KI und effiziente Prozessgestaltung

Herausforderungen und Lösungsansätze für eine digitale Justiz.

Seit Ende 2022 stehen Large Language Models wie ChatGPT im Fokus der Öffentlichkeit. Es handelt sich um Systeme, die auf Algorithmen des maschinellen Lernens und einem enorm großen Trainingsmaterial von Text basierend im Wesentlichen statistische Zusammenhänge von Sprache ermitteln und auf dieser Grundlage eigenständig Texte produzieren können. Das sprachliche Niveau dieser Systeme ist beeindruckend. Dabei sind sie hinsichtlich ihrer Technik im Rahmen einer evolutionären Entwicklung zu sehen. So reicht die Beschäftigung mit neuronalen Netzen in die 1940er-Jahre zurück, Deep- Learning-Verfahren werden seit den 1990er-Jahren entwickelt und ChatGPT nutzt die neueste Generation einer Reihe von Sprachmodellen, die auf dem 2017 eingeführten Transformermodell beruhen. Mit der Veröffentlichung von ChatGPT und der Möglichkeit des kostenlosen Testens wurden diese Systeme und ihre erstaunlichen sprachlichen Fähigkeiten aber plötzlich für jedermann sichtbar. Seither wird landauf, landab über die Einsatzmöglichkeiten in allen Gesellschaftsbereichen, darunter auch im Rechtswesen, diskutiert.

Dr. Bettina Mielke, M.A., |  Präsidentin des Landgerichts Ingolstadt

WAS IST KÜNSTLICHE INTELLIGENZ?

Um den Einsatz von KI einschließlich ChatGPT und Co. in der Rechtspflege zu erörtern, erscheint es sinnvoll zu klären, was unter KI zu verstehen ist. Wie schwierig es ist, sich hier auf einen einheitlichen Sprachgebrauch zu verständigen, verdeutlichen nicht zuletzt die Diskussionen um die Definition von KI in der geplanten KI-Verordnung der EU, deren endgültige Fassung in der ersten Hälfte des Jahres 2024 verabschiedet werden und dann in weiten Teilen zwei Jahre später in Kraft treten soll. Eines zeigen die verschiedenen Entwurfsfassungen über die Jahre hinweg (der erste Entwurf stammt vom April 2021), nämlich die Unterscheidung zwischen Verfahren, die auf maschinellen Lernverfahren einschließlich des Deep Learning beruhen, und Verfahren, die auf logik- und wissensgestützten Konzepten basieren. Etwas unklar war im Entwurf vom 13. April 2021, was darüber hinaus die dritte Kategorie mit statistischen Ansätzen sowie Bayes‘schen Schätz-, Such- und Optimierungsmethoden bedeutet. In der Fassung vom Dezember 2022 steht allein die Zweiteilung von Konzepten des maschinellen Lernens einerseits und logik- und wissensgestützten Konzepten andererseits im Vordergrund. Wichtig ist daneben in den Erwägungen zum Begriff „KI-System“ die Abgrenzung von „einfacheren Softwaresystemen und Programmierungsansätzen“, die nicht unter den Begriff KI fallen. So heißt es hier weiter: „Ein System, das ausschließlich von natürlichen Personen definierte Regeln anwendet, um automatisch Operationen auszuführen, sollte nicht als KI-System gelten.“ Auch in der aktuellen Fassung, Stand 26. Januar 2024, wird betont, dass der Begriff „KI-System“ auf den Hauptmerkmalen von KI, die ihn von einfacheren herkömmlichen Softwaresystemen oder Programmieransätzen unterscheiden, beruht, und keine Systeme erfassen soll, die auf ausschließlich von natürlichen Personen festgelegten Regeln zur automatischen Ausführung von Vorgängen beruhen. Damit erfährt der KI-Begriff durchaus eine Eingrenzung und erfasst nicht, wie vielfach befürchtet wird, nahezu sämtliche Software-Anwendungen.

„Interessant wird sein, ob durch die KI-Verordnung der inflationäre Gebrauch des Begriffs KI zurückgeht“

Zu hoffen ist, dass dieses Bemühen um Abgrenzung von einfachen Softwaresystemen zu einer Vereinheitlichung der Begriffsverwendung beitragen wird, zumal vor dem Hintergrund, dass gemäß der letzten Fassung der Begriff eng an die Arbeiten internationaler Organisationen, die sich mit künstlicher Intelligenz befassen, angelehnt sein soll. Interessant wird sein, ob durch die KI-Verordnung der inflationäre Gebrauch des Begriffs KI zurückgeht. Da der Begriff der künstlichen Intelligenz Fördermittel, Investitionen, Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und das Herbeiführen eines modernen Images erwarten lässt, ist die Versuchung groß, ihn auch dann zu gebrauchen, wenn es sich eher um einfache Software-Lösungen oder reine Automatisierung handelt. Da man künftig dann, wenn es sich um KI-Systeme handelt, den Anforderungen der KI-Verordnung unterworfen ist (und ggf. daraus abgeleiteten Regulierungsmaßnamen), wird man sich genauer überlegen, ob man diese Bezeichnung wählt.

