Ne bis in idem – oder doch? „Zuhören – Mitreden!“

Kritische Diskussion zur Wiederaufnahme von Strafverfahren nach rechtskräftigem Freispruch gemäß § 362 Ziff. 5 StPO.

Am 22. August 2022 fand im voll besetzten Auditorium im DAV-Haus in Mitte eine angeregte Diskussion in der Reihe „Zuhören – Mitreden!“ über den neuen Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO statt. Gemäß der am 30.12.2021 in Kraft getretenen Novellierung von § 362 StPO kann ein durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenes Strafverfahren zuungunsten der angeklagten Person wieder aufgenommen werden, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die dringende Gründe dafür bilden, dass diese Person wegen diverser unverjährbarer Verbrechen (Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gegen eine Person) verurteilt werden wird. Für eine solche Novellierung gab es in der Vergangenheit immer wieder gesetzgeberische Ansätze, die allerdings scheiterten. Auch das jüngste Gesetzgebungsverfahren war heftig umstritten; das Ergebnis wird in Politik, Anwaltschaft und Wissenschaft weiter diskutiert, und das Bundesjustizministerium überprüft derzeit die Novellierung.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 11/2022 | 71. Jahrgang
Schauen Sie sich die Aufzeichnung der Veranstaltung auf der Website des Berliner Anwaltsvereins an.

Mittlerweile gibt es einen aktuellen Anwendungsfall: In dem Mordfall Frederike von Möhlmann beantragte die Staatsanwaltschaft im Februar 2022 die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des 1983 freigesprochenen Angeklagten sowie Haftbefehl. Das zuständige LG gab dem Antrag statt; nachdem das OLG den Widerspruch des Angeklagten abgewiesen hatte, legte dieser Verfassungsbeschwerde ein und beantragte zudem eine einstweilige Anordnung gegen den Haftbefehl. Das BVerfG erließ die einstweilige Anordnung unter Auflagen; die Hauptsacheentscheidung wird für Anfang 2023 erwartet.

BREITES MEINUNGSSPEKTRUM ZU § 362 NR. 5 StPO AUF DEM PODIUM

Nach kurzen Einführungen durch den Vorsitzenden des Berliner Anwaltsvereins, Uwe Freyschmidt, und den Initiator der Aktion #nichtzweimal, Ulrich Schellenberg, kamen die Podiumsteilnehmenden zu Wort: Es diskutierten Dr. Carolin Arnemann, Fachanwältin für Strafrecht Prof. Dr. Michael Kubiciel, Universität Augsburg, Dr. Jan-Marco Luczak, Rechtsanwalt und MdB, PD Dr. Björn Schiffbauer, Universität Köln sowie Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Ruhr-Universität Bochum. Moderiert wurde die Veranstaltung von PDin Dr. Dorothea Magnus, Vertretungsprofessorin, Universität Freiburg, und Arne Nis Meyn, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Helmut-Schmidt- Universität Hamburg.
Zunächst stellte Dr. Luczak, der als damaliger rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion die Novellierung begleitet hatte, das Gesetzgebungsverfahren dar. Hauptanlass war nach seiner Darstellung nicht ein konkreter Fall, sondern das im Koalitionsvertrag 2017/18 verankerte Vorhaben, für bestimmte schwere Delikte die Möglichkeit zu schaffen, ein abgeschlossenes Verfahren zuungunsten der freigesprochenen Person wieder aufzunehmen. Dies folge einem Gebot der materiellen Gerechtigkeit; durch die Festlegung auf unverjährbare Straftaten sowie die Vorgabe, dass die neuen Beweismittel dringende Gründe für eine Wiederaufnahme bieten müssten, sei die Vereinbarkeit der Novellierung mit Art. 103 Abs. 3 GG gewährleistet.
Danach diskutierten die Podiumsteilnehmenden aus verfassungsrechtlicher und aus praktisch-verfahrensrechtlicher Sicht die Novellierung.
Verfassungsrechtlich wurde diskutiert, ob die Novellierung gegen Art. 103 Abs. 3 GG verstoße, wonach niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden dürfe.

