„Hier gilt die StVO!“

Von kriminellen Vereinigungen und dem Prüfungsmaßstab des Kammergerichts

Am 19. Mai 2024 war es wieder so weit: Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Richter- und Anwaltschaft im Dialog: Aktuelle Rechtsprechung zum Verkehrsstraf- und OWi-Recht“ brachte uns Richter am Kammergericht Urban Sandherr auf den aktuellen Stand der Rechtsprechung im Verkehrsstrafrecht. Mit „uns“ ist dabei nicht nur die Anwaltschaft gemeint. Zahlreiche (Instanz-)Richterinnen und Richter waren ebenfalls erschienen. Allein aufgrund der wertvollen Hinweise von Herrn Sandherr, wie es in der Instanz idealerweise nicht laufen sollte, wenn aus richterlicher Sicht eine Urteilsaufhebung vermieden werden soll, dürfte die vom AK Verkehrsrecht organisierte Veranstaltung ein voller Erfolg gewesen sein. Doch auch die Anwaltschaft profitierte von dem Abend. Zum einen wurde die Erwartungshaltung, die mit der Veranstaltungsüberschrift „Richter- und Anwaltschaft im Dialog“ geweckt wird, mehr als erfüllt, weil es tatsächlich zu einem Dialog auch über streitige Themen kam – und zwar in einem Safe space außerhalb der Hauptverhandlung, wo eine Diskussion über persönliche juristische Ansichten sowohl für die Richterschaft (Stichwort Befangenheit) als auch für die Anwaltschaft (Stichwort Verteidigungsstrategie) selten möglich ist. Zum anderen hilft der Vortrag von Herrn Sandherr, aus anwaltlicher Perspektive die strategische Ausrichtung in der Instanz- und
Rechtsmittelverteidigung zu optimieren.

Dr. Eda Tekin | Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht | www.strafrechtsbuero.com

75 PROZENT ERFOLGREICHE ANWALTLICHE REVISIONEN? KLIMAKLEBER UND § 113 StGB ERMÖGLICHEN TRAUMQUOTE

Der Vortrag von Herrn Sandherr begann mit einer bemerkenswerten Zahl: 75 Prozent aller anwaltlichen Revisionen zum Kammergericht in den sogenannten Klimakleber- Fällen waren bisher erfolgreich. Das Raunen und Tuscheln, das nach Nennung dieses Prozentsatzes in den Räumlichkeiten des Berliner Anwaltsvereins in der Littenstraße deutlich zu vernehmen war, nahm erst mit dem Hinweis, bisher habe das Kammergericht in vier Klimakleber-Fällen entschieden, in drei Fällen seien erst instanzliche Urteile aufgehoben worden, ab.

„Die als ,Berliner Spezialität‘ bezeichnete grundsätzliche Anwendbarkeit von § 113 StGB könnte einmal mehr durch Berlin manifestiert sein“

Die Entscheidung, um die es schwerpunktmäßig ging, war erwartungsgemäß der Beschluss des Kammergerichts vom 16. August 2023 (3 ORs 46/23) und die Frage zur Anwendbarkeit des § 113 StGB in den sogenannten Klimakleber-Fällen. Die Entscheidung wurde auch bundesweit viel beachtet. Nicht nur wegen der Konkretisierung der Voraussetzungen einer potenziellen Strafbarkeit nach § 113 StGB und der präzisen Segelanweisung des Kammergerichts, die eine „revisionsfeste“ Abfassung von Urteilen zumindest erleichtern dürfte (und uns Anwältinnen und Anwälten die Dreh- und Angelpunkte unserer Verteidigung aufzeigt). Sondern weil die an jenem Abend von verschiedenen Teilnehmenden als „Berliner Spezialität“ bezeichnete grundsätzliche Anwendbarkeit von § 113 StGB einmal mehr durch Berlin, siehe Entscheidung vom 16. August 2023, manifestiert sein könnte. In der Diskussion herrschte jedenfalls dahingehend Einigkeit, dass in anderen Bundesländern die Anwendbarkeit von § 113 StGB kritisch gesehen bzw. sogar als eher abwegig bezeichnet würde. In den Genuss der „Berliner Spezialität“ werden wir Berlinerinnen und Berliner, das lässt sich aus der Entscheidung vom 16. August 2023 (3 ORs 46/23) ebenfalls herleiten, wohl weiterhin kommen. Auch wenn die Protestform des „Klebens“ nach Mitteilung der Aktivistinnen und Aktivisten künftig eingestellt werden wird.

