Neukölln für Anfänger

Eine Erkundungsreise

Der Deutsche Anwaltstag 2025 ist in Neukölln zu Gast. Für Sie sind das böhmische Dörfer? Damit liegen Sie schon einmal ziemlich richtig. Die 4 Blocks oder Hipster-Hotspot und UNESCO-Weltkulturerbe? Neukölln ist jedenfalls ganz einzigartig. Einige Anregungen, Neukölln und einige architektonische und kulinarische Highlights zu erkunden …

330.000 Einwohner (mit den Ortsteilen, Britz, Rudow, Gropiusstadt etc.). Arbeitslosenquote 15.1 % (die höchste von allen Berliner Bezirken). Armutsgefährdung bei Kindern 36,4 %. Fast 15 % Sozialhilfeempfänger. Die Amazon-Gangster-Serie 4 Blocks, und ständige Berichte über organisierte Kriminalität, „Familienclans“, Parallelgesellschaften, Problemkiez – viele negative Schlagworte und sehr reale Probleme prägen auch weiterhin das Bild von Neukölln.

Christian Christiani | Rechtsanwalt | Geschäftsführer des Berliner Anwaltsvereins

„4 BLOCKS“ ODER „THE EPICENTRE OF COOL“?

Aber das Bild vom Problemkiez wird Neukölln schon längst nicht mehr allein gerecht. Die Hipster kamen und neben New York Williamsburg galt Neukölln als Hauptsiedlungsgebiet dieser Spezies. „It‘s the epicentre of cool“, schrieb der britische Guardian 2011 über Neukölln, – „which means by the time you read this, it probably isn‘t. Still, if you can bear being sooo last week, Kreuzkölln is nice.“ Kreuzkölln – das ist der nördliche Teil an der Grenze zu Kreuzberg und zum Landwehrkanal. Die Mischung von Menschen in Neukölln ist einzigartig. Englisch, Arabisch, Deutsch, Türkisch hört man in Neukölln überall. Die Digital Nomads zieht es seit Langem ebenso hierher wie die in den letzten Jahren und Jahrzehnten gekommenen Kriegsflüchtlinge und Migranten aus arabischen Ländern.

Die Türme der Sehitlik Moschee

Die Weser Straße ist populäre Partymeile für die einen (mit Bars wie „Thelonious“ für Cocktails, „Beuster Bar“ für Bistrot-Sehnsucht). Die Sonnenallee ist ein Boulevard mit arabischen Geschäften, Konditoreien, Friseurläden. Kennen Sie Halauiet al schbn? Wenn nein, ist das besser für Ihre Linie. Die pure syrische Sünde. Die Konditorei Damaskus mit ihren prachtvollen syrischen Süßigkeiten (und auch das libanesische Restaurant Azzam) sind weit über die nahöstlichen Communities hinaus beliebt.

DAS HERZ VON NEUKÖLLN – DIE KARL-MARX-STRASSE

Das Herz Neuköllns ist vielleicht die Karl-Marx-Straße – nicht nur wegen Amtsgericht und Rathaus Neukölln (U-Bahnhof Karl-Marx-Straße). Zur Klarstellung für auswärtige oder spätgeborene Leserinnen und Leser: Ja – auch Westberlin hatte seine Karl-Marx-Straße – die Benennung erfolgte 1947 im amerikanischen Sektor!

Eine der drei größten Berliner Geschäftsstraßen, Kaufhäuser und das ganze Zubehör deutscher Fußgängerzonen, türkische Hochzeitsboutiquen und Bäckereien, Gastronomie, und mittendrin historische Kinos und Theater, und natürlich das Amtsgericht Neukölln und das Rathaus des Bezirks. Der Heimathafen Neukölln (früher: Saalbau Neukölln) ist ein Relikt aus der Zeit, als das damalige Rixdorf ein Berliner Ausflugs- und Vergnügungsziel vor den Toren von Berlin war. „In Rixdorf ist Musike …“ heißt ein Topchart von damals. Wer durch die Karl-Marx-Straße spaziert, vermutet hier nicht gleich den stillen Berliner Hinterhof (Karl-Marx-Straße 141) mit diesem historischen Theater- und Tanzsaal (der neobarocke Saal im Erdgeschoss ist leider derzeit nicht mehr als Café genutzt). Der Saalbau Neukölln wurde 1876 als „Niesigks Salon“ neben einer Pferdestation gegründet und bot lange Zeit Amüsemang. Doch 1942 diente er als Lager für das Hab und Gut enteigneter jüdischer Neuköllner Bürger. Heute bietet er unter dem Namen „Heimathafen“ Poetry-Slams, Konzerte und Tanz- und Theaterproduktionen.

