Richter- und Anwaltschaft im Dialog

Aktuelle Rechtsprechung des Kammergerichts zum Gewerberaummietrecht

Am 15. Februar 2023 referierte Herr Rainer Bulling, Vorsitzender Richter des 8. Senats am Kammergericht zu Entscheidungen des Kammergerichts zum Gewerberaummietrecht im Jahr 2023. Ich hatte das Vergnügen, den Referenten zu Beginn der Veranstaltung im Namen des Berliner Anwaltvereins zu begrüßen. Dass ich dabei die Gelegenheit nutzte, Werbung für den Arbeitskreis Mietrecht und WEG zu machen, wurde mir nachgesehen.

Johannes Hofele | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Steuerrecht | Breiholdt und Partner Rechtsanwälte | Sprecher des Arbeitskreises Mietrecht und WEG im BAV

Herr Bulling stellte in gewohnt souveräner und entspannter Weise 25 praxisrelevante Entscheidungen vor, wobei aus anwaltlicher Sicht gerade auch Hinweise „zwischen den Zeilen“ interessant waren. Erfreulich aus anwaltlicher Sicht war, dass Herr Bulling mehrfach erwähnte, dass die eine oder andere Partei anwaltlich sehr gut vertreten gewesen sei – auch wenn das Verfahren dann ggf. trotzdem zu Ungunsten der Partei ausgegangen ist. Da der strukturierte und vollständige Sachverhaltsvortrag die ureigenste Aufgabe der Anwaltschaft ist, sollte das für jeden Anwalt und jede Anwältin Ansporn sein, nicht nur, aber gerade bei den höheren Instanzen juristisch sauber zu arbeiten. Denn man kann Richter und Richterinnen durch gute Argumentation überzeugen.
Einige der Fälle sollen hier näher vorgestellt werden, wobei ich zur besseren Verständlichkeit einige Entscheidungen teilweise etwas ausführlicher darstelle. Für alles, was nicht richtig ist oder unklar dargestellt ist, bin ich verantwortlich.

1. EIN DAUERBRENNER: MISCHMIETVERHÄLTNIS

Überschrieben war der Vertrag mit „Mietvertrag über Gewerberäume“, vermietet waren Räume „ausschließlich zum Betrieb eines Ateliers, Workshopräume, Ausstellungsraum sowie einer Holz- und Metallwerkstatt“. Es war eine „Wohnnutzung im Obergeschoss auf 238 qm von 401 qm gestattet“. Der Vermieter erhebt nach ordentlicher Kündigung Räumungsklage. Der Streit ging darum, ob der Vermieter – nach Gewerberaummietrecht – ohne Begründung kündigen konnte, oder er – nach Wohnraummietrecht – eine Begründung brauchte. Bei Mischmietverhältnissen gilt das Prinzip „Entweder-oder“ bzw. „Ganz oder gar nicht“. Das Kammergericht konnte sich auf die Rechnung des BGH stützen, nach der es auf den Parteiwillen im Einzelfall ankommt: Gewerberaummietrecht findet nur Anwendung, wenn der Parteiwille bei Vertragsschluss darauf gerichtet ist, dass der vorherrschende Vertragszweck eine gewerbliche Nutzung sein soll. Hierzu hat der BGH verschiedene Indizien entwickelt (vgl. BGH, Urteil v. 09.07.2014 – VIII ZR 376/13, NJW 2014, 2864). Das Kammergericht wendet diese Indizien – anders als das Landgericht – zutreffenderweise so an, dass hier die Gewerberaumnutzung überwog, Vermieter also ordentlich kündigen konnte (Urteil v. 28.04.2022 – 8 U 201/21 – n.v).

2. KOSTENÜBERNAHMEERKLÄRUNGEN UND PROZESSUALES

Ein Unternehmer, der Unterkünfte für Asylbewerber bereitstellt, verklagte das Land Berlin auf – weitere – Zahlungen auf Basis von „Kostenübernahmeerklärungen“. Eigentlich gehört der Fall vor die Sozialgerichte. Die Klage wurde aber vor dem Landgericht erhoben, was nicht gerügt wurde, und vom Landgericht wurde der ordentliche Rechtsweg auch bejaht. Diese Entscheidung ist für das Kammergericht nach § 17 Abs. 5 GVG bindend, sodass es sich damit zu befassen hatte. Die inhaltliche Prüfung ergab, dass der Unternehmer keine weiteren Ansprüche über die erhaltenen Abschlagszahlungen hinaus geltend machen konnte.
Der Fall hat einen prozessual interessanten Aspekt: Das Landgericht hatte den verspäteten Vortrag des Unternehmers zurückgewiesen. Der Vortrag ist gemäß § 531 Abs. 1 ZPO auch in der Berufungsinstanz ausgeschlossen. Der Unternehmer muss sich am „falschen Rechtsweg“ festhalten lassen: Trotz des unrichtigen Rechtsweges gilt nach BVerwG NJW 2021, 2600 die ZPO (Beschluss v. 02.05.2022 – 8 U 1024/20 – n. v.).

