Repräsentation totaler Institutionen

Eine künstlerische Perspektive

Mein Name ist Claudia Virginia Vitari, ich bin eine italienische Künstlerin. Ich habe in Deutschland an der Kunsthochschule Burg Giebichestein in Halle an der Saale studiert und lebe derzeit in Berlin. Mein Vater, ein ehemaliger Staatsanwalt, der jetzt im Ruhestand ist, hoffte, dass ich in seine Fußstapfen treten würde. Das ist nicht geschehen. Es ist jedoch möglich, dass der Einfluss meines Vaters eine Rolle bei meiner Entscheidung gespielt hat, als Künstlerin im Gefängnis und mit Asylbewerbern zu arbeiten.

Interstitial Identites Lagermobi, Voice I
Interstitial Identities Lagermobi, Niolvis
Interstitial Identities, Umaru

Claudia Virginia Vitari | www.claudiavitari.com | insta: @claudia_virginia_vitari | Studio: Xtro Ateliers

© Lukas Kuich Photography | © Michele Casagrande Photography | © Janine Mapurunga Photography

Meine Arbeit konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Menschen, die von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedroht sind, und den sozialen Mechanismen der Machtausübung. Durch meine künstlerische Forschung untersuche ich die biopolitischen Konstrukte von Normalität und Diversität, insbesondere in Bezug auf das, was der Soziologe Erving Goffman als totale Institutionen bezeichnet – wie Gefängnisse, psychiatrische Einrichtungen und Asylbewerberheime. Totale Institutionen sind Organisationen, in denen das Leben der Mitglieder weitgehend reglementiert und kontrolliert wird. Diese Institutionen sind durch eine strikte Trennung von Außenwelt und Innenwelt gekennzeichnet und unterwerfen ihre Bewohner oder Insassen einem umfassenden System von Regeln und Routinen. In meinen Projekten reflektiere ich über viele der Konzepte, mit denen sich Goffman, aber auch der Philosoph Michel Foucault auseinandergesetzt haben.

Michel Foucault und Erving Goffman haben beide die Idee der totalen Institutionen untersucht, jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und theoretischen Ansätzen. Während Goffman sich eher auf die sozialen Interaktionen innerhalb dieser Institutionen konzentriert, legt Foucault den Fokus philosophisch auf die „Mikrophysik der Macht“ , die Machtmechanismen, die hinter den Institutionen stehen, wie sie sich historisch entwickelt haben und wie sie unsere Gesellschaft widerspiegeln.

Gesetze und Institutionen regeln das Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft, sind aber niemals neutral. Sie spiegeln soziale Werte wider und haben die Macht, Menschen ein- oder auszuschließen.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben greift beispielsweise auf Foucaults Analysen zurück, um die biopolitische Dimension des Rechts zu untersuchen. Er argumentiert, dass der moderne Staat nicht nur das Verhalten reguliert, sondern auch darüber entscheidet, wer als vollwertiger Mensch gilt und wer nicht.

Agamben führt die nationalsozialistischen Konzentrationslager als paradigmatisches Beispiel für eine solche Trennung an, aber er erkennt auch Spuren ähnlicher Mechanismen in vielen zeitgenössischen Praktiken, wie etwa in Flüchtlingslagern, Gefängnissen und Verwaltungshaft. Laut Agamben funktionieren Gesetze und Institutionen durch einen Mechanismus des „einschließenden Ausschlusses“: Sie halten einige Individuen innerhalb des Rechtssystems und gewähren ihnen Schutz, während sie andere ausschließen und in eine Grauzone zwischen Recht und Nicht-Recht verbannen.

Das offensichtlichste Beispiel für dieses Phänomen ist heute die Behandlung von Migranten und Geflüchteten, die sich oft in einem rechtlichen Schwebezustand befinden: Der Staat erkennt sie nur insofern an, als er sie kontrolliert, ohne ihnen bürgerliche Rechte zu gewähren. Agamben fordert uns auf zu erkennen, dass Institutionen und Gesetze keine neutralen Instrumente der sozialen Ordnung sind, sondern vielmehr Instrumente der Macht, um zu bestimmen, wer zur politischen Gemeinschaft gehören darf und wer nicht. Dies erfordert ein kritisches Nachdenken über die moderne Demokratie und ein radikales Überdenken der Beziehung zwischen Recht, Souveränität und Freiheit.

Meine künstlerische Praxis zielt darauf ab, genau diese Themen zu hinterfragen, indem sie durch partizipative Projekte die Beziehung zwischen individueller Identität und institutioneller Macht analysiert.

KÜNSTLERISCHE NARRATIVE VON EINSCHLUSS UND AUSSCHLUSS

Ein zentrales Thema meiner Arbeit ist die Frage, warum bestimmte Gruppen gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Im Laufe der Jahre habe ich mit verschiedenen marginalisierten Gemeinschaften gearbeitet: mit Gefangenen in Italien („PERCORSOGALERA“, 2009, Turin) und mit „Radio Nikosia“ in Barcelona, dem ersten spanischen Radiosender, der von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen organisiert wird („Le Città Invisibili“, 2012 – 2013). Seit 2014 arbeite ich in Berlin mit asylsuchenden Menschen („Interstitial Identities“, laufendes Projekt).

Ich suche gezielt nach Geschichten oder marginalisierten Realitäten und führe jahrelange Recherchen und Interviews durch, wobei ich in gewisser Weise Teil der Gemeinschaft werde. Ich beginne damit, das Thema aus verschiedenen kulturellen Blickwinkeln zu analysieren: mit einer historischen Untersuchung, einer Mischung aus philosophischer und soziologischer Literatur (Foucault, Fanon, Goffman u. a.) sowie narrativen und informellen Texten (Kafka, Camus, Calvino u. a.). All dies spiegelt die Haltungen, Werte und konzeptionellen Ansätze wider, die unser Denken im Laufe der Zeit geprägt haben.