Und dann gibt es auch noch das vierte Berliner Opernhaus auf der Karl- Marx-Straße: Die Neuköllner Oper im eindrucksvollen Passsagenhaus von 1909 (Karl-Marx-Straße 131 – 133) produziert als freies Theater einen beeindruckenden Genremix des Musiktheaters – von ambitionierten Uraufführungen zum Neukölln-Sitcom-Musical bis zur Barockmusik mit der lautten compagney (Berliner Barockensemble).

Ein Dachgarten auf der Karl-Marx-Straße? Er ist auf dem Dach des Parkhauses der Neukölln-Arkaden entstanden und heißt: Klunkerkranich (Karl-Marx-Straße 66, zu erreichen über die Aufzüge am Eingang Bibliothek/ Post). Ein Parkhaus-Rooftop-Biergarten mit phänomenaler Panorama- Aussicht über Neukölln und Berlin.

200 JAHRE MIGRATIONSERFAHRUNG – RIXDORF UND DIE BÖHMISCHEN FLÜCHTLINGE

Doch die Gegend um die Karl-Marx-Straße hält noch andere Überraschungen bereit: Wenn Sie von hier zum Richardplatz abbiegen, so finden Sie sich plötzlich auf dem Dorfanger des ehemaligen Dorfes Rixdorf wieder. Der Richardplatz mit der alten Dorfkirche vermittelt noch heute eine dörfliche Atmosphäre mitten in Neukölln (Dorfkirche Richardplatz 22, Schule und Gebetssaal von 1753 Kirchgasse 5, historische Schmiede in der Mitte des Richardsplatzes, altes Dorfhaus Richardstraße 80).

Das Dorf ist als „Richardsdorp“ 1360 erstmalig urkundlich erwähnt. Einwanderung hat in Neukölln Tradition: 1737 ließ Friedrich Wilhelm I. protestantische Flüchtlinge aus Böhmen in Rixdorf siedeln, die im Zuge der Rekatholisierung in Böhmen – im Kampf für das christliche Abendland – verfolgt und ermordet wurden. Sie gehörten überwiegend der Herrnhuter Brüdergemeinde an. Die Flüchtlinge siedelten abseits des Dorfangers, an der heutigen Richardstraße und Kirchgasse. Im Jahr 1805 hatte Böhmisch- Rixdorf 319 und Deutsch-Rixdorf 376 Einwohner. Böhmisch-Rixdorf hatte bis zu der Zusammenlegung mit Deutsch-Rixdorf 1874 seine eigene Verwaltung. Der „Böhmische Gottesacker“ mit seinem schmiedeeisernen Eingang in der Kirchhofstraße ist eine der heute noch verbliebenen Spuren.

Erst 1912 wurde Rixdorf im Zuge der Eingemeindung zu Groß-Berlin in „Neukölln“ umbenannt. Das sollte natürlich großstädtischer klingen und den zweifelhaften Ruf Rixdorfs als Hochburg der Kriminalität und „schlechten Sitten“ aufpolieren. Einige Probleme – und die Versuche, sie semantisch zu kaschieren – begleiten Neukölln also schon lange …

Neuköllner Oper. Außenansicht
Neuköllner Oper. Szenenfoto aus der letzten Produktion – VERBRECHEN – TANATAS TEESCHALE

EIN STERN IN NEUKÖLLN

Waren Sie mal am beschaulichen Böhmischen Platz? Hier eröffnete 2016 zwischen Spielplatz, asiatischen Restaurants und mitten im Leben ein Frühstückslokal, das eines der Geheimtipps der Berliner Gastroszene wurde. Inzwischen kann ich es Ihnen verraten, denn das Hallmann & Klee mit Chefin Sarah Hallmann hat längst den Geheimtipp-Status verlassen und einen Michelin-Stern erhalten. An Sommerabenden sitzt man auf dem Böhmischen Platz mit spielenden Kindern, viel Neuköllner Leben ringsum und – wunderbaren Geschmackskombinationen … Neukölln at it’s best.

Nun, das täte einigen anderen gastronomischen Highlights unrecht: Das Eins44 ist ein weiterer Grund, das kulinarische Neukölln zu besuchen. Sie sitzen außen im dritten Hinterhof der Otto-Reichel-Höfe oder im Loft-Innenraum – in einer ehemaligen Essenzen-Destillerie – ein kulinarischer und atmosphärischer Höhepunkt. Und das Restaurant Ezsra in der Schönstedtstraße zwischen Rathaus Neukölln ist – auch wenn es sich mit Understatement als Wine Bistro bezeichnet – ebenfalls ein beliebter Anlaufpunkt (mittags und abends) für Naturweine und Sharing Dishes.

