Rechtsprechung des Kammergerichts zum Verkehrsrecht

Richter- und Anwaltschaft im Dialog.

Am 15. März 2023 lud der Berliner Anwaltsverein im Rahmen seiner Veranstaltungsreihe „Richter und Anwaltschaft im Dialog“ zur Fortbildung ein und durfte über 60 Teilnehmer begrüßen, unter ihnen auch zahlreiche Richterinnen und Richter des Amtsgerichts Mitte und des Landgerichts Berlin. Als Referent konnte der RiKG Urban Sandherr, Richter des 3. Senats des Kammergerichts, gewonnen werden, der insbesondere für Rechtsmittel in Bußgeldsachen und Verkehrsstrafsachen zuständig ist. Anhand einer Vielzahl von Entscheidungen erläuterte RiKG Sandherr den Teilnehmern ausführlich und lebensnah Einzelfragen zur Rechtsprechung zum EScooter und zum Kraftfahrzeugrennen sowie zur Rechtsbeschwerde und gab zu strittigen Verfahrensfragen wertvolle Hinweise.

Maximilian Gutmacher | Rechtsanwalt | www.ra-gutmacher.de | www.autorechtler.de

EIN E-SCOOTER-FAHRER IST KRAFTFAHRZEUGFÜHRER UND AB 1,1 PROMILLE ABSOLUT FAHRUNTÜCHTIG

Zunächst hatte das KG einen Fall in der Sprungrevision zu entscheiden, bei dem der Fahrzeugführer eines Elektrokleinstfahrzeugs (hier sog. Elektroscooters) wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr verurteilt wurde. Er erhob die Sachrüge und beanstandete, das AG habe zu Unrecht die von der Rechtsprechung für Fahrten mit Kraftfahrzeugen entwickelte Beweiserleichterung angewandt und allein von der Blutalkoholkonzentration (BAK) von mindestens 1,10 ‰ auf die (absolute) Fahruntauglichkeit zurückgeschlossen. Auf E-Scooter sei diese Beweiserleichterung nicht anwendbar. Zudem seien die Feststellungen des Amtsgerichts zur Beschaffenheit des vom Angeklagten geführten Fahrzeugs unzureichend. Der Senat stellte hierzu zunächst fest: „Die Feststellungen lassen den rechtlichen Schluss des AG zu, dass es sich bei dem vom Angeklagten geführten E-Scooter um ein – nicht selbstbalancierendes – Elektrokleinstfahrzeug nach § 1 Abs. 1 eKFV handelte. Ein solches Fahrzeug ist bereits nach dem Wortlaut von § 1 Abs. 1 eKFV ein Kraftfahrzeug.“ Zudem ergebe sich dies zwanglos aus der Legaldefinition von § 1 Abs. 2 StVG, wonach Kraftfahrzeuge i.S.d. StVG Landfahrzeuge sind, die durch Maschinenkraft bewegt werden, ohne an Bahngleise gebunden zu sein. Dies trifft auf E-Scooter zu, die wegen ihres ausschließlichen Maschinenantriebs nicht dem Ausschluss von § 1 Abs. 3 StVG unterliegen.

„Der Wert von 1,10 ‰ gilt daher weiterhin für alle Kraftfahrzeuge, mithin auch für E-Scooter“

Als Maßstab der Beurteilung der Frage, ab welchem Grenzwert alkoholbedingte absolute Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers i.S.d. §§ 315c Abs. 1 Nr. 1a, 316 Abs. 1 StGB anzunehmen ist, zieht der Senat in ausführlicher Betrachtung medizinisch-naturwissenschaftliche Erkennt nisse heran und sieht für die vom Angeklagten geforderte Anhebung des Grenzwerts absoluter Fahruntauglichkeit für Fahrer von E-Scootern auf einen über 1,10 ‰ liegenden Wert keinen Raum. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass ein Kraftfahrzeugführer ab einer BAK von 1,10 ‰ unwiderleglich (absolut) fahruntauglich ist, weswegen es in so gelagerten Fällen lediglich Feststellungen zur Tatzeit, zum Zeitpunkt der Entnahme einer Blutprobe sowie zur (daraus ermittelten) BAK bedarf, um zutreffend von einer Fahruntauglichkeit des Angeklagten auszugehen. Der Wert von 1,10 ‰ gilt daher weiterhin für alle Kraftfahrzeuge, mithin auch für E-Scooter (Urteil v. 10.05.2022 – (3) 121 Ss 67/21 (27/21)).

ENTZIEHUNG DER FAHRERLAUBNIS BEI E-SCOOTER-FAHRER?

Eine weitere Entscheidung betraf die Frage der Entziehung der Fahrerlaubnis. Der Senat verwarf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des AG als offensichtlich unbegründet und entschied, die Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Festsetzung einer Sperrfrist (§§ 69, 69a StGB) sei, obwohl ein Regelfall abgeurteilt wurde, ausgesprochen ausführlich begründet. Bei einem Regelfall kann die sonst erforderliche Gesamtabwägung der für oder gegen die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sprechenden Umstände unterbleiben, und die tatrichterliche Prüfung kann sich darauf beschränken, ob ausnahmsweise besondere Umstände vorliegen, die der Katalogtat die Indizwirkung nehmen könnten; nur beim Hinzutreten solcher Umstände bedarf die Entziehung der Fahrerlaubnis einer eingehenden Begründung. Diesen Anforderungen genügt das Urteil. Substantiiert erörtert es die Überlegung, der betrunkene Fahrer eines E-Scooters könnte für den Straßenverkehr weniger gefährlich sein als der Führer eines anderen Kraftfahrzeugs. Die Besonderheiten der Fallgestaltung sind damit ausreichend berücksichtigt worden (Beschl. v. 31.05.2022 – 3 Ss 13/22).

