Grenzüberschreitende Sicherungsmaßnahmen

Vergleichende Betrachtung des unionsrechtlichen, britischen und schweizerischen Regelungsrahmens zur grenzüberschreitenden Durchsetzung einstweiliger Maßnahmen

I. ARBEITSHYPOTHESE

Eine Schweizer Gesellschaft (Gesellschaft A), die Beteiligungen an österreichischen Gesellschaften hält und über ein Bankkonto im Vereinigten Königreich verfügt, schließt mit einer griechischen Gesellschaft (Gesellschaft B) einen Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen in Griechenland. Die Dienstleistung wird ordnungsgemäß erbracht; dennoch verweigert Gesellschaft A die Zahlung der vereinbarten Vergütung und leitet Maßnahmen zur Übertragung ihrer Vermögenswerte ein, mit dem Ziel, die Befriedigung der Forderung von Gesellschaft B zu vereiteln. Gesellschaft B wendet sich an die griechischen Gerichte, die für die Streitent scheidung zuständig sind, und erwirkt eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz, mit der die Arrestpfändung (Sicherungspfändung) sämtlicher beweglicher und unbeweglicher Vermögenswerte der Gesellschaft A sowie sämtlicher Ansprüche gegenüber Dritten zur Sicherung der Forderung der Gesellschaft B angeordnet wird.

Vicky Athanassoglou | Rechtsanwältin | zugelassen in Griechenland und Deutschland | Schiedsrichterin | Mediatorin | Managing Partner bei VAP LAW OFFICES | www.vaplaw.eu

Marios Petropoulos | Rechtsanwalt | LL.M. | Doktorand | Zertifizierter Mediator | Senior Associate bei VAP LAW OFFICES | www.vaplaw.eu

In der Folge ist Gesellschaft B gehalten, die Anerkennung und Vollstreckung dieser griechischen Entscheidung über einstweilige Maßnahmen in drei verschiedenen Rechtsordnungen zu betreiben: (a) in der Schweiz (Sitz); (b) in Österreich (Beteiligungen); (c) im Vereinigten Königreich (Bankkonto).

Die grenzüberschreitende Vollstreckung einstweiliger Maßnahmen stellt ein besonders komplexes Thema des internationalen Zivilverfahrensrechts dar, da sie die Anerkennung der Entscheidung durch die Justizbehörden des Staates erfordert, in dem sich das Vermögen befindet. Diese Komplexität hat zu unionsrechtlichen und internationalen Bemühungen um Harmonisierung geführt, mit dem Ziel, die justizielle Zusammenarbeit zu fördern und die Effektivität des Rechtsschutzes zu gewährleisten.

II. UNIONSRECHTLICHER RAHMEN: DIE VERORDNUNG (EU) NR. 1215/2012

Die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 bildet den zentralen Rechtsrahmen für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen innerhalb der Europäischen Union. Der Kern der Regelung findet sich in Artikel 39, der die automatische Vollstreckbarkeit von Entscheidungen vorsieht. Eine Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen und dort vollstreckbar ist, wird in den übrigen Mitgliedstaaten ohne ein zusätzliches Verfahren der Vollstreckbarerklärung in gleicher Weise vollstreckt. Die Abschaffung des Exequaturverfahrens hat somit die Hindernisse bei der grenzüberschreitenden Durchsetzung von Ansprüchen erheblich reduziert und zu einer wesentlichen Zeit- und Kostenersparnis geführt.

„Sicherungsmaßnahmen innerhalb oder außerhalb der EU erfordern eine klare Strategie“

Allerdings weist die Behandlung einstweiliger Maßnahmen in der Verordnung eine wesentliche Unterscheidung auf. Wird eine einstweilige Maßnahme von dem Gericht erlassen, das gemäß den Artikeln 4 bis 26 der Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, so gilt diese Maßnahme als „Entscheidung“ im Sinne der Verordnung. Folglich unterliegt sie dem allgemeinen Regime des freien Verkehrs von Entscheidungen und wird in den übrigen Mitgliedstaaten automatisch vollstreckt.

