Jude und Demokrat

Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwalts 1883 bis 1939

Max Hirschberg
Reinhard Weber (Hrsg.), De Gruyter Oldenbourg 1998, 336 S., 99,95 Euro, ISBN 9783486563672

Diese 1998 gut kommentierte Autobiografie des Kollegen Hirschberg (1883 – 1964) war vorher unveröffentlicht. Sie wurde nunmehr im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte aus München in der Buchreihe „Biografische Quellen zur Zeitgeschichte“ im Oldenbourg-Verlag herausgegeben. Nach einem Geleitwort des Bundesministers a. D. Dr. Hans-Jochen Vogel und einer kundigen Einleitung des Bearbeiters Reinhard Weber wird die Autobiografie des Kollegen in 15 Kapiteln ausgebreitet, beginnend nach einem Vorwort mit seinem Elternhaus, seiner Schule und seiner Bildung und endend mit dem Kapitel „5 Jahre in Italien“ (bevor er in die USA emigrierte).

Schlussendlich gibt es noch einen Anhang, ein Schreiben des Kollegen an den Präsidenten des Oberlandesgerichts München vom 12. Mai 1933, seine Zulassungsentziehung betreffend, gefolgt von Lebensdaten und seiner Bibliografie sowie einer Bibliografie der in den Anmerkungen zitierten Literatur und einem Personenregister.

Thomas Röth, Rechtsanwalt | Fachanwalt für Arbeitsrecht, Miet- und Wohneigentumsrecht und Strafrecht | Liebert & Röth Rechtsanwälte | www.liebert-roeth.de

Max Hirschberg wurde am 13. November 1883 in München geboren und nach dem Abitur in München studierte er in Berlin, Leipzig und München Jura. Nach seiner Referendarzeit legte er sein 2. Examen 1910 in München ab. 1911 war er zunächst Rechtsanwalt in Traunstein, dann in München. 1914 bis 1918 war er beim Militär, ab 1915 an der Front, ab 1919 wieder Rechtsanwalt in München. Er entwickelte sich auch wegen seiner Kriegserlebnisse zum Pazifisten und war vorwiegend als Verteidiger auf dem Gebiet des Strafrechts tätig, unter anderem in vielen politischen Strafprozessen. Er dürfte einigen geneigten Lesern wegen seines berühmten Buches über „Das Fehlurteil im Strafprozess: Zur Pathologie der Rechtsprechung“ (1962 im Fischer-Taschenbuchverlag erschienen) bekannt sein.

1933 sollte ihm die Anwaltszulassung entzogen werden. Er war auch einer der Ersten, der 1933 für fünfeinhalb Monate in Schutzhaft genommen wurde. Die Anwaltszulassung konnte er, weil er kein Kommunist war und auch im Ersten Weltkrieg Frontsoldat, zunächst noch behalten. 1934 wanderte er mit seiner Frau und seinem Sohn nach Italien aus und 1939 nach New York. 1935 wurde ihm die Anwaltszulassung entzogen, 1938 wurde er ausgebürgert und 1939 wurde ihm der Doktortitel durch die Ludwig-Maximilians-Universität in München aberkannt. Er war seit 1939 als Rechtsberater in New York tätig und nach 1945 insbesondere für Rückerstattungs- und Wiedergutmachungssachen. Neben Veröffentlichungen zum Strafprozess/-Recht und Herausgabe von konkreten prozessbezogenen Materialien in Buchform gibt es auch Übersetzungen aus der russischen Literatur und (diese noch meistens unveröffentlicht) kulturkritische Werke und Gedichte.

Kollege Max Hirschberg hat eine packende Autobiografie über sein Leben bis 1939 geschrieben. Vorwiegend befassen sich die meisten Kapitel mit seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt, insbesondere politischen Prozessen, aber auch anderen Strafprozessen. Daneben gibt es aber auch immer Ausführungen zu ihm (Gedanken, Einstellungen) und zum Zeitgeschehen. Es werden eine Unzahl an Personen angeführt, über die man jedoch in den Erläuterungen jeweils auf der Seite unten dann Weiteres erfahren kann.

Kollege Hirschberg hat einen klaren, präzisen Stil. Der Unterzeichner fand insbesondere interessant: sein Weg als Anwalt nach dem Ersten Weltkrieg: sein unbedingtes Einstehen für die Demokratie und sein unermüdlicher Einsatz insoweit als Verteidiger. Erschüttert hat den Unterzeichner die systematische Entrechtung, insbesondere jüdischer Staatsbürger, durch den Nationalsozialismus. Noch mehr erschüttert hat aber im Laufe der Lektüre die Demokratiefeindlichkeit und Offenheit für die Demokratie untergrabenden Kräfte von rechts, sei es in der Wirtschaft, sei es in der Justiz, sei es in der Politik durch viele gesellschaftliche Schichten in der Weimarer Republik und insbesondere das Nichteingreifen/-ermitteln/- bestrafen des Deutschen Reiches bzw. Bayerns bei politischen Morden durch rechte „Gruppierungen“ bzw. bei den sogenannten Feme-Morde in Bayern. Dies wird von Hirschberg immer wieder kritisiert und blieb ein furchtbares Unterlassen der Staatsgewalt und insbesondere der Justiz.

Hirschberg war einer der im Deutschen Reich bekannten Strafverteidiger, insbesondere für politische Strafprozesse und auch Pressebeleidigungsprozesse. Er hat hier u. a. bayrische Medienorgane der SPD vertreten. So sind die spannendsten Kapitel auch die, in denen er von seiner Anwaltsarbeit (mit gesellschaftlichem Blick) seit der Revolution 1918, der Politisierung, dem Kampf für die Republik (5. Kapitel), der im sehr berühmten Prozess „Fechenbach“ (Sekretär von Kurt Eisner, 6. Kapitel), von dem Aufstieg des Faschismus, den Feme-Morden, der Inflation (7. Kapitel), seinem Kampf gegen Fehlurteile (8. Kapitel), dem Hitlerputsch (9. Kapitel) und seiner Verteidigung im Dolchstoß-Prozess 1925 (10. Kapitel), erzählt. Die Kapitel 11. bis 15. sind zum Teil etwas gekürzt, weil sie Passagen ohne zeitgeschichtlichen Bezug enthalten. Dies ist aber vom Bearbeiter Weber gekennzeichnet.

Das Buch ist vorzüglich kommentiert, sodass man bei Personenunkenntnis oder Fachbegriffsunkenntnis in den Anmerkungen jeweils sofort aufgeklärt wird. Kollege Hirschberg hat allerdings auch meistens klar und verständlich bereits selbst ausgeführt (bis auf uns qua Zeitablauf unbekannten Personen).

Klar wird einem, welch risikoreiche Tätigkeit die Strafverteidigungstätigkeit in nicht rechtstaatlichen Zeiten bedeutet. Klar wird einem, welche Entschiedenheit und welchen Mut ein solcher Einsatz bedeutet, und klar wird einem auch, in welch doch sicheren Zeiten (der Unterzeichner ist seit 1997 Rechtsanwalt) Anwaltstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland möglich war.

Wenn Sie die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Beginn des Nationalsozialismus aus der Perspektive eines hochgebildeten, gut schreibend könnenden und an der politischen Strafrechtsfront kämpfenden Kollegen interessiert, dann sei Ihnen dieses Buch (auch für die Erfahrungs- und Rollenbilderweiterung den eigenen Beruf) wärmstens ans Herz gelegt.

Heft 04 | 2025 | 74. Jahrgang