3. BGB AT: ANNAHMEFRIST

Auch ein Klassiker im Geschäftsraummietrecht: Die Parteien unterschreiben den Mietvertrag nicht gemeinsam an einem Tisch, sondern schicken die unterschriebenen Exemplare hin und her. Hier heißt es aufpassen. Auch wenn man weiß, dass die verspätete Annahme eines Angebots dessen Ablehnung darstellt, muss dies in der Praxis überwacht werden. Hier hat das Urteil des BGH v. 24.02.2016 – XII ZR 5/15 – gerade im Zusammenhang mit den verschiedenen Urteilen zur „Wahrung der äußeren Form“ – durchaus für Zündstoff gesorgt.

So auch im Fall des Kammergerichts (Darstellung stark vereinfacht): Ein Fabrikgebäude wird als Flüchtlingsunterkunft vermietet, wobei der Mieter das Gebäude noch zur Nutzung als Unterkunft hätte herrichten müssen. Der Mieter tut dies nicht vollständig, zahlt allerdings für mehrere Monate die Miete. Er erklärt dann die Anfechtung, eine fristlose und ordentliche Kündigung und gibt das Objekt zurück.
Der Vermieter klagt die Miete für die Restlaufzeit ein, der Mieter widerklagend die Miete zurück. Im Rechtsstreit ergab sich dann, dass der Vermieter die Annahme zu spät erklärt hatte. Auch bei komplexen Geschäftsraummietverträgen gelten für die Annahmefrist in der Regel nur 2–3 Wochen. Wird diese versäumt, gilt § 150 Abs. 1 BGB. Man könnte nun meinen, dass die (neue) Annahmeerklärung des Mieters durch die Invollzugsetzung des Vertrages erfolgt ist. Dem steht aber die Rechtsprechung des BGH entgegen: Tatsächliches Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein kann nur ausnahmsweise zum Schutz des redlichen Rechtsverkehrs Wirkungen einer Willenserklärung haben, wenn der Empfänger sie so verstanden hat. Dies gilt aber nicht, wenn beide Parteien von einem wirksamen Vertragsschluss ausgehen (BGH a.a.O. Rz. 36ff.). Anders ausgedrückt: Meinen die Parteien, einen Vertrag geschlossen zu haben, ist dies aber objektiv wegen der Versäumung der Annahmefrist nicht der Fall, handeln sie bei der Durchführung des Vertrages ohne Erklärungsbewusstsein. Sie haben keinen Vertrag.

„Meinen die Parteien, einen Vertrag geschlossen zu haben, ist dies aber objektiv wegen der Versäumung der Annahmefrist nicht der Fall, handeln sie bei der Durchführung des Vertrages ohne Erklärungsbewusstsein“

Allerdings kann es dem Erstofferenten (hier dem Mieter) nach § 242 BGB verwehrt sein, sich auf Verspätung der Annahme zu berufen, etwa wenn er Vorteile aus dem Vertrag gezogen, der Vertragspartner Dispositionen im Vertrauen auf Vertragswirksamkeit getroffen hat und dem Erstofferenten die verzögerte Geltendmachung der verspäteten Annahme vorwerfbar ist. Die Parteien haben sich verglichen, weil das Kammergericht der Rechtsprechung des BGH folgt und aufgrund der konkreten Umstände der Wertung zuneigte, dass der Mieter durch die Berufung auf die verspätete Annahme nicht treuwidrig handelte – mit der Folge, dass der Vermieter keine Miete erhalten hätte, vielmehr auf die Widerklage hin die Mieten bis auf einen bestimmten Nutzungsersatz hätte zurückzahlen müssen (Hinweise v. 28.02.2022 – 8 U 77/21 – n. v.)

