Nicht gültig für alle Länder
Kultur als böse Falle im internationalen Wirtschaftsrecht
„Rechtskultur“, im weitesten Sinn die Summe der gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten, die in einem Land, in einer Region oder in einem ganzen Rechtssystem die Art und Weise bestimmen und prägen, wie Recht angewendet wird oder wie rechtsberührte Fragen wahrgenommen und eingeordnet werden, kommt in der anwaltlichen Beschäftigung mit grenzüberschreitenden Sachverhalten sehr oft zu kurz. Die Einbeziehung einer fremden Rechtskultur in unser Beraterhandeln ist nicht nur von fundamentaler Bedeutung, sondern leider eine unerschöpflich sprudelnde Quelle von Fehlern,1 und die unbedachte Vorstellung, bei einer egal wie komplizierten und anspruchsvollen grenzüberschreitenden Sache werde es letztlich schon irgendwie abgehen wie zuhause, immerhin sei man erfahren, erfolgreich, und damit „gültig für alle Länder“, ist mitunter eine böse Falle.

Thomas Krümmel, LL.M. (Glamorgan/Wales) | Fachanwalt für Internationales Wirtschaftsrecht | MEYER-KÖRING RAe/StB PartG mbB | www.meyer-koering.de | Chairman | Vorsitzender des International Arbitration Centre am Astana International Finance Centre, Kasachstan | iac.aifc.kz
Bilder © Jakob Schüssler, RAe Brödermann & Jahn, Hamburg
„Die Einbeziehung einer fremden Rechtskultur in unser Beraterhandeln ist eine unerschöpfliche Fehlerquelle“
Ein gutes Beispiel ist die Arbeit mit Vorurteilen und Stereotypen. In den menschlichen Kontakten, die nun einmal Erfordernis jedes grenzüberschreitenden Rechtsund Wirtschaftshandelns sind, begleiten und behüten uns die eigentlich garstigen Stereotypen, Schutzengeln gleich, so lange, bis wir sie aufgrund eigener Kenntnis oder Erkenntnis entweder sicher ausschließen können oder sicher bestätigt finden. Mehr als einmal bin ich selbst nur deshalb in die böse Kulturfalle getappt, weil ich ein in mir wohnendes Stereotyp entrüstet von mir gewiesen habe, ohne darüber nachzudenken, ob es, richtig angewendet, nicht vielleicht helfen könnte, ein deutlich schlimmeres Nachurteil zu ersparen.
DAS GEDÄCHTNIS DES EHRBAREN KONSULTANTEN
Ein afrikanischer Staat trug uns das Mandat an, in Hamburg ein deutsches Spezialunternehmen für Telekommunikationseinrichtungen zu verklagen. Dieses hatte den Auftrag, das Land mit einem Verwaltungsfunknetz auszurüsten. Das millionenschwere Projekt wurde von einem sehr erfahrenen deutschen „Konsultanten“ begleitet. Für den Streitfall hatte der Staat darauf bestanden, die ausschließliche internationale und örtliche Zuständigkeit des Handelsgerichts seiner Hauptstadt zu vereinbaren. Leider verfiel die Regierung des Staates darauf, die Einfuhr der für den Auftrag notwendigen, äußerst umfangreichen und wertvollen Technologie aus Deutschland mit einem Ad-hoc-Sonderzoll von 50 Prozent zu belegen. Nach mehreren Jahren Stillstand konnte im Zuge einer von dem Konsultanten vermittelten Vereinbarung das beschlagnahmte Material ausgelöst werden, wobei es dem deutschen Unternehmen gelang, sich von unserer © Jakob Schüssler, RAe Brödermann & Jahn, Hamburg Mandantin eine Vorauszahlung in Höhe von 100 Prrozent der vertraglichen Vergütung überweisen zu lassen, zu einem Zeitpunkt, da natürlich noch nicht ein einziger Sendemast stand. Unglücklicherweise handelte die Auftragnehmerin dann aber nach der beliebten Maxime „Take the money and run“ und stellte jede Tätigkeit und jegliche Kommunikation ein.
Die von unserer Mandantin beim Handelsgericht ihrer eigenen Hauptstadt gegen das Hamburger Unternehmen eingereichte Klage war am Fehlen eines Rechtshilfeabkommens und der freiwilligen Entgegennahme der Klagezustellung in Deutschland gescheitert.
