Scheinselbständigkeit

Ein sozialrechtliches Minenfeld mit strafrechtlichen und berufsrechtlichen Folgen.

EINFÜHRUNG

Das war passiert: Zwischen 2013 und 2017 beschäftigte ein seit 1982 niedergelassener Rechtsanwalt zwölf Anwälte in seiner Kanzlei in „freier Mitarbeiterschaft“. Alle Anwälte hatten bei ihrer Einstellung einen gleichlautenden Vertrag unterzeichnet, der sie als freie Mitarbeiter auswies, allerdings in zehn Fällen eine Zusatzvereinbarung, die bestimmte Freiheiten, zum Beispiel eigene Mandatsannahmen und Mandatsakquise einschränkte. Eine Verhandlung über diese Verträge fand nicht statt. Die Mitarbeiter arbeiteten fast ausschließlich in den Räumlichkeiten der Kanzlei, wofür sie keine Kosten trugen, und bearbeiteten Mandate, die ihnen vom Kanzleiinhaber zugewiesen wurden. Sie erhielten eine jährliche Festvergütung, die in monatlichen Raten gegen entsprechende Rechnung gezahlt wurde.

Markus Hartung | Rechtsanwalt | Mediator | www.markushartung.com
Jörg Tepper | Fachanwalt für Arbeitsrecht | Chevalier Rechtsanwälte | www.kanzlei-chevalier.de

Das Landgericht Traunstein kam zu dem Schluss, dass es sich bei der Beschäftigung um eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit handelte. Der Angeklagte hatte danach Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 118.850,58 Euro vorenthalten. Bei der Berechnung der nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge wurden verschiedene Aspekte berücksichtigt, darunter die Zugehörigkeit einiger Anwälte zu speziellen Versorgungswerken und individuelle Beitragsbemessungsgrenzen. Eine alternative Berechnung, die freiwillige Beiträge der Anwälte berücksichtigte, ergab einen geringeren Betrag von 100.284,24 Euro. Das LG verurteilte den Angeklagten zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und einer Geldstrafe von 60.000 Euro. Zudem wurde die Einziehung des vorenthaltenen Betrags angeordnet, allerdings mit der Möglichkeit, diesen mit freiwillig geleisteten Beiträgen zu verrechnen. Der BGH hob das Urteil teilweise auf und verwies insoweit zurück. Im Leitsatz der Entscheidung1BGH v. 8.3.2023 – 1 StR 188/22, NJW 2023, 2357 m. Anm. Trüg a.a.O., S. 2362 f. heißt es:

„Für die Abgrenzung von sogenannten scheinselbstständigen Rechtsanwälten und freien Mitarbeitern einer Rechtsanwaltskanzlei ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung maßgebend; soweit die Kriterien der Weisungsgebundenheit und Eingliederung wegen der Eigenart der Anwaltstätigkeit im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft verlieren, ist vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen.“

ANGESTELLTE UND FREIE MITARBEITER

In einer Anmerkung zur Entscheidung des BGH wandelte Trüg die Erkenntnis „Bad cases make bad law“ in „Bad cases … are bad cases“. In der Tat handelte es sich um einen „außergewöhnlichen Sachverhalt“,2Trüg a.a.O., S. 2362. dessen Ergebnis nicht völlig überraschend ist. Von „bad law“ kann also keine Rede sein.

Die Entscheidung zeigt (wieder einmal), dass die Zusammenarbeit mit freien Mitarbeitern höchst riskant ist.3Zur Situation freier Mitarbeiter in Anwaltskanzleien vgl. Kilian, BRAKMitt.2015, 64. Nach unserer Erfahrung möchten viele junge Mitarbeiter gerne die Segnungen der freien Mitarbeiterschaft mit der Sicherheit eines „festen Verhältnisses“ kombinieren und lassen sich dann auf eine freie Mitarbeiterschaft ein, obwohl dieser Wunsch rechtlich kaum zu erfüllen ist. Andere hingegen müssen sich darauf einlassen, weil ein anwaltlicher Arbeitgeber die Bindungen (sowie Kosten und Verwaltungsaufwand) des Arbeitsverhältnisses scheut.

„Die Entscheidung zeigt (wieder einmal), dass die Zusammenarbeit mit freien Mitarbeitern höchst riskant ist“

Der vorliegende Fall weist einige Besonderheiten auf, die schon prima vista gegen die Annahme freier Mitarbeiterschaft sprechen. Aber es gibt sehr häufig Fälle, die weniger auffällig sind, bei denen sich aber in der Betriebsprüfung herausstellt, dass die Deutsche Rentenversicherung (DRV) wie selbstverständlich davon ausgeht, dass ein Vertrag über freie Mitarbeiterschaft in Wirklichkeit keiner ist, und dann wird es eng: Der Rechtsfehler in der arbeitsund sozialrechtlichen Beurteilung kann sogleich eine Straftat darstellen, die auch erhebliche berufsrechtliche Folgen haben kann, wenn die Rechtsanwaltskammer oder die Generalstaatsanwaltschaft zu dem Ergebnis kommt, hier läge der sog. „berufsrechtliche Überhang“ vor.

