsbereitschaft der Politik für verfassungsgerichtliche Urteile ist außerordentlich hoch“. Doch wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit immer stärker unter Druck gerate, „muss dafür gearbeitet werden“ – gerade von der Anwaltschaft.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 01/02 | 2024 | 73. Jahrgang