Über einer Tasse erfrischenden Pfefferminztees in ihrem Büro verkündete uns die Botschafterin des Staates mit ambassadorialer Gravitas, die Hoffnung der Millionen ihrer Staatsbürger ruhe nunmehr allein auf unseren Schultern. Mal ehrlich: So ein Mandat konnte man doch gar nicht ablehnen. Was waren wir motiviert. Unsere Klageschrift begann mit den Worten: „Die Klägerin, eines der ärmsten Länder der Welt …“, und war Anfang eines fünfjährigen Zwischenstreits um die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte, mit langen Schriftsätzen rund um das Thema der Notzuständigkeit in Fällen von „selber schuld“. Mit denen zu den Hamburger Gerichten aber nicht so richtig durchzudringen war, denn die sahen das jeweils ganz einfach. Das Landgericht bescheinigte der Beklagten, sie wolle sich doch nur vor der Zahlung der Forderung drücken, und bejahte seine Zuständigkeit. Die Kollegen vom Hanseatischen OLG sahen das Prorogationsproblem unserer Mandantin eher als so eine Art „Schwierigkeiten in der Durchführung“. Im Verfahren erwies sich der Konsultant als große Bereicherung, denn er verfügte über Niederschriften über die Verhandlungen zum Gerichtsstand und hatte einzelne Äußerungen der Beteiligten teilweise wörtlich im Gedächtnis. Nach sehr langer Zeit erbarmte sich der Senat und beraumte die Zeugenvernehmung des Konsultanten an. Die Gelegenheit, das Blatt zu unseren Gunsten zu wenden.
„Stereotypen sind so lange unsere Schutzengel, bis wir sie entweder sicher ausschließen oder sicher bestätigen können“
Tag der Beweisaufnahme. Mein Zeuge wird formgerecht über seine Wahrheitspflicht belehrt. Action, denke ich. Pustekuchen, sagt das Leben. Auf diese schweren Folgen aufmerksam gemacht, könne er sich an all das kaum noch erinnern, denn es sei ja wirklich schon so lange her, spricht der Konsultant. Und schreibt mir damit in einem einzigen Augenblick ins Stammbuch: Dein Mandantenland ist ein bekanntes Musterbeispiel für Gegenden der Welt, in denen es bei großen Projekten völlig normal ist, dass Schlüsselbeteiligte von anderen Beteiligten nach Strich und Faden bestochen werden, und das so auskömmlich, dass die Zahlung auch Jahre später noch treffsicher das gewünschte Ziel erreicht. Ein Vorurteil hatte sich als die reine Wahrheit erwiesen, das trotz grellster Neonbeleuchtung von uns noblen Rettern mit den starken Schultern nicht gesehen werden wollte.
Beim Debriefing mit der Botschafterin gab es keinen Pfefferminztee mehr.
Eine reiche Fehlerquelle ist die Unkenntnis der Normalvorstellung oder Üblichkeit bestimmter Institutionen oder Prozesse in einem Land mit anderer Rechtskultur. Mein größter Fehler auf diesem Gebiet spielte in einem Mandat einer großen internationalen Naturschutzorganisation. Diese wollte zur Gewinnung zusätzlicher Mittel weltweit Schlüsselanhänger mit kleinen Plüschtieren aus der sogenannten Roten Liste bedrohter Tierarten zu einem um eine Spende aufgestockten Preis verkaufen. Die Lieferung sollte ein deutschschweizer Einzelunternehmer besorgen, der die Produktion nach Südchina vergeben wollte. Der Geschäftsführer meiner Mandantin und ich trafen uns mit dem potenziellen Vertragspartner, von dem uns eine bühnenreife Präsentation der zahlreichen Vorteile der drolligen Tierli und deren in jeder Hinsicht regelkonforme Herstellung durch ein modernes südchinesisches Qualitätsunternehmen zuteil wurde. So ganz geheuer war uns das nicht, denn Unternehmen in Südchina schienen sich ja – guten Tag, liebes Vorurteil – am ehesten durch rechtlose, in vergitterten Sweatshops gehaltene Akkordarbeiter und umweltschädliche Produktionsbedingungen auszuzeichnen – nichts für Naturschützer. Als der liebe Tierlimann durch die Tür war, wurde ich deshalb gebeten, einem geeigneten lokalen Auditunternehmen zur Überwachung der Tierliproduktion zu verhelfen. Ein Anruf bei einem alten Freund, englischer Barrister in Hongkong, und der Geschäftsführer hatte die Adresse eines Unternehmens mit dem hübschen Namen Zhong Nan (Zentraler Süden). Er bedankte sich sehr, und ich hörte lange Zeit nichts weiter von der Sache.