KRITERIEN DER DRV

Wie schützt man sich vor solchen Risiken? Komplett auf freie Mitarbeiter zu verzichten, ist nur eine Scheinlösung, denn oft, siehe oben, wollen Bewerber keine feste Anstellung, aus verschiedensten Gründen. Die DRV legt im Wesentlichen die folgenden – durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entwickelten, vom BGH übernommenen und immer wieder angewendeten – Maßstäbe zur Abgrenzung von Beschäftigung als nichtselbständige Arbeit im Sinne § 7 SGB IV im Gegensatz zur selbständigen Arbeit und somit für die Beantwortung der weitreichenden Frage nach der Versicherungspflicht an:

  • Persönliche Abhängigkeit, die sich
    – in der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers und
    – Eingliederung in den Betrieb widerspiegelt (gem. § 7 SGB IV)
  • Mangelnde Befugnis des Betroffenen, seine Arbeitsleistung auf andere Personen zu delegieren
  • Fehlende Beschäftigung weiterer Arbeitnehmer
  • Fehlendes unternehmerisches Risiko; Entlohnung als festes Gehalt anstelle einer Umsatzbeteiligung
  • Exklusivitätsklausel, d.h., fehlende Möglichkeit, auch für andere Auftraggeber tätig zu sein
  • Kein Einsatz eigener Betriebsmittel
  • Keine eigene Betriebsstätte
  • Kein Einsatz eigenen Personals
  • Nutzung der Infrastruktur des Auftraggebers
  • Vorherige Ausübung der gleichen Tätigkeit als Arbeitnehmer beim gleichen Arbeitgeber
  • Weitreichende Kontroll- und Mitspracherechte des Auftraggebers
    – bezüglich der Ablehnung von Aufträgen
    – bezüglich der Vergütungskalkulation
    – bezüglich der Marketingmaßnahmen, Mandantenakquise

Diese Kriterien klingen zunächst – betrachtet man sie isoliert unter Berücksichtigung der Eigenart der anwaltlichen Tätigkeit – nicht wie eine unüberwindliche Hürde. Gleichwohl: Die Einordnung der Tätigkeit der Anwält:innen als freie Mitarbeit, die einerseits gern in ihrer Küche, andererseits aber lieber doch im Büro ihres Auftraggebers sitzen, dessen Kaffee trinken und gar dessen Büropersonal und Infrastruktur wie Drucker, Scanner, Anwaltssoftware, deren Lizenzen der Auftraggeber zahlt, nutzen, könnte schon bedenklich sein. Der BGH sieht allerdings kein alleinentscheidendes Indiz für eine Eingliederung in die Kanzlei in dem Umstand, dass die Rechtsanwälte ohne finanzielle Beteiligung in den Kanzleiräumlichkeiten ein eigenes Büro gestellt bekommen haben, die bereits aufgebaute Kanzleiinfrastruktur nutzen und sich des kanzleieigenen Personals bedienen konnten, weil auch freie Mitarbeiter sich der sachlichen und personellen Ausstattung der Kanzlei bedienen können müssen, ohne dabei, wie in der in § 59q BRAO geregelte Bürogemeinschaft von Rechtsanwälten üblich, an den Kosten beteiligt zu werden. Auch aus der Zuteilung der Mandate über das Sekretariat sei kein zwingendes Indiz für eine Eingliederung als abhängige Beschäftigung; denn die Zuweisung eines bestimmten Auftrags durch den Auftraggeber kann gleichfalls Teil der selbständigen Berufsausübung sein.

UNTERNEHMERISCHES RISIKO

Das Pendel schlägt dann in Richtung der Scheinselbständigkeit aus, wenn zu den zuvor genannten Aspekten kein unternehmerisches Risiko hinzutritt, wofür die Art der Vergütung in Form eines festen Gehaltes, welches unabhängig vom Gewinn und Verlust der Kanzlei gezahlt wird, spricht. Denn gerade bei Diensten höherer Art (wie bei Anwälten) kann die Weisungsgebundenheit als wesentliches Abgrenzungskriterium durch die Anwaltseigenschaft eingeschränkt sein.

„Das Pendel schlägt dann in Richtung der Scheinselbständigkeit aus, wenn zu den zuvor genannten Aspekten kein unternehmerisches Risiko hinzutritt“

Wenn man also unsicher ist, besteht die Möglichkeit, die Risiken einer fehlerhaften Einordnung des Status des Betroffenen durch die Durchführung eines Statusfeststellungsverfahrens im Sinne des § 7a SGB IV bei der Clearingstelle der DRV zu minimieren. Dieses Verfahren muss allerdings, damit die Beitragspflicht bei späterer Feststellung der abhängigen Beschäftigung auf den Tag der Bekanntgabe der Entscheidung hinausgeschoben wird, innerhalb eines Monats nach Aufnahme der Tätigkeit eingeleitet werden. Etwaige Veränderungen in der tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung der Vertragsbeziehung sollten dringend beachtet werden, denn diese können zur Überprüfung und möglicherweise auch zur (rückwirkenden) Korrektur der Statusentscheidung führen.

FAZIT

Der BGH führt die Betrachtung damit wieder auf die Kernfrage zurück: Ist ein freier Mitarbeiter unabhängig und trägt er als Unternehmer in eigener Sache ein entsprechendes Risiko? Nur wenn das vorliegt, kann man von selbständiger Tätigkeit ausgehen. Alles andere ist die Tätigkeit eines Angestellten ohne die Sicherungen, die das Arbeitsrecht bietet. Beides zusammen geht nicht. Das liegt auch auf Linie der Rechtsprechung des BSG,4BSG v. 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R. wonach für die Feststellung des Vorliegens einer selbständigen oder abhängigen Beschäftigung nicht die vertragliche Gestaltung, sondern das Gesamtgepräge der tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung des Vertragsverhältnisses maßgeblich ist und bleibt.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 11/2023 | 72. Jahrgang
  • 1
    BGH v. 8.3.2023 – 1 StR 188/22, NJW 2023, 2357 m. Anm. Trüg a.a.O., S. 2362 f.
  • 2
    Trüg a.a.O., S. 2362.
  • 3
    Zur Situation freier Mitarbeiter in Anwaltskanzleien vgl. Kilian, BRAKMitt.2015, 64.
  • 4
    BSG v. 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R.