Die komplexeste Dimension betrifft das Sonderregime des Artikels 35. Diese Vorschrift erlaubt es einer Partei, bei einem Gericht eines Mitgliedstaates Sicherungs- oder einstweilige Maßnahmen zu beantragen, auch wenn die Gerichte eines anderen Mitgliedstaates für die Entscheidung in der Hauptsache international zuständig sind. Während jedoch die von dem Gericht der Hauptsache angeordneten Maßnahmen dem freien Verkehr unterliegen, werden die auf Grundlage des Artikels 35 erlassenen Maßnahmen in anderen Mitgliedstaaten weder anerkannt noch vollstreckt. Erwägungsgrund 33 der Verordnung stellt klar, dass die Wirkung dieser Maßnahmen „nach dieser Verordnung auf das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats beschränkt sein sollte“. Dies bedeutet, dass eine auf Artikel 35 gestützte einstweilige Maßnahme lediglich territorial begrenzte Wirkung entfaltet und nicht grenzüberschreitend auf Grundlage der Verordnung durchgesetzt werden kann.

„Die Wahl des Gerichtsstands ist zentral für die grenzüberschreitende Vollstreckung“

Dieses zweigleisige System verdeutlicht, dass der Erfolg des Schutzes einer grenzüberschreitenden Forderung in hohem Maße von der strategischen Wahl des Gerichts abhängt. Beantragt eine Partei einstweilige Maßnahmen bei dem für die Hauptsache zuständigen Gericht, so können diese Maßnahmen innerhalb der EU frei zirkulieren. Geht es hingegen um die Sicherung von Vermögenswerten in einem bestimmten Mitgliedstaat, in dem die Hauptsache nicht anhängig ist, muss sich der Antragsteller auf das nationale Recht dieses Staates stützen, ohne die Verordnung für eine grenzüberschreitende Anerkennung in Anspruch nehmen zu können.

III. DER RECHTSRAHMEN DES VEREINIGTEN KÖNIGREICHS NACH DEM BREXIT

Infolge des Brexits ist das Vereinigte Königreich seit dem 1. Januar 2021 nicht mehr Vertragspartei der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012. Gleichzeitig beantragte es den erneuten Beitritt zum Lugano-Übereinkommen von 2007, welcher jedoch von der Europäischen Kommission abgelehnt wurde. Die Kommission begründete dies damit, dass eine Teilnahme am Lugano-Regime eine enge wirtschaftliche Integration mit der EU sowie ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen voraussetzt, welche nicht mehr gegeben seien.

Das Vereinigte Königreich ist jedoch dem Haager Übereinkommen von 2005 über Gerichtsstandsvereinba rungen beigetreten und jüngst auch dem Haager Über einkommen von 2019 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, das am 1. Juli 2025 in Kraft getreten ist. Hinsichtlich des Übereinkommens von 2005 bietet dieses einen Rahmen für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, jedoch nur dann, wenn die Streitigkeit auf einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung beruht. Zwar stellt es das zentrale Instrument dar, seine Anwendbarkeit ist jedoch durch erhebliche Ausnahmen – etwa bei Verbraucher- oder Arbeitsrechtssachen – eingeschränkt.

Das Übereinkommen von 2019 schafft demgegenüber einen strukturierteren Rahmen für die Vollstreckung von Entscheidungen zwischen den Vertragsstaaten. Gleichwohl schließen beide Übereinkommen einstweilige Maßnahmen und vorläufige Anordnungen ausdrücklich vom sachlichen Anwendungsbereich aus. Folglich kann eine von einem Gericht der EU erlassene Anordnung zur Siche rung von Vermögenswerten (freezing order) im Vereinigten Königreich auf Grundlage dieser Übereinkommen weder anerkannt noch vollstreckt werden.

