„Search and Destroy“ für die Papierform

Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann zu Gast beim Berliner Anwaltsverein.

In der rechtspolitischen Veranstaltungsreihe „Zuhören – Mitreden!“ stand am 23.03.2023 die Digitalisierung der Justiz auf der Agenda. Dr. Astrid Auer-Reinsdorff, Schatzmeisterin des Berliner Anwaltsvereins und Uwe Freyschmidt, Vorsitzender des Berliner Anwaltsvereins, moderierten das Gespräch mit Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann und den Mitgliedern des Berliner Anwaltsvereins im Leibniz-Saal der Akademie der Wissenschaften.

Christian Christiani | Rechtsanwalt | Geschäftsführer des Berliner Anwaltsvereins

Ein Plädoyer für die Digitalisierung der Justiz und des Staates hielt der Bundesminister der Justiz beim Gesprächstermin mit den Mitgliedern des Berliner Anwaltsvereins. Es sei „kein Digitalfetisch“, der ihn umtreibe, wie mancher behaupte, sondern eine Notwendigkeit: „Die knappste Ressource an allen Gerichten sind die Menschen“, so Dr. Buschmann. Bei den Bürgern dürfe nicht der Eindruck entstehen, der Gang durch ein Gerichtsportal führe durch ein Zeitportal zurück in die 90er-Jahre. Sonst könne der Respekt vor der Justiz verloren gehen.
Zu lange sei die Digitalisierung in Staat und Wirtschaft als Beschaffungsvorgang behandelt worden, der an eine Einkaufsstelle delegiert wird. Dabei müsse der Veränderungsprozess bei den Menschen ansetzen und bei der Bereitschaft, sich zu hinterfragen.
Innerhalb eines Jahres nach seinem Amtsantritt sei im Bundesjustizministerium die E-Akte eingeführt worden (befördert durch Homeoffice während der Pandemie). In diesem Jahr soll die E-Akte bei sämtlichen Bundesbehörden Standard werden. Nach den Gesetzesänderungen zur Einführung der digitalen Hauptversammlung und Mitgliederversammlung bei Vereinen soll bald die WEG-Versammlung folgen. Nachdem im vergangenen Jahr (noch geprägt durch die Pandemie) ca. 50.000 Video-Gerichtsverhandlungen stattgefunden haben, „ein Segen“, so Buschmann, sollte nun die Videoverhandlung „die Regel“ werden, wenn beide Prozessparteien sich hierüber einig sind. (Es bleibt zu hoffen, dass dann auch eine bundeseinheitliche Technik hierfür besteht, wie der DAV sie fordert, dazu unten.)

SCHARFE KONTROVERSE UM DOKUMENTATION DER HAUPTVERHANDLUNG

Ein besonderes Anliegen war dem Minister die seit vielen Jahren geführte Debatte um Verfahren, in denen es „um das Wertvollste geht“, nämlich „um die Freiheit und den guten Namen eines Menschen“. Der Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG) wird derzeit insbesondere vom Deutschen Richterbund sowie einzelnen Bundesgerichten scharf kritisiert. Ein gewisses Unverständnis zeigte der Minister über einige der scharfen Formulierungen der Kritiker. Aussagepsychologen hätten die These, dass gerade eine Kamera im Gerichtssaal eine besondere Beeinträchtigung von Zeugen darstelle, bisher nicht bestätigen können. Sehr ernst zu nehmen sei hingegen die Sorge, ob sich ausreichend (IT-)Personal für die Justiz rekrutieren lässt, um eine Aufzeichnung – mindestens eine Tonspur mit Transkript – zu gewährleisten.

BUNDESJUSTIZCLOUD

Seine „Vision“, so Bundesminister Dr. Buschmann, sei eine „Bundesjustizcloud – zentral betrieben, mit einheitlichem Standard für alle Gerichte“ und der Möglichkeit zur digitalen Akteneinsicht für die Anwaltschaft. Ein einheitlicher IT-Standard für den Bereich sei wichtig, um (Stichwort Vergaberecht) Einzelaufträge an verschiedenen Standorten etc. zu ermöglichen.

„Ein einheitlicher IT-Standard für den Bereich sei wichtig, um (Stichwort Vergaberecht) Einzelaufträge an verschiedenen Standorten etc. zu ermöglichen“

Einen solchen kollaborativen Ansatz begrüßte auch die Moderatorin Dr. Auer-Reinsdorff bei der Eröffnung der Diskussion, bei der sich herausstellte, dass nicht nur das Publikum den Neuigkeiten aus dem BMJ folgt, sondern dass auch der Bundesminister bereits manchen Gesprächspartner schon durch dessen Twitter-Aktivitäten kannte. Die elektronische Signatur – im Publikum umstritten – müsse mangels Akzeptanz überdacht werden, so der Minister. Der „Robo-Judge“ sei die unwahrscheinlichste Nutzung der Digitalisierung in der Justiz, anders als Textbausteine und Assistenzsysteme. Ja, an elektronischen Vollstreckungstiteln werde gearbeitet (möglicherweise durch ein Register, das nur für Verfahrensbeteiligte einsehbar ist). Nein, „fremde Mächte“ und auch NSA dürften keinen Zugriff auf Justizdaten haben. Nein, Juris habe kein Monopol auf Rechtsprechung, und mit NEURis sei ein Rechtsinformationssystem und Portal für die kostenfreie Recherche (auch im Hinblick auf KI-Anwendungen) auf dem Weg. Und nein, man könne angesichts des tiefgreifenden demografischen Wandels und der Rekrutierungsschwierigkeiten im gesamten Staat – „selbst im BMJ“ – nicht auf grundsätzlich mehr Personal in der Justiz hoffen: „Wir kommen nicht daran vorbei, produktiver zu arbeiten.“

„Wir kommen nicht daran vorbei, produktiver zu arbeiten“

Moderator Freyschmidt fragte nach den Absichten des Bundesjustizministeriums zur audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung, nach der Kritik aus der Justiz, dass hiermit „die Gerechtigkeit“ und der „Rechtsfrieden gefährdet“ seien. „Viel mehr geht nicht“, so Uwe Freyschmidt. Der Ton der Kritik, so Dr. Buschmann, habe auch ihn überrascht. Der Bundesminister ging unter anderem auf das Missbrauchsargument ein, „jemand“ (die Anwältinnen und Anwälte?) könne ja die Tonspur öffentlich machen. Dieses Argument, so der Minister, könne ähnlich auch gegen die Akteneinsicht gewendet werden und hier müsse Strafandrohung (und ggf. Zulassungsentzug) ausreichen. Seiner Ansicht nach habe in Wahrheit, so der Minister, nur das technische Argument Substanz. Was ist möglich, auch im Hinblick auf die Ressourcen? Nicht jedoch dürfe es um Befürchtungen hinsichtlich des tiefgreifenden Kulturwandels oder eines Kontrollverlusts angesichts der Digitalisierung gehen. „Bleiben Sie stark“, so Rechtsanwalt Prof. Dr. Ali B. Norouzi aus dem Publikum im Hinblick auf die digitale Dokumentation der Hauptverhandlung, „und Sie werden sich um den Rechtsstaat verdient machen“.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 05/2023 | 72. Jahrgang