BRITZ UND EIN JURIST AUS DEM UMFELD FRIEDRICHS DES GROSSEN

Ein weiteres fast dörfliches Stück Berlin: Auch das Dorf Britz mit dem Herrenhaus „Schloss“ Britz und Gutshof Britz ging – wie Rixdorf – in Neukölln auf. Das Herrenhaus geht auf ein Rittergut zurück und ist eine Mischung aus brandenburgischem Barock und Historismus. Das Hotel Estrel – Ihnen bekannt durch den Deutschen Anwaltstag – betreibt hier sein Ausbildungsprojekt, die historischen Räume des Herrenhauses „Schloss Britz“ kann man dennoch besuchen.

Im 18. Jahrhundert war Ewald Friedrich Graf von Hertzberg Bewohner von Schloss Britz. In unserem Juristen-Blick auf Neukölln kann er als Dr. Jur. an der Universität Halle nicht unerwähnt bleiben. Weitere Tätigkeiten und Ämter: Direktor der Seidenkommission – erfolgreicher Seidenbau in Britz und Preußen, Landwirtschaftsreformer mit Mustergut in Britz nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, Oberschulrat von Berlin und Gründer einer der modernsten Dorfschulen seiner Zeit in Britz, Bauherr und Kunstauftraggeber mit der Erweiterung des Herrenhauses in Britz und den Ausmalungen durch den Maler und Direktor der Akademie der Künste, Christian Bernhardt Rode, Anhänger der Aufklärung, Reden über den preußischen „Vernunftsstaat“, preußischer Außenminister und Kurator der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Kurz: eine jener Persönlichkeiten, in der sich die allgemeine Gewissheit bestätigt, dass Juristen alles können, was sie nur anpacken. Wenn man uns nur die Zeit dazu gäbe …

Der Park und der historische Gutshof beherbergen das Museum Neukölln – und sogar mit echten Kühen, Hühnern u. a. für Stadtkinder exotischen Tiere. Und dann ist da noch der Gasthof „Gutshof Britz“, in dem der ehemalige Sternekoch Matthias Buchholz nun „ehrliche“ Speisen bereitet.

AUSFLUG ZUM TEMPELHOFER FELD

Seit der Schließung des innerstädtischen Flughafens Tempelhof 2008 liegt ein Teil von Neukölln nicht mehr an einem lauten Flugfeld, sondern grenzt an einen der beliebtesten Parks in Berlin. Das 1936 errichtete monumentale Flughafengebäude mit seinen Hangars bildet hier die Kulisse in Richtung Tempelhof und Kreuzberg. Die riesigen Hangars beherbergen derzeit Kunstmessen, Partys und schufen zeitweise auch viel Raum für die Unterbringung von Geflüchteten. Das Tempelhofer Feld ist mit 396 Hektar (= 500 Fußballfelder) so groß wie der Central Park in New York. Der Volksentscheid von 2014 hat auch noch die kleinste Randbebauung, jede Schaukel und jeden Unterschlupf auf der riesigen leeren Fläche verhindert. Doch zehn Jahre danach lebt die Diskussion wieder auf und Architekten träumen von einer Central-Park-Randbebauung.

Die Neuköllner Parks sind ein eigenes Thema. Historisch bekannt ist die Hasenheide. Der Pädagoge Friedrich Ludwig „Turnvater“ Jahn betrieb hier vor 200 Jahren seinen Turnplatz für paramilitärische Leibesübungen – Ziel der Turnerbewegung war bekanntlich die Befreiung Preußens von der napoleonischen Besetzung. Heute chillt man hingegen gern im Körnerpark, dessen Café Orangerie für Aperos beliebt ist und auch Konzerte veranstaltet.

NEUKÖLLNS UNESCO-WELTKULTURERBE

Ein Muss für Architekturfreunde: die Hufeisensiedlung in Neukölln-Britz. Sie ist eine Ikone des Neuen Bauens im 20. Jahrhundert und das Kernstück des UNESCO-Weltkulturerbes „Siedlungen der Berliner Moderne“ (weitere Berliner Weltkulturerbestätten sind die Museumsinsel und die Park- und Schlösserlandschaft an der Havel zwischen Berlin und Potsdam – das „Preußische Arkadien“).