Mangels eines anwendbaren Übereinkommens erfolgt die Vollstreckung ausländischer Entscheidungen im Vereinigten Königreich nach den Regeln des englischen Common Law. Das Common Law verlangt, dass eine Entscheidung „final and conclusive“ (endgültig und rechtskräftig) ist und sich auf eine „definitive sum of money“ (bestimmte Geldsumme) bezieht. Nach der englischen Rechtsprechung gilt eine Entscheidung dann als „final and conclusive“, wenn sie im Ausgangsgericht endgültig ist und nicht mehr in der Sache selbst überprüft werden kann; sie muss eine solche Wirkung entfalten, dass die unterlegene Partei daran gehindert wird, das gleiche Verfahren im Ursprungsstaat erneut einzuleiten. Folglich fallen einstweilige Anordnungen (injunctions), einschließlich Sicherungsmaßnahmen, nicht unter dieses Regime und können auf der Grundlage des Common Law nicht vollstreckt werden. Vielmehr ist die Einleitung einer neuen Klage („fresh claim“) vor den englischen Gerichten erforderlich, ein Verfahren, das als eine Art neues, zugleich kostspieligeres Exequatur fungiert.

Ergänzend kann im Vereinigten Königreich ein Antrag auf Erlass einer Anordnung zur Sicherung von Vermögenswerten (freezing orders), bekannt als Mareva injunctions, gestellt werden. Ihre Rechtsgrundlage findet sich in Section 37 des Senior Courts Act 1981 sowie in den Regeln der Civil Procedure Rules (CPR). Für ihren Erlass muss der Antragsteller zwei zentrale Voraussetzungen erfüllen: (a) das Vorliegen einer „good arguable case“ (schlüssigen Anspruchsgrundlage) und (b) den Nachweis eines „real risk of dissipation“ (konkreten Risikos der Vermögensverschiebung).

IV. DER RECHTSRAHMEN DER SCHWEIZ: DAS LUGANO-ÜBEREINKOMMEN VON 2007

Im Gegensatz zur unsicheren Lage zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit bleibt der Rechtsrahmen zwischen der EU und der Schweiz stabil und vorhersehbar. Die grenzüberschreitende Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen richtet sich nach dem Lugano-Übereinkommen von 2007, das die EU mit der Schweiz, Island und Norwegen verbindet. Dieses Übereinkommen ist funktional dem Brüssel-Ia-Regime (Verordnung Nr. 44/2001) vergleichbar und bietet ein kohärentes und wirksames System für den freien Verkehr von Entscheidungen. Das Vollstreckungsverfahren in der Schweiz unterscheidet sich jedoch vom automatischen System der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012, da es ein vorgelagertes Anerkennungsverfahren (exequatur) vorsieht. Das bedeutet, dass eine in einem EU-Mitgliedstaat ergangene Entscheidung zunächst in der Schweiz für vollstreckbar erklärt werden muss, bevor ihre Durchsetzung erfolgen kann.

V. PRAKTISCHE STRATEGIEN – SCHLUSSFOLGERUNG

Die vergleichende Analyse der drei Rechtsrahmen verdeutlicht die wesentlichen Unterschiede, die jeder Rechtspraktiker bei der Entwicklung seiner Verfahrensstrategie berücksichtigen muss. Während die EU die automatische Anerkennung eingeführt hat, bleibt das Regime für einstweilige Maßnahmen komplex. Demgegenüber hat der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Unionsrechtsordnung erhebliche Lücken geschaffen, insbesondere im Bereich einstweiliger Maßnahmen. Die Schweiz bietet hingegen – trotz ihres Status als Drittstaat – durch das Lugano-Übereinkommen einen stabileren und berechenbareren Rahmen.

„EU oder Drittstaat? Der Standort der Vermögenswerte bestimmt die Geschwindigkeit“

Die Wahl des Gerichtsstands gewinnt somit entscheidende Bedeutung für die grenzüberschreitende Vollstreckung von Entscheidungen. Die Vollstreckung einstweiliger Maßnahmen ist schwieriger und zeitaufwendiger geworden, was eine sorgfältige strategische Analyse erforderlich macht. Als verlässliche Alternative erweist sich nach wie vor die internationale Schiedsgerichtsbarkeit, deren Entscheidungen weltweit auf Grundlage des New Yorker Übereinkommens von 1958 anerkannt werden.

Heft 11 | 2025 | 74. Jahrgang