DIE VERFASSUNGSRECHTLICHE SICHT

Für die Verfassungsmäßigkeit der neuen Regelung wurde argumentiert, dass jedes Grundrecht abwägungsfähig sei; entscheidend sei, ob der Kern- oder der Randbereich eines Grundrechts betroffen sei. Im Falle von Art. 103 Abs. 3 GG gehe es zudem dem Wortlaut nach um die Verhinderung der doppelten Bestrafung und nicht der doppelten Anklage. Die Doppelbestrafung liege im Kernbereich des Grundrechts und die Doppelverfolgung im Randbereich. Die Vorgabe, dass die neuen Beweismittel dringende Gründe für eine Wiederaufnahme darstellen müssten, sei verfassungskonform auszulegen (Prof. Kubiciel). Dem wurde entgegengehalten, dass man Art. 103 Abs. 3 GG in erster Linie als Doppelverfolgungsverbot und nicht als Doppelbestrafungsverbot lesen müsse, und dass zudem Art. 103 Abs. 3 GG vorbehaltslos gestaltet sei. Auch habe es zu der Frage von Kern- und Randbereichen von Grundrechten bislang nur eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben (Dr. Schiffbauer). Dazu merkte Prof. Singelnstein an, dass die Debatte letztlich eine rechtspolitische und keine dogmatische sei, da Art. 103 Abs. 3 GG grundsätzlich beide Sichtweisen erlaube. Ferner müsse man fragen, um wie viele Fälle es im Ergebnis gehen werde, und ob angesichts der eher geringen zu erwartenden Zahl wirklich ein rechtspolitisches Bedürfnis für die Novellierung bestanden habe. Zu befürchten sei zudem ein Dammbruch, da die Geschichte lehre, dass dann Druck entstehen werde, weitere Lockerungen vorzunehmen. Für die Völkerrechtsstraftaten ergänzte Dr. Schiffbauer, dass diese in der Regel nur dann verfolgt würden, wenn die Beweislage eindeutig sei, sodass sich die Frage einer Wiederaufnahme in der Regel nicht stelle.
Vor allem das Dammbruch-Argument fand Widerspruch: Dr. Magnus wies darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht in Randbereichen immer Korrekturen zulasse, solange diese eng und klar definiert seien. Auch die geringe Zahl der zu erwartenden Fälle sei kein Argument, so Prof. Kubiciel. Zu berücksichtigen sei ferner, dass sich hier zwei Verfassungsprinzipien gegenüberstehen würden, ne bis in idem und das Gebot der materiellen Gerechtigkeit (Dr. Luczak). Dem wurde generell zugestimmt, aber angemerkt, dass das Doppelverfolgungsverbot als Spezialfall des Rechtsstaatsprinzips anzusehen sei, und unklar sei, was genau materielle Gerechtigkeit sei. (Dr. Schiffbauer, Prof. Kubiciel).

