Männer, Medien, Meinung, Macht & Femizid

Wie deutsche Medien den grassierenden Frauenhass befeuern

Der 19. November 2024 ist ein geschichtsträchtiger Tag für Deutschland – umso irritierender, dass er nicht die gebührende mediale Aufmerksamkeit erhielt. Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik hat eine deutsche Regierung das verheerende Ausmaß des staatlichen Versagens bei der Bekämpfung von struktureller, tradierter Gewalt,1https://rm.coe.int/1680462535 (abgerufen am 28.12.2024). die sich gezielt gegen Mädchen und Frauen richtet, öffentlich eingestanden. Die derzeit amtierenden Repräsentantinnen, Nancy Faeser, Bundesministerin des Innern und für Heimat, sowie Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, informierten die Bevölkerung mit der Vorstellung des Lagebilds zu „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten“ offiziell darüber, dass 938 Mädchen und Frauen im Jahr 2023 in Deutschland Opfer von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten waren.2https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/lagebild-gewalt-gegen-frauen-2321162 (abgerufen am 28.12.2024). Nicht genug damit, dass die Attacken für 361 Frauen3Bestätigung durch das BKA liegt der Redaktion im Original vor. tödlich endeten – nein, in ALLEN strafrechtlich relevanten Deliktsfeldern gab es nachweislich eine deutliche Zunahme.

Professorin Dr. Kristina Wolff | Frauenrechtsaktivistin, Autorin und Gründerin des Femicide Observation Center Germany | F.O.C.G. (https://focg.org)

Die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik sind seit Jahren öffentlich, der Datensatz allerdings bildet lediglich das bekannte Hellfeld ab.4https://www.hilfetelefon.de/aktuelles/neues-lagebild-anstieg-von-geschlechtsspezifisch-gegen-frauen-gerichteter-straftaten.html (abgerufen am 28.12.2024). Dass die Delikte kontinuierlich ansteigen konnten, ist dem Fehlen von wirkmächtigen Korrektiven ebenso geschuldet wie einer stringent ignoranten Öffentlichkeitsarbeit: Täglich werden wir Zeitzeug*innen von medialer Misogynie.

„Dass die Delikte kontinuierlich ansteigen konnten, ist dem Fehlen von wirkmächtigen Korrektiven ebenso geschuldet wie einer stringent ignoranten Öffentlichkeitsarbeit“

Im Mai 2024 wurde das Revisionsverfahren gegen den Tennisspieler Zverev gegen eine Geldauflage in Höhe von 200.000,– Euro eingestellt. Am Tag nach dem Verfahrensende griff BILD die Reaktion des Profisportlers auf: „Was das Gericht entschied, heißt, dass ich unschuldig bin. Es würde den Fall nicht einstellen, wenn du am Ende des Tages schuldig bist.“5https://www.bild.de/sport/mehr-sport/tennis/zverev-spricht-ueber-seinensieg-vor-Gericht-88596776.bild.html (abgerufen am 28.12.2024). Was medial in Gänze unerwähnt blieb: Die Einstellung (auch) dieses Verfahrens konnte nur ohne eine Klärung der Schuldfrage erfolgen. Sie wurde erzielt, weil das sogenannte „Opportunitätsprinzip“ nach §§ 153 ff. StPO „Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit“6https://www.gesetze-im-internet.de/stpo/__153.html (abgerufen am 28.12.2024). der Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts ermöglicht, auf das Erheben einer Anklage zu verzichten. Die Wertung Vergehen anstelle von Verbrechen erfolgt zunehmend häufig nach einem Täter-Opfer-Ausgleich.

Obwohl der selbsternannte „Comedian“ Pocher beim Sommerfestival des Südwestrundfunks (SWR) eine Frau vor großem Publikum zu Tränen demütigte,7https://www.fr.de/kultur/oliver-pocher-comedian-frau-demuetigung-swrsommerfestival-auftritt-meinung-kolumne-93084047.html (abgerufen am 28.12.2024). wertet die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt, die ihn engagiert hatte, ihre Veranstaltung bis heute online als großen Erfolg: „Es gab beste Unterhaltung mit Musik, Comedy (…) – und natürlich jede Menge Festivalstimmung.“8https://www.swr.de/unternehmen/kommunikation/pressemeldungen/sommerfestival-stuttgart-134.html (abgerufen am 28.12.2024).