Bis er mich eines Tages außer Atem und unter wüstesten Vorhaltungen anrief. Herr Tierli habe soeben die sofortige Beendigung des Liefervertrages verlangt, weil seine Partner in China ein Audit des „Zentralen Südens“ absolviert hätten. Bei jener Organisation handele es sich um einen schlagkräftigen Zusammenschluss ehemaliger Offiziere von Geheim- und Sicherheitsdiensten der Volksrepublik, die ihre persönliche wirtschaftliche Situation zu optimieren trachteten. Zu auditierende Unternehmen erhielten einen orientierenden Erstbesuch, bei dem die Auditoren Zugang zu allem – allem! – verlangten und unter Androhung physischer Gewalt auch bekamen. Die Ergebnisse wurden in einer Beanstandungsliste evaluiert und zusammengefasst, die dem Unternehmen mit einer Erledigungsfrist von 14 Tagen übergeben wurde. Der Betrieb wurde hiernach erneut von Emissären von Zhong Nan aufgesucht, dabei noch festgestellte allfällige Mängel aus der Auditliste wurden zu Zwecken der Qualitätssicherung und des effizienten Workflows sofort adressiert. Im gegebenen Fall sorgte dies allerdings dafür, dass eine der Produktionshallen des Tierliproduzenten plötzlich in Flammen aufging und bis auf die Grundmauern niederbrannte. Wie durch ein Wunder ist es nie dazu gekommen, dass meine Mandantin mit diesem Vorfall in Verbindung gebracht wurde. Die Tierli kamen nie auf den Markt, und ich frage mich, in welchem Erdteil sie heute an den Zündschlüsselbünden altersschwacher, staubiger Überlandfahrzeuge über Stock und Stein hin- und her baumeln.
Der Fehler bestand darin, in einem fremden Land einem rechtlichen oder tatsächlichen Inbegriff unüberprüft – und hier: im Vertrauen auf persönlich bekannte „freundliche Mächte“ – den gleichen Inhalt zuzuordnen wie hierzulande. Doch schon damals – vor mehr als 20 Jahren – hätte das Vorurteil gesagt: In der Volksrepublik China ist die „private Rechtsdurchsetzung“ regelmäßig mit Gewaltanwendung, Sachschäden und Gefahr für Leib und Leben verbunden, und deshalb muss man genau nachfragen, um diese Aussage im Einzelfall qualifiziert zu bestätigen oder sicher auszuschließen.
AUF DU UND DU MIT DER BÖSEN FALLE
Quintessenz: Viele Prozesse zur Beurteilung der für einen internationalen Fall wesentlichen rechtskulturellen Aspekte stützen sich anfänglich auf stereotype Betrachtungen. Political correctness hin oder her, im internationalen Wirtschaftsrecht müssen wir uns, wollen wir unser Geld für den Mandanten wert sein, solcher Stereotypen – sind sie nur halbwegs sachlich und nicht offen diskriminierend – wohl bewusst sein, bevor wir uns in eine Verhandlung, an einen Vertrag, an einen Streitfall begeben. Die Aufgabe besteht dann allerdings nicht darin, nach der Bestätigung möglichst vieler Stereotypen in unserem Mandanten oder dessen Gegenüber zu suchen und diese „wissend abzuhaken“, sondern vom Ausgangspunkt einer sehr allgemeinen Vorinformation über das, was uns rechtskulturell möglicherweise erwarten könnte, zu erforschen, wie die andere Seite tatsächlich „drauf ist“, und wie man auf diese, für unseren (Rechts-)Kulturkreis fremden Eigenschaften zum Nutzen des eigenen Auftraggebers möglichst gut eingehen kann.