4. SCHRIFTFORM– EIN(E) TRAGISCHE(R) FALL(E)

§ 550 BGB darf natürlich nicht fehlen: Eine A-GmbH und eine Einzelperson S mieteten Kfz-Werkstatträume an. In einem Nachtrag aus 2008 wurde eine Verlängerungsoption vereinbart. Der Nachtrag wurde auf Mieterseite unterschrieben von „S und A-GmbH, vertreten durch die Geschäftsführerin G“. G setzte einen Stempelabdruck der GmbH unter den Nachtrag. In einem weiteren Nachtrag aus dem Jahr 2011 wurde S nicht erwähnt. Es kam, wie es kommen musste: Der Mietvertrag wurde wegen Verstoß gegen § 550 BGB gekündigt, und zwar mit Erfolg. Das Kammergericht musste hier die Sperrung des BGH anwenden: Wenn nicht alle im Rubrum erwähnten Personen unterschreiben, muss die Unterschrift deutlich zum Ausdruck bringen, ob die unterschreibende Person auch in Vertretung der nicht unterzeichnenden Vertragsparteien erfolgt. Auch wenn man aus dem Rubrum noch hätte – mit Mühe – argumentieren können, dass sich der Zusatz „vertreten durch …G“ auch auf S bezog, scheiterte diese Auslegung daran, dass die G einen Stempel der AGmbH benutzte.

„Wenn nicht alle im Rubrum erwähnten Personen unterschreiben, muss die Unterschrift deutlich zum Ausdruck bringen, ob die unterschreibende Person auch in Vertretung der nicht unterzeichnenden Vertragsparteien erfolgt“

Der Nachtrag von 2011 konnte den Formmangel schon gar nicht heilen, weil S dort nicht erwähnt war. Der Vermieter waren nicht wegen § 242 BGB an einer Kündigung gehindert. Den letzte Ausweg, den der BGH lässt, nämlich eine Existenzgefährdung, konnte der Mieter nicht darlegen. Da es sich hier um ein alteingesessenes Familienunternehmen handelte, war dies durchaus ein tragischer Fall. Das Kammergericht konnte hier aber nach derzeitiger Rechtsprechung des BGH nicht anders entscheiden (Urteil v. 13.01.2022 – 8 U 205/19 – ZMR 2022, 791). Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unter dem Aktenzeichen XII ZR 8/22 anhängig. Es ist nur zu hoffen, dass entweder die Reform des § 550 BGB vorankommt oder der BGH seine Rechtsprechung korrigiert. Im konkreten Fall ist dies aber nicht zu erwarten, weil der BGH den Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung schon abgelehnt hat.
Die Änderung von Betriebskostenvereinbarungen kann zu Formmängeln führen (Urteil v. 07.11.2022 – 8 U 157/21), genauso die Auslagerung von wesentlichen Vereinbarungen in Anlagen (Urteil v. 04.11.2021 – 8 U 1106/20).

5. NATÜRLICH KEIN VORTRAG OHNE CORONA

Der BGH hat die Grundlagen entschieden (Urteil v. 12.01.2022, XII ZR 8/21), aber natürlich gab und gibt es immer noch viele Fälle. Das KG hat die bei ihm anhängigen Verfahren schon vor der Entscheidung des BGH im Wesentlichen nach den gleichen Überlegungen entschieden. Oftmals wird zwar ein Vertragsanpassungsanspruch bejaht, aber die Mieter scheitern an den Darlegungen zur Unzumutbarkeit (Urteil v. 04.11.2021 – 8 U 85/21, Parallelprozess zum vorgenannten Urteil v. 04.11.2021 – 8 U 1106/20; s.a. Beschuss v. 27.06.2022 – 8 U 14/22, Bekleidungsfilialist). Andererseits beachteten Vermieter teilweise das Kündigungsmoratorium nicht, so dass Kündigungen unwirksam sein konnten (Hinweisbeschluss v. 09.01.2023 – 12 U 191/21). Dass man beim Verhandeln sein Blatt nicht überreizen sollte, sollte musste eine bundesweite Fitnesskette erfahren, die dem Vermieter mit Insolvenz drohte, wenn er die Miete nicht anpasst (Urteil v. 21.7.2022 – 12 U 155/21 – n.v., NZB anh. zu XII ZR 82/22).

