„Richter und Anwaltschaft im Dialog“

„Aktuelle Rechtsprechung des Kammergerichts zum Familienrecht“ am 22.11.2023.

GRENZEN DES RECHTS UND GRENZFÄLLE

In gewohnt spannender Weise weihte die Vorsitzende Richterin am Kammergericht, Frau Heike Hennemann, die TeilnehmerInnen in die Schwerpunkte der aktuellen Fälle des Kammergerichts ein

Wiebke Poschmann | Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Familienund Erbrecht

UMGANG UND SORGERECHT IN FÄLLEN HÄUSLICHER GEWALT

Eines der Hauptaugenmerke legte sie dabei auf die Anwendung der Istanbul-Konvention – dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, nach dessen Art. 31 die Vertragsparteien die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass gewalttätige Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden sowie die Ausübung des Besuchsund Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährden.

„Die hauptsächlichen Schwierigkeiten liegen darin, dass die Existenz der Vorgaben der Istanbul-Konvention im Hilfe- wie auch dem Gerichtssystem oft entweder nicht bekannt und/oder die Sichtweise auf den Umgang mit häuslicher Gewalt und kindschaftsrechtlichen Fragestellungen eine ganz andere Wertung erfährt“

Nachdem entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen bisher nicht getroffen wurden, obliegt es der Rechtsprechung, diese Vorgaben umzusetzen. Die hauptsächlichen Schwierigkeiten liegen darin, dass die Existenz der Vorgaben der Istanbul-Konvention im Hilfe- wie auch dem Gerichtssystem oft entweder nicht bekannt und/oder die Sichtweise auf den Umgang mit häuslicher Gewalt und kindschaftsrechtlichen Fragestellungen eine ganz andere Wertung erfährt. So hat eine in ZKJ 2022, 163 ff. veröffentlichte (nicht unbedingt repräsentative) Online-Erhebung unter Fachkräften des Jugendamts ergeben, dass mehr als Dreiviertel der Befragten der Auffassung sind, dass es nicht Aufgabe des Jugendamts sei, auf einen Entzug des Sorgerechts des gewalttätigen Elternteils hinzuwirken, knapp 41 Prozent der Befragten lehnte es zudem ab, dass begleiteter Umgang die einzige Möglichkeit sei.

Diese Ergebnisse spiegeln sich auch in den Verfahren beim Kammergericht wider. Von Müttern (oder, wenn es denn der Fall sein sollte, dass der Vater Opfer häuslicher Gewalt geworden ist, was selbstverständlich vorkommt, aber in weit weniger Fällen, weshalb in diesem Bericht der Einfachkeit halber von Müttern gesprochen wird) wird in der Regel erwartet, dass sie den Kindern gegenüber weder von der erlittenen Gewalt berichten oder aber hinreichend differenzieren können von dem, was ihnen durch den Kindesvater angetan worden ist und der eigentlichen Vater-Kind-Beziehung. Diese Erwartungen gehen jedoch regelmäßig an den tatsächlich vorliegenden Situationen oder auch nur Möglichkeiten der Mütter vorbei. Die mit der Gewalt in der Regel einhergehende Dominanz über den misshandelten Elternteil setzt sich in der Verfahrensführung durchaus fort. So lässt es sich aufgrund der Vielzahl der Beteiligten in Verfahren vor dem Kammergericht selbst bei getrennten Anhörungen kaum organisieren, dass diese an verschiedenen Tagen durchgeführt werden, so dass es sich auch nicht wirklich verhindern lässt, dass sich der Täter selbst bei größerem zeitlichem Abstand der Terminierung am selben Tag doch vor dem Gerichtsgebäude aufhält, und sich Täter und Misshandelte vor oder nach der Verhandlung begegnen.

Auch ist die Vereinbarkeit zwischen einer die Eltern- Kind-Beziehung noch fördernden Umgangsregelung und die Berücksichtigung der weiterhin traumabasierten Belastung des betreuenden Elternteils gelegentlich kaum rechtlich zu fassen. So hatte das Kammergericht in einer durchaus vielbeachteten Entscheidung den Umgang zwar trotz fortbestehender Traumatisierung der Mutter zugelassen, jedoch auf ein Mal im Monat beschränkt, um die Schäden möglichst gering zu halten: „Die aus der Gewaltausübung des Vaters resultierende Belastung der Mutter und die durch den schweren elterlichen Konflikt entstehende Stressbelastung des Kindes würde eine Kindeswohlgefährdung darstellen.“ KG v. 4.8.2022 – 17 UF 6/21, FamRZ 2023, 131.

In einer weiteren Entscheidung wurde eine Entscheidung des Amtsgerichts bestätigt, in der der Umgang ausgeschlossen wurde bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind einen Entwicklungsstand habe, der es ihm erlaube, sich mit der Tat des Vaters auseinanderzusetzen, ohne dass dies negative Folgen für die Beziehung zur Mutter habe, was ab dem 12.–14. Lebensjahr möglich sei (das Kind war bei der letzten Tat zwei Jahre alt). In diesem Fall waren die Übergriffe des Vaters von einer solchen Schwere, dass es hinreichend konkrete Verdachtsmomente dafür gab, dass das körperliche Wohl der Mutter bei einem Umgangskontakt gefährdet wäre. „Auch das seelische Wohl der Mutter wäre bei einem Umgang schon aufgrund der psychischen Folgen der Tag(!) gefährdet, da sie trotz Therapie immer noch durch die traumatischen Erlebnisse psychisch stark belastet sei. Bei einem Kontakt des Kindes zum Vater bestehe zudem die Gefahr, dass der Vater über das Kind auf die Mutter einwirken könne. Das Wohl des Kindes hänge aber entscheidend von der körperlichen und seelischen Unversehrtheit der Mutter ab, in deren alleiniger Obhut das Kind aufwachse. Dahinter müsse das Umgangsrecht des Vaters zurückstehen.“ KG v. 23.12.2020 – 16 UF 10/20, FamRZ 2021, 693.