PRÜFUNGSMASSSTAB DES KAMMERGERICHTS

Die lebhafte Diskussion um den strafrechtlichen Umgang mit den „Klimakleber-Fällen“ fand ihren kleinen Höhepunkt in der Äußerung von Herrn Sandherr, jedenfalls als Zeitungsleser läge die Einordnung der „Letzten Generation“ als kriminelle Vereinigung i.S.d. § 129 StGB nahe. Der Hinweis eines Teilnehmers, dass die Berliner Staatsanwaltschaft die Anwendbarkeit des § 129 StGB auf „Klimakleber“ inzwischen mehrfach geprüft und wegen Fehlens des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der Erheblichkeit verneint habe, bildete das passende Schlusswort dieser Diskussion und ermöglichte den Übergang zu dem Thema „Prüfungsmaßstab des Kammergerichts“. Konkret ging es um die Frage, inwiefern das Revisionsgericht die Verwerflichkeitsprüfung i.R.v. § 240 StGB durchführen kann bzw. darf und wie hier Rechts- und Tatsachenfragen zu unterschieden sind. Herr Sandherr ließ durchblicken, dass die Meinungen hierzu auch in seinem Senat auseinandergehen. Er selber tendiere jedoch dazu, die Verwerflichkeitsprüfung als eine Rechtsfrage einzuordnen, die vollumfänglich überprüft werden kann.

„DAS RASEN ALLEIN IST NICHT STRAFBAR“

Den zweiten strafrechtlichen Themenschwerpunkt von Herrn Sandherr bildeten zwei sogenannte Raser-Fälle, die jüngst in seinem Senat entschieden wurden. In beiden Fällen ging es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen sogenannte Alleinrennen (quasi ein Rennen gegen sich selbst) von § 315d StGB erfasst werden.

„Im konkreten Fall beschrieben die Urteilsgründe des Amtsgerichts nicht das Fahrverhalten des Angeklagten, sondern das Fahrverhalten des den Angeklagten verfolgenden Polizeifahrzeugs“

In seiner jüngsten Entscheidung vom 1. März 2024 (3 ORs 16/24) gibt das Kammergericht eine präzise Gebrauchsanweisung an die Hand, um den Lebenssachverhalt „Alleinrennen“ revisionsfest unter § 315d StGB zu fassen, und betont, dass Urteilsfeststellungen unbedingt Schilderungen zur Fahrweise des Angeklagten enthalten müssen. Hierfür genügt es zum Beispiel nicht, allein das Fahrverhalten des Polizeifahrzeugs zu schildern – gleich wie detailliert diese Schilderung ist. Im konkreten Fall beschrieben die Urteilsgründe des Amtsgerichts in weiten Teilen nicht das Fahrverhalten des Angeklagten, sondern das Fahrverhalten des den Angeklagten verfolgenden Polizeifahrzeugs. Da es dem Kammergericht als Revisionsgericht versperrt ist, daraus zu erschließen, welches tatsächliche Verhalten des Angeklagten aus der Fahrweise des Polizeifahrzeugs abgeleitet werden kann (das Amtsgericht hätte dies freilich tun können und müssen), war das Urteil aufzuheben und die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

1 SEKUNDE FAHRT VON 20 METERN = § 315D StGB?

Der zweite von Herrn Sandherr präsentierte Beschluss des Kammergerichts vom 12. Juni 2023, 3 ORs 30/23, sorgte streckenweise für rasante Erheiterung. Durchgedrückte Gaspedale, Dauer 1 Sekunde, Fahrtlänge 20 Meter, Unfall (ohne Personenschaden). Kann dieser stark vereinfachte Sachverhalt unter § 315d StGB fallen? Ja, so das Kammergericht. Wichtig sei nur, dass das Absichtserfordernis des § 315d StGB, das heißt, die Absicht des Angeklagten, eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke zu befahren, um strafbare Verhaltensweisen von bloßen (auch erheblichen) Geschwindigkeitsüberschreitungen abzugrenzen, erfüllt sei.

„Der Angeklagte habe weiter als die 20 Meter mit zunächst durchgedrücktem Gaspedal fahren wollen. Unterblieben sei diese Weiterfahrt nur unfallbedingt“

Diese Absichtserfordernis bejahte das Kammergericht trotz der kurzen Strecke von 20 Metern. Denn die Urteilsfeststellungen des Landgerichts belegten aus Sicht des Kammergerichts hinreichend, dass das Fahrverhalten des Angeklagten nicht auf einen eng umgrenzten Verkehrsvorgang oder ein nur wenig entferntes Ziel gerichtet war. Der Angeklagte habe weiter als die 20 Meter mit zunächst durchgedrücktem Gaspedal fahren wollen. Unterblieben sei diese Weiterfahrt nur unfallbedingt. Diesen Schluss auf die Absicht des Angeklagten zog das Landgericht in einer vom Kammergericht nicht beanstandeten Weise anhand „äußerer Umstände und der Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten“ – konkret, weil der Angeklagte zwei am Straßenrand stehenden Frauen „mit seinen Fahrkünsten imponieren“ und den leistungsstarken BMW habe austesten wollen.

Heft 06 | 2024 | 73. Jahrgang