Neue Landgerichtsstrukturen in Berlin

Ab dem 1. Januar 2024 wird es ein Landgericht für Strafsachen und ein Landgericht für Zivilsachen geben.

Als sich im Sommer 1990 abzeichnete, dass Deutschland und Berlin in Kürze und mit großer Hast zur Einheit von Staat und Stadt zurückfinden würden, machte sich mein sehr geschätzter Vorgänger im Amt, Präsident des Landgerichts Manfred Herzig, Gedanken über die Zukunft seines Gerichts. Sollte das Landgericht Berlin mit Sitz im Gebäude des früheren Landgerichts Berlin III am Tegeler Weg in Charlottenburg nach der Einheit einfach seine Zuständigkeit auf den Ostteil der Stadt mit seinen 1.279.212 Einwohnern ausdehnen? Oder wäre es sinnvoller, das dem Landgericht bald wieder zur Verfügung stehende Gebäude in der Littenstraße im Bezirk Mitte zu nutzen, um ein zweites Landgericht in Berlin zu errichten?

Dr. Holger Matthiessen | seit 2019 Präsident des Landgerichts Berlin | 2013–2019 Präsident des Landgerichts Frankfurt (Oder) | 2007–2013 Vizepräsident des Landgerichts Berlin, Dienststelle Tegeler Weg | demnächst Präsident des Landgerichts Potsdam

Manfred Herzig sprach sich für die Beibehaltung eines einheitlichen Landgerichts für ganz Berlin aus. Nur so könne die funktionierende Rechtspflege im Westteil aufrechterhalten und zugleich die Integration des Ostteils vorgenommen werden. Es verbiete sich in jedem Fall, bei der Errichtung eines neuen Landgerichts im bisherigen Ostteil der Stadt den Mauerverlauf in den Gerichtsstrukturen zu konservieren. Der Landgerichtspräsident konnte die damalige Justizsenatorin Jutta Limbach von dieser Einschätzung überzeugen. In einer Besprechung im August 1990 gab sie ihre Entscheidung zu Protokoll, dass es „mindestens zunächst“ bei einem Landgericht in Berlin bleiben solle, sodass es auch weiterhin nur einen Landgerichtspräsidenten geben würde.

EINE STRUKTURREFORM NACH MEHREREN VERGEBLICHEN ANLÄUFEN

Dass dieser eher vorläufige Zustand mehr als 33 Jahre Bestand haben würde, hätte damals wohl niemand vermutet. Zahlreiche Versuche einer grundlegenden Strukturreform des Landgerichts Berlin sind seit den ersten Überlegungen zu Beginn der 2000er-Jahre gescheitert. Ich selbst habe meine Bewerbung auf die Position des Präsidenten des Landgerichts Berlin im Jahr 2018 mit der Absicht verbunden, einen neuen Anlauf für eine solche Reform zu unternehmen. Erleichtert wurde dies wiederum durch meine unmittelbare Vorgängerin in diesem Amt, Gabriele Nieradzik, die ins Bundesministerium der Justiz gewechselt war und sich hier erfolgreich für eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes eingesetzt hatte. Dieses lässt seit dem 1. Januar 2021 in § 60 Abs. 2 nunmehr ausdrücklich die Schaffung von Landgerichten mit einer ausschließlichen Zuständigkeit für Zivil- oder für Strafsachen zu. An der Hürde, dass bei einer Teilung des Gerichts alle Teile mit Zivil- und Strafkammern auszustatten und hierfür hohe Investitionen in die Sicherheit erforderlich wären, waren frühere Reformvorhaben stets gescheitert.
Die Schaffung von zwei Landgerichten in Berlin, einem Landgericht für Strafsachen und einem Landgericht für Zivilsachen, hat dann Ende 2021 tatsächlich Eingang in die Koalitionsvereinbarung für den rot-grün-roten Senat unter Franziska Giffey gefunden. Dass dieses Gesetzgebungsvorhaben schließlich in der kurzen Zeit bis zur Nachwahl des Abgeordnetenhauses am 12. Februar 2023 realisiert werden konnte, ist wiederum eine höchst beachtliche politische Leistung der Justizsenatorin Lena Kreck und ihrer Senatsverwaltung.

„Gesetz zur Neuordnung im Abgeordnetenhaus einstimmig verabschiedet“

Durch das am 26. Januar 2023 im Abgeordnetenhaus einstimmig verabschiedete Gesetz über die Neuordnung der Berliner Landgerichtsstruktur“ wird nun zum 1. Januar 2024 ein weiteres Landgericht in Berlin errichtet, das Landgericht Berlin II. Das bisherige Landgericht wird als Landgericht Berlin I fortgeführt. Die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den beiden Gerichten ist eine inhaltliche und keine räumliche. Das Landgericht Berlin I wird für die landgerichtlichen Strafsachen der gesamten Stadt, das Landgericht Berlin II für die Zivilsachen zuständig sein. Trotz der Verwendung römischer Ziffern unterscheiden sich die Berliner Landgerichte damit von den Landgerichten München I und II und auch von ihren eigenen Rechtsvorgängern, den bis April 1933 bestehenden und von den Nationalsozialisten zusammengefassten Landgerichten Berlin I, II und III, mit ihren räumlichen Zuständigkeitsabgrenzungen. In einem Zusatz zu den römischen Ziffern können die beiden neuen Gerichte auf ihre Zuständigkeit, also „Landgericht für Strafsachen“ bzw. „Landgericht für Zivilsachen“ hinweisen. Das Landgericht Berlin II wird weiterhin auf zwei Standorte, die Gebäude in der Littenstraße und am Tegeler Weg, aufgeteilt bleiben, wenn nicht doch irgendwann eine Zusammenführung an einem Standort gelingt.
Spartenlandgerichte sind in Deutschland bislang ohne Vorbild. Ein erfolgreiches Spartengericht für Strafsachen existiert in Berlin immerhin mit dem Amtsgericht Tiergarten. In Österreich gibt es in den größten Städten Wien und Graz schon seit 1920 eigene Landesgerichte für Zivil- und für Strafsachen, die man durchaus als Vorbild für die Berliner Gerichte ansehen kann.