Letztendlich aber sei zu berücksichtigen, dass es sich bei jeder Entscheidung um eine Einzelfallbetrachtung handelt, die ebenso wie bei dem sich nunmehr anschließenden Themenkomplex nicht zwingend Allgemeingültigkeit beanspruchen kann.

ABGRENZUNG UMGANGSREGELUNG/SORGERECHTSEINGRIFF

So sorgte kürzlich eine Entscheidung des 3. Senats für Irritationen, die ein Rechtsschutzbedürfnis für die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts verneinte, weil die von der Mutter begehrte überwiegende Betreuung des Kindes durch sie nur durch eine Abänderung der gerichtlich gebilligten Umgangsvereinbarung im umgangsrechtlichen Verfahren geltend gemacht werden könne. Dies folge aus der Eigenständigkeit der jeweiligen Verfahren. Ein darüber hinausgehendes Rechtsschutzziel verfolge die Mutter nicht. Hintergrund dieser Entscheidung war, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt bereits in etwa gleich viel von beiden Elternteilen betreut wurde. Das Kammergericht sah es als auschlaggebend an, dass die Aufhebung des gemeinsamen Aufenthaltsbestimmungsrechts nicht zu einer Reduktion der erheblichen Belastungen des Kindes führen würde, weil sie auf den Lebensalltag des Kindes keinerlei Auswirkungen habe. KG v. 22.12.2022 – 3 UF 87/21, FamRZ 2023, 606.

Wie als Gegenpol erscheint dagegen die Entscheidung des 17. Senats, durch den eine Entscheidung des Familiengerichts aufrechterhalten wurde, in der dem Vater die Alleinsorge übertragen wurde, obwohl das Kind auch weiterhin im Wechselmodell von beiden Elternteilen betreut wird. Ausschlaggebend hierfür war, dass das Verhältnis der Eltern seit Jahren destruktiv sei und keinerlei Kommunikation mehr stattfinde, was sich erheblich negativ auf das Kind auswirke, der Vater eine Fortführung des Wechselmodells wünsche und die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf ihn die Fortführung am ehesten gewährleiste, welche aus sachverständiger Sicht die beste Betreuungsform für das Kind sei. Diese sehr ungewöhnliche Entscheidung lässt sich auch nur durch den Hintergrund erklären, dass das Kind Trisomie 21 hat, sich wegen eines Herzfehlers seit der Geburt in ständiger ärztlicher Behandlung befand und geistig beeinträchtigt ist, sich längst in einer hochstrittigen Familie zurechtfinden musste, sich auf wechselnde Betreuung eingestellt und enge Bindungen zu beiden Eltern habe, sodass die wöchentlich wechselnde Betreuung wesentlich der Orientierung diene. Zudem gebe es Nachteile bei einer überwiegenden Betreuung durch die Mutter oder den Vater. KG. v. 1.6.2023 – 17 UF 21/23, n.v.

„Aufatmen für alle, die auf die vermittelnde Variante zwischen diesen Gegenpolen hoffen“

Aufatmen für alle, die auf die vermittelnde Variante zwischen diesen Gegenpolen (und einer gewissen Korrektur der Entscheidung des 3. Senats) hoffen: der 17. Senat befand in einer anderen Entscheidung, dass trotz einer verbindlichen Regelung des Umgangs in einem Umgangsverfahren das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Vater zu übertragen war, da die Mutter trotz der den Umgang regelnden Entscheidung nicht bereit war, den Lebensmittelpunkt des Kindes beim Vater zu akzeptieren. Die Ratio dahinter: Es handele sich bei der Frage des Lebensmittelpunktes eines Kindes nicht nur allein um eine Regelung der Umgangszeiten, die im Umgangsverfahren zu treffen sei. Es sei bereits bei einer Betreuung im paritätischen Wechselmodell möglich, einem Elternteil das ABR zu übertragen, wenn dieser die zuverlässige Durchführung des Wechselmodells eher gewährleiste als der andere Elternteil. Erst recht müsse dann, wenn der eine Elternteil weder den Lebensmittelpunkt noch den altersgerechten Wunsch eines Jugendlichen akzeptieren könne, diese Gestaltung der Lebenswirklichkeit rechtlich abgesichert werden, damit das Kind Sicherheit über die für ihn wichtige Frage des gewöhnlichen Aufenthalts erlange. KG v. 22.12.2022 – 17 UF 91/22, n.v.

FORMALE ANFORDERUNGEN BEI DER BESCHWERDE BEACHTEN!

Eine Anmerkung hinsichtlich der formalen Vorgehensweisen im Zeitalter des beA soll aufgrund ihrer Relevanz ebenfalls weitergegeben werden: Vorsicht bei der Einlegung einer Beschwerde mit Beschwerdebegründung. Beschwerde wie Beschwerdebegründung sind digital bei dem Gericht, welches zuständig ist, einzulegen. Da das Amtsgericht für den Fall, dass beides bei ihm eingeht, ausdruckt und an das Kammergericht in Papierform weiterleitet, gilt die Beschwerdebegründung in einem solchen Fall als nicht eingegangen. Wiedereinsetzung im Regelfall ausgeschlossen. Deshalb der große Appell, die Beschwerde gesondert ans Kammergericht per beA einzureichen, notfalls ohne Aktenzeichen – die Zuordnung muss dann eben vom Kammergericht vorgenommen werden!

Exklusiv für Mitglieder | Heft 01/02 | 2024 | 73. Jahrgang