6. GESCHÄFTSRAUMMIETRECHT UND ÖFFENTLICHES RECHT UND OPTION ZUR UMSATZSTEUER

Auch das ist ein „beliebtes“ Problem, das vor allem nicht anwaltlich vertretene Vermieter manchmal nicht oder nicht richtig erkennen. (Wohn)räume, die bisher als Arztpraxis genutzt wurden, sollten zunächst für „Therapieräume für medizinische Heilmethoden“ genutzt werden. Der Vermieter kümmerte sich um die entsprechende Zweckentfremdungsgenehmigung. Als Mietzweck vereinbart wurde aber letztlich „Praxis für betreutes Wohnen“, wofür die Zweckentfremdungsgenehmigung nicht galt. Im Prinzip ist das ein Problem des Vermieters – allerdings wurde er hier dadurch gerettet, dass im Vertrag individuell vereinbart war, dass die öffentlichrechtliche Genehmigung für diese Art der Nutzung dem Mieter oblag.
Ein Nebenaspekt des Falles war auch, dass der Mieter zu Umsatzsteuer optierte, obwohl das angesichts der Nutzungszwecke gar nicht möglich ist (Urteil v. 25.11.2021 – 8 U 72/21 – n.v., NZB zurückgewiesen mit Beschluss v. 15.06.2022 – XII ZR 95/21). Allgemeine Verblüffung und ein großes Aha-Erlebnis ergaben sich durch den Hinweis von Herrn Rechtsanwalt Michael Schultz, dass es doch eine Regelung gebe, bei der es auf das Baujahr des Hauses ankomme. Der Berichterstatter konnte das konkretisieren: Die Dunkelnorm des § 27 Abs. 2 UStG regelt, wann § 9 Abs. 2 UStG Anwendung findet, nämlich nur bei sogenanntem Neubestand. Bei sogenanntem Altbestand kann ohne Rücksicht auf die Tätigkeit des Mieters zu Umsatzsteuer optiert werden.

7. AGB-KLAUSELN – MINDERUNGSAUSSCHLUSS UND PROZESSUALES

Anders als im Wohnraummietrecht kann die Minderung auch durch AGB insofern „ausgeschlossen“ werden, als der Mieter auf Rückforderungsansprüche verwiesen werden kann – er muss zahlen und die Minderungsbeträge dann zurückklagen. Der Fall war aber für die Anwaltspraxis aus prozessualen Gründen spannend, weil in der Berufung für Klageänderung, Aufrechnung und Widerklage eigene Regeln gelten: Der Bevollmächtigte des Mieters musste sich sagen lassen, dass seine Widerklage nur innerhalb der Berufungserwiderungsfrist hätte erfolgen können (§ 533, 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Eine Wiedereinsetzung kommt nicht in Betracht (Urteil v. 7.11.2022 – 8 U 192/21 – n. v.).

8. NEBENKOSTEN – AUCH IM GESCHÄFTSRAUMMIETRECHT EIN DAUERTHEMA

Im Geschäftsraummietrecht geht bei Nebenkosten „mehr“ als im Wohnraummietrecht. Die Vermieter müssen es aber richtig machen und auch das Wirtschaftlichkeitsgebot einhalten. Nebenkosten müssen dem Grunde und der Höhe nach hinreichend erkennbar sein. Bei Kosten für gemeinschaftliche Flächen muss ein Deckel enthalten sei. Daran entspann sich eine interessante Diskussion, ob man bei dem Deckel die 10 %, die derzeit noch gelten, ansetzen soll oder vorsorglich vorausschauend schon etwas weniger nehmen soll (Urteil v. 2.5.2022 – 8 U 90/21, v. 1.12.2022 – 8 U 50/21).

9. BETRIEBSPFLICHT AUCH DURCH EINSTWEILIGE VERFÜGUNG DURCHSETZBAR

Auch wenn der BGH die Betreiber von Einkaufszentren böse überrascht hat, indem er eine langjährige Standardklausel für unwirksam erklärt hat und den formularmäßigen Ausschluss von Konkurrenzschutz bei gleichzeitiger Sortimentsbindung und Betriebspflicht als unwirksam angesehen hat (BGH Urteil v. 26.02.2020, XII ZR 51/19), ist die Betriebspflicht als solche nach wie vor zulässig. Der Vermieter kann diese auch durch einstweilige Verfügung durchsetzen (Hinweisbeschluss v. 19.12.2022 – 12 U 83122 – Verfahren nicht abgeschlossen).

10. ERFREULICH FÜR DIE ANWALTSCHAFT: STREITWERT

Das Kammergericht hat sich erfreulicherweise der BGH-Rechtsprechung (Beschluss v. 26.03.2015 – III ZR 344/14) angeschlossen und setzt für den Streitwert der Klage eines Gewerberaummieters auf Feststellung einer Mietminderung nach § 9 ZPO das 42-fache der geltend gemachten Minderung an (Beschluss v. 8.11.2021 – 8 U 22/20 – GE 2022, 98).

FAZIT

Nur wenige der Fälle sind zur Veröffentlichung bestimmt, sodass die Teilnehmerinnen einen sehr großen Mehrwert von der Veranstaltung hatten, weil sie Einblick in die Rechtsprechung „ihrer“ Senate erhalten haben. Die Souveränität von Herrn Bulling und seinen Kolleginnen zeigt sich daran, dass er freimütig erklärte, dass die Spruchkörper in der einen oder anderen Frage ihre Meinung geändert haben.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 04/2023 | 72. Jahrgang