Anschließend dokumentiere ich individuelle Lebensgeschichten, indem ich die Beteiligten – von denen ich Porträts und Interviews anfertige – bitte, sich selbst als Invididuen zu beschreiben. Ihre Erzählungen werden zu einer Vielzahl von Stimmen verdichtet mit dem Ziel, unsere Wahrnehmung zu schärfen und uns zu ermöglichen, Erzählperspektiven jenseits der üblichen zu erkennen.

Der Vergleich zwischen Theorie und zeitgenössischer Realität ist entscheidend, um eine kritische und aktuelle Analyse der behandelten Themen zu bieten.

Die Wahl der Materialien und Techniken ist ebenso durchdacht, mit dem Hauptziel, diese Geschichten zu visualisieren und zu kristallisieren. Licht, Glas, Eisen und Gips sind die Hauptmaterialien. Porträts, Notizen und Zitate werden durch Siebdruck auf das transparente Material übertragen. Die einzelnen Schichten werden in Skulpturen eingearbeitet und von hinten beleuchtet. Diese Dokumente ähneln einem Tagebuch und gewähren Einblicke in individuelle Erzählungen. Durch die Transparenz des Glases kann man hindurchsehen, sodass die Installation zu einer Art „Lupe“ wird, durch die man die Realität anhand der im Glas eingeschlossenen Geschichten betrachten kann.

MEINE PARTIZIPATIVE PRAXIS IN BERLIN: IDENTITÀ INTERSTIZIALI

Seit 2014, mit dem zunehmenden Phänomen der Migration, ausgelöst durch geopolitische Konflikte im Mittelmeerraum und die anhaltende Klimakrise, habe ich meinen Fokus auf die Bedingungen von asylsuchenden Menschen und die sozialen Spannungen in den Aufnahmeländern gerichtet.

Identità Interstiziali basiert auf der teilnehmenden Beobachtung des Lebens und der Proteste verschiedener Gruppen von asylsuchenden Menschen in Berlin. In einem Prozess der Beobachtung und Dokumentation habe ich über mehrere Jahre hinweg Informationen und Porträts gesammelt, die in dieser Installation zusammenfließen.

Die Glasmodule sind im Siebdruckverfahren bedruckt und in der Glashütte bearbeitet; die in den Glaskugeln bedruckten Geschichten reagieren durch die Metallverbindungen miteinander und symbolisieren die restriktiven sozialen Beziehungen, die durch die Bürokratie des Aufnahmelandes diktiert werden. Den Protagonisten wird abverlangt, im Aufnahmeland eine neue Identität anzunehmen, doch dies ist aufgrund der interstiziellen Wartezeit und des Fehlens bürgerlicher Rechte nicht möglich.

Identità Interstiziali ist in drei Werkzyklen unterteilt: O-Platz, Lagermobi und Umaru.

O-Platz entstand aus der Beobachtung des Lebens und der Proteste einer Gruppe von Asylsuchenden, die die Besetzung des Oranienplatzes ( eines Platzes in Berlin) über mehrere Monate hinweg koordinierten. Die Texte sowie die grafischen Elemente des Installationsprojekts heben die durch die bürokratisch-legislativen Vorschriften zum Asylrecht verursachte Blockade im Leben der Migranten hervor und zeigen die dadurch entstehenden Spannungen im Aufnahmeland auf.

Lagermobi konzentriert sich insbesondere auf das Leben und die Schwierigkeiten von Migranten, die in verschiedenen Unterkünften in Berlin untergebracht sind. Ich besuchte diese Unterkünfte gemeinsam mit einer Gruppe von Bürgerrechtsaktivisten – dem „Lager Mobilization Network“, einer kleinen Berliner Gruppe, für die die zwischenmenschliche Dimension in sozialem und politischem Engagement eine zentrale Rolle spielt.

Der Zyklus Umaru erkundet nicht die Zwischenräume, die von einer ganzen Gruppe mit Ausschlussrisiko bewohnt werden (wie in den vorherigen Werken), sondern fokussiert sich auf die persönliche Geschichte eines Einzelnen. Umaru konnte nach 15 Jahren des Wartens auf die erforderlichen Dokumente erstmals in sein Heimatland zurückkehren, um seine Familie zu besuchen. Die siebgedruckten Glasarbeiten, die diese Reihe bilden, basieren auf Umarus eigenen Texten und unzähligen Gesprächen.

KUNST IN KOMMUNIKATION MIT DER RECHTSREALITÄT

Die Verbindung zwischen Kunst und Recht mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, doch diese beiden Disziplinen haben Berührungspunkte. Das Recht ist kein starres, unveränderliches System von Regeln, sondern ein Instrument der sozialen Konstruktion, das kontinuierlich hinterfragt werden kann und sollte. Kunst kann die historischen Ursprünge von Normen beleuchten, um ihre Natur als Konstrukte in der heutigen Gesellschaft zu verdeutlichen, und so zu einem Raum für Kritik und Analyse werden.

Interstitial Identities, Umaru I PERCORSOGALERA
PERCORSOGALERA 2009, Silkscreening on epoxyresin, Iron, Museo del Carcere Le Nuove I Interstitial Identities. Exhibition Museo Diffuso della Resistenza Torino

Heft 06 | 2025 | 74. Jahrgang