KRAFTFAHRZEUGRENNEN AUF 50 METERN RENNDISTANZ

Durchaus praxisrelevant erschien auch die weitere referierte Entscheidung des Senats in Verkehrsstrafsachen. Hier wandte sich der Angeklagte gegen eine Verurteilung wegen eines nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB begangenen verbotenen Kraftfahrzeugrennens. Die Revision wurde als offensichtlich unbegründet verworfen und der Senat bemerkte erläuternd: Auch die mit 50 Meter recht kurze Renndistanz steht einer Würdigung des Geschehens als Kraftfahrzeugrennen nicht entgegen. Aus dem Wortlaut der Norm lässt sich nichts anderes ableiten. Die Vorschrift ist als abstraktes Gefährdungsdelikt ausgestaltet, weil illegale Kraftfahrzeugrennen mit der Gefahr des Kontrollverlusts erhebliche Risiken für andere Verkehrsteilnehmer bergen.

„Auch die mit 50 Meter recht kurze Renndistanz steht einer Würdigung des Geschehens als Kraftfahrzeugrennen nicht entgegen“

An dieser Stelle offenbleiben konnte, ob eine teleologische Reduktion des Tatbestands angezeigt ist, wenn beim Rennen keine weiteren Verkehrsverstöße begangen werden. Denn das AG hatte neben einer Geschwindigkeitsüberschreitung (§ 3 Abs. 3 StVO) auch festgestellt, dass der Angeklagte mit „lautstarken Motorengeräuschen und mit quietschenden Reifen“ startete. Dies verstößt gegen § 30 Abs. 1 Satz 1 StVO (Beschl. v. 18.05.2022 – 3 Ss 13/22).

URKUNDENFÄLSCHUNG KLAMMERT FAHREN OHNE FAHRERLAUBNIS

Zur Frage der Handlungseinheit (§ 52 StGB) verwies RiKG Sandherr auf die neuere BGH-Rechtsprechung. Seit BGHSt 21, 203 sei zwar gefestigt anerkannt, dass der vom betrunken oder ohne Fahrerlaubnis fahrenden Täter verursachte und bemerkte Verkehrsunfall konkurrenzrechtlich eine Zäsur bildet: Fährt der Täter hiernach weiter, so handelt es sich um eine andere und neue Tat im sachlich-rechtlichen Sinn (§ 53 StGB). Diese Zäsurrechtsprechung wird aber nach neueren BGH-Judikaten von dem Grundsatz überlagert, dass das Herstellen und das Gebrauchen einer unechten Urkunde nicht nur eine tatbestandliche Handlungseinheit bilden, sondern dass im Fall unechter Kennzeichen das fortdauernde Gebrauchen der Urkunde sogar mehrere Fahrten zu einer Tat verklammert (vgl. BGH, NZV 2019, 37, mit ähnlichem Sachverhalt wie hier) (Beschl. v. 27.02.2023 – 3 ORs 5/23).

RECHTSMITTEL IN BUSSGELDSACHEN

Ebenso aufschlussreich wie aktuell waren weitere referierte Entscheidungen zu Verkehrsbußgeldsachen. So lehnte der Senat in einem Fall die begehrte Zulassung der Rechtsbeschwerde ab, teilte aber insoweit „lediglich informatorisch“ zur Frage der Dokumentation von Messdaten bei Geschwindigkeitsmessungen mit, dass der Senat bereits verschiedentlich entschieden hat, dass Messverfahren die Messdaten nicht speichern müssen, so dass auch nicht dokumentierende Verfahren verwertbare Ergebnisse erzeugen können. Aus der vom Rechtsmittelführer angeführten Entscheidung des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 ergibt sich nichts anderes. Die beim BVerfG zu dieser Frage anhängige Sache 2 BvR 1167/20 ist noch nicht entschieden (Beschl. v. 02.01.2023 – 3 Ws (B) 333/22).
Mit Beschluss v. 28.09.2022 – 3 Ws (B) 226/22 – hob der Senat ein Verwerfungsurteil des AG auf. Das Gericht habe im vorliegenden Fall den Entbindungsantrag des Verteidigers berücksichtigen müssen. Lag der Antrag dem Gericht nicht vor, kommt es darauf an, ob er bei gehöriger gerichtsinterner Organisation unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt zur Bearbeitung hätte zugeführt werden können und müssen.
In einem weiteren Fall hob der Senat die Festsetzung eines Fahrverbots wegen Begründungsmängeln auf. Denn nach mittlerweile gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung ist der Sinn des Fahrverbots dann in Frage zu stellen, wenn die zu ahnende Tat mehr als zwei Jahre zurückliegt. Hier sei eine auf die konkreten Umstände des Einzelfalls zugeschnittene tatrichterliche Prüfung erforderlich, ob das Fahrverbot im Hinblick auf den Zeitablauf seinen erzieherischen Zweck noch erfüllen könne (Beschl. v. 09.11.2022 – 3 Ws (B) 291/22).
Auch angesichts des regen Zuspruchs bleibt weiterhin zu hoffen, dass diese gemeinsame Veranstaltungsreihe der Berliner Richter- und Anwaltschaft ihre Fortführung findet.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 07/08 2023 | 72. Jahrgang