KI UND LEGAL TECH IN DER RECHTSPFLEGE

Auch in den heutigen Projekten in der Justiz, die als KIProjekte gelten, etwa FRAUKE (FRAnkfurter Urteils- Konfigurator, Elektronisch), das zur Unterstützung von Verfahren zu den Fluggastrechten für das Amtsgericht Frankfurt am Main entwickelt wurde, oder OLGA (Ober- LandesGerichts-Assistent), das am Oberlandesgericht Stuttgart bei der Bearbeitung von Dieselfällen zur Anwendung kommt, sind die KI-Anteile derzeit überschaubar. In der Regel erfolgt der Einsatz von maschinellen Lernverfahren, um die Extraktion von Entitäten zu verbessern, im Fall von FRAUKE die Flugdaten oder im Fall von OLGA der Motortyp, die betroffene Abgasnorm etc. Durch das Training am Sprachgebrauch in den jeweiligen Verfahren kann das Ergebnis dieser Extraktion optimiert werden. Die Bereitstellung von Textbausteinen zur Vereinfachung der Urteilsabfassung erfolgt hingegen rein regelbasiert, so dass – zumindest nach gängiger Ansicht – nicht von KI gesprochen werden kann. Das Projekt SMART/IMJ, das in Bayern und Rheinland-Pfalz im Praxistest ist und zum Ziel hat, die zur E-Akte eingehenden PDF-Dokumente mittels KI-Einsatzes weitgehend automatisiert zu kategorisieren (z.B. als Klageschrift oder Akteneinsichtsgesuch) und sinnvolle Dokumenttrennungen vorzunehmen sowie Metadaten wie die Beteiligtennamen, die Klageart oder den Streitwert zu extrahieren, hat eine ähnliche Funktionsweise. In Niedersachsen soll die Bearbeitung von Massenverfahren durch MAKI erleichtert werden, dabei wird bereits mit großen Sprachmodellen experimentiert. Ähnliches gilt für verschiedene Arten von Anwaltssoftware, für die ebenfalls versucht wird, Large Language Models zu integrieren. Inwieweit diese die jeweiligen Systeme entscheidend verbessern, ist allerdings noch offen.

Klar dürfte auf jeden Fall sein, dass nicht alles, was zu Legal Tech zählt, auch KI ist. Insofern ist es aus meiner Sicht wenig hilfreich, sich nur auf den Einsatz von KI oder gar ChatGPT in der Rechtspflege zu konzentrieren, vielmehr sollte alles, was zur Unterstützung in der rechtlichen Praxis beitragen kann, in den Blick genommen werden. Dass hier – jenseits von KI und ChatGPT – bei Weitem noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist augenfällig.

EFFIZIENTERE GESTALTUNG VON PROZESSEN

Hilfreich erscheint, darüber nachzudenken, wie Prozesse allgemein effektiver und effizienter gestaltet werden können. Ein Beispiel ist die digitale Unterstützung jenseits der E-Akte, die in einem ersten Schritt und Akzeptanzgründen geschuldet nur die analoge Akte nachbildet. Im Bereich der Zivilverfahren könnte dies durch eine bessere Strukturierungsmöglichkeit des Parteivortrags in einem digitalen Basisdokument erfolgen, um das bisherige „Schriftsatz-Ping-Pong“, in dem die Parteivertreter Sachverhalt und rechtliche Ausführungen vortragen, abzulösen.

„Alles, was dazu dient, Prozesse effizienter und effektiver zu machen, sollte in Betracht gezogen werden“

Über das hierzu durchgeführte gemeinsame Forschungsvorhaben der Universität Regensburg in Kooperation mit dem Bayerischen und dem Niedersächsischen Justizministerium, an dem ich beteiligt bin, durfte ich im Dezemberheft 2023 des Berliner Anwaltsblatts berichten. Seit März 2023 wird das elektronische Basisdokument in einem Reallabor an vier Testgerichten in Bayern und Niedersachsen getestet. Die Idee ist, dass die Parteien ihren Vortrag softwareunterstützt in Abschnitte gliedern und in einem gemeinsamen Dokument gegenüberstellen (können). Der im Einsatz befindliche Prototyp (unter https://app.parteivortrag.de kann man die Anwendung ausprobieren) wurde in einem nutzerzentrierten iterativen Entwicklungsprozess an der Universität Regensburg gestaltet, aufgrund der Rückmeldungen aus dem Reallabor wird er laufend weiter verbessert. Durch die Möglichkeit, auch nachträglich Vortrag an die in der Argumentation passenden Stelle zu platzieren sowie den eigenen Vortrag direkt dem gegnerischen Vortrag gegenüberzustellen, können Wiederholungen ebenso vermieden werden wie sich während längerer Verfahren (unabsichtlich) verändernder Parteivortrag. Dies hat das Potenzial, Zivilprozesse für Anwaltschaft wie Richterschaft deutlich ressourcenschonender zu führen. Zu betonen ist dabei, dass nach dem hier verfolgten Konzept keinerlei Vorgaben oder Einschränkungen hinsichtlich Inhalt und Umfang des Vortrags verbunden ist. Den Bedenken der Anwaltschaft gegenüber anderen Konzepten der Strukturierung ist damit Rechnung getragen.

FAZIT

Es sollte kein verengter Blick auf die Möglichkeiten einer digitalen Justiz durch ChatGPT und KI erfolgen. Alles, was dazu dient, Prozesse effizienter und effektiver zu machen, sollte in Betracht gezogen werden. Ein Beispiel ist das gemeinsame elektronische Basisdokument, ein Instrument, das großes Potenzial für einen ressourcenschonenderen Zivilprozess hat.

Heft 04 | 2024 | 73. Jahrgang