Mitte Oktober 2024 schwadronierte Schauspieler Liefers reichweitenstark: „Mancher Mann denkt heute viermal nach, bevor er einer Frau ein Kompliment macht.“9https://www.welt.de/vermischtes/prominente/article253949632/Jan-Josef-Liefers-Mann-denkt-heute-viermal-nach-bevor-er-einer-Frau-ein-Kompliment-macht.html (abgerufen am 28.12.2024). Mündige Bürger, die selbst im Erwachsenenalter außerstande sind, den Unterschied zwischen „Ich mache einer Frau eine Freude“ und „Ich mache mir eine Freude und demonstriere meine Macht“ zu begreifen: Der deutsche Playboy bot Liefers seine Bühne. Kurz darauf will Herr Gottschalk uns medial Glauben machen, seine sexuellen Übergriffe wären konsensualer Teil seines Arbeitsauftrags beim (ebenfalls öffentlichrechtlichen Sender) ZDF gewesen: „Ich habe Frauen im TV rein dienstlich angefasst.“10https://www.welt.de/vermischtes/article253975762/Thomas-Gottschalk-Ich-habe-Frauen-im-TV-rein-dienstlich-angefasst.html (abgerufen am 28.12.2024). Im Spiegel findet der Ex- Showmaster Gehör und Multiplikation.

Im selben Monat wird Kanzlerkandidat Merz, Artikel 3 unserer Verfassung ad absurdum führend, eine mediale Plattform geboten, als er sich in der Sendung „Frühstart“ von RTL bzw. ntv zur Frage einer paritätischen Besetzung künftiger Ministerien äußert: „Wir tun damit auch den Frauen keinen Gefallen.

„Grundrechte sind keine Gefallen.“

Die Frauenverachtung der Merzschen Äußerung potenziert sich in der Erinnerung daran, dass es sein Abstimmungsverhalten war, das, sofern es im Jahr 1997 erfolgreich gewesen wäre, einer Gisèle Pelicot in Deutschland verunmöglicht hätte, den Prozess gegen ihren Mehrfachvergewaltiger (= Ehemann) zu führen.

Beim Privatformat „Deutschland sucht den Superstar“ von RTL tauschte man Herrn Lombardi nach einem Einsatz zu häuslicher Gewalt11https://www.n-tv.de/leute/Pietro-Lombardi-Polizeieinsatz-und-Vorwurfder-haeuslichen-Gewalt-gegen-Laura-Maria-Rypa-article25279693.html (abgerufen am 28.12.2024). gegen Rapper Bushido12https://www.bigfm.de/news/32108/nach-dieser-aktion-war-abou-chakerfuer-bushido-gestorben (abgerufen am 28.12.2024). aus. Der hatte bereits, exakt wie Sendungskollege Bohlen,13https://www.spiegel.de/panorama/deeskalation-feldbusch-ueber-bohlensreaktion-erleichtert-a-162907.html (abgerufen am 28.12.2024). mit einer Gewalthistorie gegen eine Frau den eigenen Bekanntheitsgrad steigern können.

Die Liste lässt sich stetig fortschreiben, im Dezember 2024 dominierte zunächst Rapper Sido die überregionalen Schlagzeilen, weil er ein zwölfjähriges (!) Mädchen anlässlich einer Weihnachtsfeier öffentlich der Lächerlichkeit aussetzte.14https://www.20min.ch/story/empoerte-reaktionen-sido-stellt-maedchen-12-bei-weihnachtskonzert-bloss-103247027 (abgerufen am 28.12.2024). Auch in diesem Fall versagte die Presse eine treffende Einordung: Männergewalt.

Abgelöst wurde Sido von der Personalie Mischke, den die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt ARD als Moderator für ihre Kult-Kultursendung Titel, Thesen, Temperamente (ttt) installieren wollte – trotz seines sexistischen Romans „In 80 Frauen um die Welt“.

Auf Nachfrage der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) wurde der Sender am 27. Dezember 2024 ebenda wie folgt zitiert: „Seit der Veröffentlichung seines Buchs ,In 80 Frauen um die Welt‘ habe sich Thilo Mischke ,intensiv und selbstkritisch mit den Vorwürfen, darin ein sexistisches Frauenbild vermittelt und stellenweise rassistische Sprache benutzt zu haben, auseinandergesetzt‘. Er habe ,sich mehrfach öffentlich der Kritik gestellt und für seine Ausdrucksweise entschuldigt‘. Dies habe er unter anderem in einem Podcast im März 2021 getan. Heute distanziere er sich ,von Titel und Inhalt des Buches‘ und habe ,erstritten, dass dieses nicht wieder aufgelegt wird. Das respektieren wir‘.“15https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/thilo-mischke-kritik-anberufung-bei-ttt-ard-weist-das-zurueck-110198176.html (abgerufen am 28.12.2024). Entschuldigung für die Ausdrucksweise, nicht für seine Einstellung. Distanz zu Buch und Titel, nicht zur verschriftlichten Haltung.16https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/ard-programmchefin-strobl-findet-debatte-im-fall-mischke-problematisch-110211775.html.