Die Siedlungen sind die Folge von erhöhtem Wohnbedarf auch aufgrund von Flüchtlingsströmen – damals aus den im Ersten Weltkrieg verlorenen Gebieten. Anfang der 1920er-Jahre fehlten ca. 100.000 Wohnungen in Berlin. Den Charme der Berliner Mietskasernen – die auch das Gesicht Neuköllns prägen – können wir heute ja nur deshalb genießen, weil sie inzwischen mit sanitären Anlagen ausgestattet sind und nur noch von einem Bruchteil der damaligen Personenanzahl bewohnt werden. Eine von fünf Personen bewohnte Einzimmerwohnung galt nicht als überbelegt. Nach der Änderung der Berliner Bauordnung 1925 entstanden zahlreiche Großsiedlungen im sozialen Wohnungsbau, die bessere Wohnbedingungen bei einer möglichst hohen Wohndichte erreichen sollten, ca. 1300 Wohnungen allein hier in der Hufeisensiedlung. Die Siedlung ist Gemeinschaftswerk des Architekten Bruno Taut (übrigens einer jener deutschen Künstler, die vor den Nazis in die Türkei emigrierten), des Architekten Martin Wagner sowie des Gartenarchitekten Leberecht Wigge, entstanden zwischen 1925 und 1933.

Industrielle Arbeitsmethoden, typisierte Wohnungen und Gebäude, wirtschaftliches Bauen wurden hier mustergültig für die Zukunft erprobt. Die Idee der Gartenstadt prägte den „Anger“ um den Teich (eine aus der Eiszeit übriggebliebene Grundwassersenke) in der Mitte des Hufeisens, dessen privaten Nutzgärten und die Gärten und straßenweise unterschiedliche Baumbepflanzung der anderen Bauabschnitte der Siedlung. Einfache, aber effektive gestalterische Mittel sind das Kennzeichen von Bruno Taut, wie die identitätsstiftende typische und kontrastreiche – damals hoch kontroverse – Farbgebung.

Im Ferienhaus „Tautes Heim“ können Besucher die Originalfarbigkeit und gestalterischen Vorstellungen Bruno Tauts und die 20er-Jahre- Inneneinrichtung in Reinform erleben. Im Kopfbau des eigentlichen „Hufeisens“ befindet sich ein Café mit einer kleinen Ausstellung zur Geschichte und Gestaltung der Siedlung (derzeit geöffnet freitags und sonntags von 14 bis 18 Uhr, nächster U-Bahnhof: Blaschkoallee).

EIN NEUES ARCHITEKTURJUWEL

Doch auch ganz aktuell hat Neukölln wieder ein Juwel der Architektur mit sozialem – kommunikativen – Anspruch erhalten. Zwar ist die Wiedererrichtung des Karstadt-Kaufhauses am Herrmannplatz – einst ein Kaufhaustempel der 20er-Jahre – nach dem Entwurf des Stararchitekten David Chipperfield mit der Signa-Pleite leider gescheitert. Aber die private Schöpflin-Stiftung hat an der Herrmannstraße zwei einzigartige Gebäude-Geschwister errichtet – eines für die „Spore Initiative“ (Kultur- und Lernprogramme für biokulturelle Vielfalt) und eins für „Publix“, ein „Medienhaus für Morgen“ für Journalismus und Demokratie- Diskurs. Die beiden Häuser rahmen ein historisches Friedhofstor ein. Sie bilden ein architektonisches Gesamtkunstwerk mit Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Arbeitsräumen, Bibliotheken und Garten, dem ehemaligen Friedhof. Für flüchtige Besucher: das Spore-Café und die Publix-Kantine. Für das Gesamtkunstwerk aus klaren Formen, kommunikativen Räumen und einer kunstvollen Kombination aus rohen Materialien erhielt das Architekturbüro AFF u.a. den DAM-Preis 2025 (Jury Preis des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt a.M.). Es ist ein Stück gebauter Zukunftsoptimismus in Neukölln.

Flughafen Tempelhof. 1989 – Luftaufnahme: Tag der offenen Tür
© Berliner Flughäfen / Archiv

Unesco-Weltkulturerbe: Blick aus der Vogelperspektive auf die Hufeisensiedlung
© Ben Buschfeld, Wikimedia CC-BY-SA-NC

Spore Initiative, Decke
©AFF Foto TJARK SPILLE
Spore Inititative, Außenansicht Rückseite
© AFF Foto TJARK SPILLE

Heft 06 | 2025 | 74. Jahrgang