WAS BRINGT NUN DIE REFORM?

Mit dem Vorhaben sind mehrere Ziele verbunden: Die Aufteilung des übergroßen Berliner Landgerichts mit seinen drei Standorten und mehr als 800 Beschäftigten soll nach der Gesetzesbegründung zu effizienteren Verwaltungsabläufen mit ortsnahen Entscheidungen und einer dezentralen Ressourcenverantwortung führen. Dies gilt namentlich für die bislang zentral für alle Standorte geführten Bereiche Haushalt und IT, die sich künftig den sehr unterschiedlichen Belangen der beiden Sparten, etwa bei der Digitalisierung und der Ausgestaltung der Säle eines Zivil- und eines Strafgerichts, widmen können.
Besonders wichtig ist, dass künftig eine getrennte Personalentwicklung für die Vorsitzendenpositionen in den Zivil- und in den Strafkammern erfolgen kann. In den Auswahlverfahren können künftig die Neigungen und Fähigkeiten der Bewerberinnen und Bewerber für das Straf- oder das Zivilrecht Berücksichtigung finden. Diese Spezialisierung wird zweifellos die Qualität der Rechtsprechung erhöhen.
Bedeutsam ist aus meiner Sicht ferner, dass die beiden künftigen Gerichtsleitungen die spezifischen Bedürfnisse ihres jeweiligen Spartengerichts sehr viel besser artikulieren können als in der Vergangenheit die Gerichtspräsidentin und die Gerichtspräsidenten des einheitlichen Landgerichts. Sie werden dann hoffentlich noch erfolgreicher beim Einwerben der notwendigen personellen und sachlichen Ressourcen sein.

WAS ÄNDERT SICH FÜR DIE BERLINER ANWALTSCHAFT?

Wenn sich die Ziele der Reform verwirklichen lassen, werden effizientere und besser zu führende Gerichte entstehen. Dies werden hoffentlich auch die Prozessbeteiligten, etwa bei den derzeit deutlich zu langen Verfahrenslaufzeiten, spüren. Sonst wird sich für die Anwaltschaft wenig ändern. Durch die Form der Aufteilung nach der sachlichen Zuständigkeit muss sich an der Struktur der Zivil- und der Strafkammern nichts ändern. Vorbehaltlich der Entscheidung der beiden künftigen Gerichtspräsidien können daher alle Akten bei ihren bisherigen Bearbeitern bleiben, kein Aktenzeichen muss neu vergeben werden.

„Neue Türschilder, neue Dienstsiegel und neue elektronische Postfächer, aber keine neuen Aktenzeichen“

Natürlich müssen ab dem 1. Januar 2024 die neuen Gerichtsbezeichnungen mit ihren römischen Ziffern in die anwaltlichen Schriftsätze aufgenommen werden. Die elektronischen Gerichtspostfächer, die bereits jetzt getrennt für den Zivil- und für den Strafbereich eingerichtet sind, werden vermutlich neue Bezeichnungen erhalten, die dann rechtzeitig bekanntgegeben werden.

WAS IST NOCH ZU TUN?

Die bislang im Zivilbereich des Landgerichts beschäftigten richterlichen und nichtrichterlichen Bediensteten müssen mit Wirkung zum 1. Januar 2024 an das Landgericht Berlin II versetzt werden. Für die neuen Gerichte müssen Türschilder und Dienstsiegel entworfen und gefertigt werden, die ab dem Neujahrstag Verwendung finden sollen.
Bis zum Jahreswechsel 2023/2024 sollen die beiden neuen Verwaltungseinheiten für die Landgerichte Berlin I und II konstituiert und möglichst die neu geschaffenen Stellen innerhalb der Gerichtsleitungen besetzt werden. Die Ausschreibung der Planstellen der Präsidentinnen oder Präsidenten der beiden Landgerichte I und II ist schon Anfang Februar erfolgt. Dass zwei Stellen ausgeschrieben werden, obwohl doch eine derzeit durch den Verfasser dieses Artikels besetzt ist, erklärt sich dadurch, dass ich selbst einen Wechsel in eine andere Position anstrebe. Für beide Gerichte wird es daher einen personellen Neustart geben. Es werden sehr anspruchsvolle und herausfordernde Leitungspositionen werden, auch wenn nur noch jeweils eine Sparte der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu leiten ist. Um die neuen Gerichte zum Erfolg zu führen, bedarf es vielfacher Unterstützung, vor allem auch durch die Leitung des Kammergerichts, eine Unterstützung, die ich in meinem bisherigen Amt leider nicht in dem von mir erwarteten Umfang erhalten habe. Dies kann und muss sich nach einer Neubesetzung der Gerichtsleitungen ändern.
Für mich selbst bleibt die Freude über die Realisierung der von mir lange beförderten Strukturreform und der Ehrentitel, letzter Präsident des Landgerichts Berlin gewesen zu sein.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 05/2023 | 72. Jahrgang