„Flächendeckend wird eine Bühne geboten, Raum für Sexismus, Reichweite und Geld, ergo Macht. Gerade so, als belohne man die Herren für ihre Menschenverachtung: Fame für Frauenhass“

Deutsche Medien befeuern nonstop das etablierte: „Ja, aber…“, mit dem versucht wird, die männliche Gewalt zu relativieren. Flächendeckend wird wieder und wieder eine Bühne geboten, Raum für Sexismus, Reichweite und Geld, ergo Macht. Gerade so, als belohne man die Herren für ihre Menschenverachtung: Fame für Frauenhass.

Anstelle von Reflexion werden die Akteure (männlich, nicht generisch) zu Opfern einer vermeintlichen Cancel Culture stilisiert bzw. heroisiert, wird das Machtgefälle zu Gunsten von meinungsprägenden misogynen Männern ausgeweitet.

Auch seitens der ARD-Programmdirektion wird die verschleppte Abberufung des Herrn Mischke nicht etwa als Kardinalfehler der eigenen Personalpolitik, sondern als Ergebnis einer unmöglichen Debattenkultur eigestuft: Man setze auf einen „respektvollen, menschlichen Umgang“.17https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/ard-programmchefin-strobl-findet-debatte-im-fall-mischke-problematisch-110211775.html

Macht und Kontrolle sind immer das Motiv, das der grassierenden Gewaltausübung gegen Frauen zugrunde liegt. Wenn wir als Gesellschaft die eklatanten Menschenrechtsverletzungen eindämmen wollen, die sich im Lagebild zu „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten“ in 2023 spiegelten, dann ist es unsere erste Pflicht, bei der Wahl der Vorbilder für unsere Kinder achtsamer zu hinterfragen: „Gibt es in ganz Deutschland wirklich niemanden, der die Fachkompetenz mitbringt, aber keinen misogynen Hintergrund hat?“

„Gibt es in ganz Deutschland wirklich niemanden, der die Fachkompetenz mitbringt, aber keinen misogynen Hintergrund hat“

Die Politik wird ihrem Auftrag nicht gerecht, wenn sie mit stoischem Verweis auf die Unabhängigkeit der Presse weiterhin passiv bleibt. Es gäbe durchaus die Möglichkeit, Medienvertreter*innen, Landesmedienanstalten, Rund funkräte und den Fernsehrat im sachlichen Dialog für ein neues, verantwortungsbewusstes Selbstverständnis zu gewinnen. So, wie es Froben Homburger, Nachrichtenchef der Deutschen Presseagentur (dpa), bereits im November 2019 vorlebte, als er erklärte, Begriffe wie „Familientragödie“ oder „Beziehungsdrama“ künftig aus der hauseigenen Berichterstattung zu verbannen.18https://x.com/fhomburger/status/1194954259462311936?mx=2 (abgerufen am 28.12.2024).

Das Ende der Bundespressekonferenz vom 19. November 2024 mündete übrigens in eine Fokusverschiebung. Ein Journalist besaß die Chuzpe, die kon zen trierte Aufmerksamkeit der letzten, der wichtigsten Minuten dieser inhaltlich klar definierten Veranstaltung abzulenken, indem er die Frage nach – kein Witz – den beschädigten Datenkabeln in der Ostsee an Ministerin Faeser richtete.19https://www.ardmediathek.de/video/phoenix-vor-ort/bundeslagebildstraftaten-gegen-frauen/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvNDY3NzY3Mg (abgerufen am 28.12.2024). Im Haus der Bundes pressekonferenz war der ganze Saal gefüllt mit Medien vertreter*innen. Niemand besaß das Rückgrat, einzuschreiten: „Falsches Thema. Nicht hier. Nicht jetzt.“ (Auch) diese frauenverachtende Machtdemonstration eines Mannes hatte Erfolg.

Heft 03 | 2025 | 74. Jahrgang