DIE SICHT AUS DER PRAXIS

Von Praktikerseite kam viel detaillierte Kritik: Neben dem Dammbruch-Argument – schon jetzt sei von der AfD die Forderung nach Ausweitung des § 362 StPO gekommen – wurde der Haftbefehl problematisiert, vor allem bei lang zurückliegenden Taten; insofern sei es gut, dass das BVerfG diesen nicht mitgetragen habe (Dr. Arnemann). Problematisch sei auch der Umgang mit Altfällen, deren Wiederaufnahme einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot darstellen könnte (Dr. Magnus). Ferner sei zu klären, was passiere, wenn ein Verfahren wegen Mordes wiederaufgenommen wird, aber dann eine Strafbarkeit nur wegen eines anderen Delikts daraus hervorgeht (Meyn, Dr. Arnemann). Dazu wurde angemerkt, dass die anderen Strafbarkeiten verjährt sein könnten (Prof. Kubiciel), während Dr. Luczak deutlich machte, dass § 362 StPO nur die Wiederaufnahme selbst regele, nicht aber den weiteren Verfahrensverlauf. Dem Hinweis, dass die Beweislage insbesondere bei lange zurückliegenden Taten schwierig sei (Dr. Arnemann), wurde allerdings damit widersprochen, dass dies auch für lange zurückliegende Taten gelte, die noch nicht Gegenstand einer Gerichtsverhandlung waren.
Diskutiert wurde auch die Positionierung der Novellierung im strafprozessualen Umfeld: es gebe doch auch andere Formen der Wiederaufnahme, selbst im Strafbefehlsverfahren bei weniger schweren Taten, sodass eine Wiederaufnahme bei schweren Verbrechen doch erst recht möglich sein müsse (Dr. Magnus). Kritisch wurde angemerkt, dass § 362 StPO vor der Novellierung mit den Ziffern 1–3 nur Fehler des vergangenen Prozesses betroffen habe, die schon während des Verfahrens (unerkannt) bestanden hätten, während die Ziffer 5 nun auf neue Beweisgründe abstelle (Dr. Arnemann). Dem wurde allerdings damit widersprochen, dass auch die Ziffer 4 neue Sachverhalte betreffe und es zudem nicht einzusehen sei, warum der reuige gestehende Täter schlechter gestellt werden solle als der bislang entkommene Täter (Dr. Magnus). Auch gehe es sowohl bei Ziffer 4 wie bei Ziffer 5 um die Sicherung des Rechtsfriedens und die Erwartung der Gesellschaft, dass verbrecherische Taten vor Gericht behandelt werden (Dr. Luczak) – wobei das Problem der Unerträglichkeit für die Opfer, die Angehörigen und die Gesellschaft ja in vielen Fällen bestehe (Prof. Singelstein, Dr. Arnemann). Dazu wurde angemerkt, dass es schon einen Unterschied mache, ob ein Täter selbst durch ein Geständnis einem erneuten Verfahren zustimme (Dr. Schiffbauer), und darüber hinaus ein Geständnis ein klarer Beweis sei, während dies für alle anderen Beweiskategorien so nicht gesagt werden könne (Prof. Singelstein). Zu bedenken sei dazu, dass Ziffer 4 jede Form von Bekanntmachen betreffe, nicht nur offizielle Geständnisse. Und außerdem sei bei der Auflistung unverjährbarer Verbrechen das Verbrechen der Aggression (§ 13 Völkerstrafgesetzbuch) vergessen worden. Abschließend merkte Prof. Kubiciel an, dass bei § 362 StPO keine Rede von einer systematischen Auflistung von Wiederaufnahmegründen sein könne, was verfassungsrechtlich problematisch sei; es sei zu hoffen, dass das BVerfG zwingende Definitionen für Wiederaufnahmegründe finde.

REGE BETEILIGUNG AUS DEM PUBLIKUM

Nach der Podiumsdiskussion gab es noch Gelegenheit für Beiträge aus dem Auditorium. Im Verlauf der Diskussion hatte sich bereits gezeigt, dass die Zuhörenden die Novellierung eher skeptisch sahen. Dies spiegelte sich auch in den Beiträgen wider. Die Fragenden thematisierten die Dammbruch-Problematik, die Erträglichkeitsproblematik, das Problem, dass es auch noch andere schwer erträgliche Straftaten gebe, das Problem, dass die Politik der Gesellschaft bei unerträglichen Fällen nicht die Bedeutung der Schutzgüter von Art. 103 GG erkläre, sondern dazu neige, auf diese Fälle, die zudem häufig wenig praxisrelevant seien, mit Gesetzesverschärfungen zu reagieren, und das generelle Problem, dass bei Änderungen in der StPO immer nur ver- und nie entschärft werde.
Vom Podium wurde dazu auf die hohen Hürden von § 362 Nr. 5 StPO durch den klar eingeschränkten Anwendungsbereich auf unverjährbare Taten und das Erfordernis dringender Wiederaufnahmegründe verwiesen (Dr. Luczak); zudem würden diese Beschränkungen die Unerträglichkeit objektivieren (Dr. Schiffbauer). Ferner sei es ein Irrtum, dass die Politik immer auf Petitionen und Stimmungen reagiere, sie handele durchaus auch aus Überzeugung. Man müsse aber der Gefahr begegnen, dass durch die Novellierung Druck entstehe, den Anwendungsbereich zu erweitern (Dr. Luczak).

Fazit: Eine sehr spannende Veranstaltung, die viele Facetten zu der Erweiterung von § 362 StPO beleuchtete beleuchtete – ebenso spannend wird es nun zu hören, was das BVerfG zu alledem sagt.