Softwareumstellung lähmt Gericht? – Nicht!

Veränderungen in der IT der Berliner Strafgerichte auf dem Weg zur elektronischen Akte

Am 28. September 2024 schrieb DER SPIEGEL unter der Überschrift „Neue Software lähmt Gericht“ über die Umstellung von der Fachanwendung AuLAK auf die neue Fachanwendung forumSTAR beim Landgericht Berlin I. Die Freude über solche Schlagzeilen ist in der Berliner Justiz begrenzt. Sie wird der Arbeit der insgesamt rund 25 Mitarbeitenden aus den drei beteiligten Projektteams der Justiz in keiner Weise gerecht. Aber was war Hintergrund der SPIEGEL-Nachricht, die der Berliner Tagesspiegel einige Tage später ohne Benennung der ursprünglichen Quelle nachdruckte: Im Berliner Landgericht für Strafsachen, dem Landgericht Berlin I, hat in der Woche vor und nach der Umstellung auf das neue Fachverfahren – bewusst in die Berliner Herbstferien gelegt, in denen es ohnehin ruhiger zugeht – nur ein sehr reduzierter Sitzungsbetrieb stattgefunden, um insbesondere den Mitarbeiter*innen auf den Geschäftsstellen Freiräume zur Einarbeitung in die neue Software zu geben.

Dr. Martin Müller-Follert | Richter am Kammergericht und Dezernent für IT-Angelegenheiten

Wenngleich dies im Artikel durchaus korrekt dargestellt wird, erweckt die Überschrift doch den Eindruck, dass die Einführung einer neuen Software eher ein Ärgernis denn ein Fortschritt sei. Aber ist es denn wirklich so, dass die beschriebene Umstellung in erster Linie eine Lähmung des Gerichtsbetriebes bedeutet? Die Antwort liegt auf der Hand, wenn man sich die Gründe für die Einführung der neuen Fachanwendung und die sich daraus ergebenden Zukunftsperspektiven vor Augen führt. Der Gesetzgeber hat in § 32 Abs. 1 Satz 1 StPO (in der ab 1. Januar 2026 geltenden Fassung) kurz und bündig bestimmt: „Die Akten werden elektronisch geführt.“ Mithin muss bis (spätestens) zu diesem Datum die eAkten-Fähigkeit der Strafjustiz sichergestellt sein. Anderenfalls wäre eine gesetzeskonforme Aktenführung ab dem gesetzlich vorgegebenen Stichtag nicht möglich. Und ohne die Möglichkeit der Aktenführung könnten keine Strafprozesse mehr in der vom Gesetzgeber vorgesehenen Art und Weise geführt werden. Man hätte den Artikel also auch anders betiteln können: „Alte Software lähmt Gericht“. Das hätte es auf den Punkt gebracht, denn die bisher in der Berliner Strafjustiz genutzte Fachanwendung AuLAK ist mit keinem der auf dem Markt befindlichen eAkten-Systeme kompatibel. Das Berliner Eigenprodukt war auch von vornherein nie darauf angelegt, in eine elektronische Aktenführung eingebettet zu werden oder an den elektronischen Rechtsverkehr angeschlossen zu werden. Denn wer hätte zum Ende der 90er-Jahre des vorhergehenden Jahrtausends an einen flächendeckenden elektronischen Rechtsverkehr mit digitaler Kommunikation zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft, Polizei und Verteidigung geglaubt?

Wie bei allen technischen Anwendungen bedurfte es daher auch bei der Berliner Justiz eines Updates. Statt eigenbrötlerisch das eigene Produkt mit viel Man- (und woman-)power weiterzuentwickeln, entschied sich Berlin daher bereits vor einiger Zeit für ein Verbundprojekt: die Fachanwendung forumSTAR. Ein zwingender Schritt – mancher möge sagen „notwendiges Übel“ – auf dem Weg zur elektronischen Akte/§ 32 StPO. Es handelt sich hierbei um ein System, welches zum einen die Funktionalitäten der abgelösten Anwendung AuLAK – wenn auch in einer etwas anderen Form – fortführt, zum anderen aber – anders als AuLAK – kompatibel ist mit dem eAkten-System eIP (elektronisches Integrationsportal), welches bereits in der Berliner Ziviljustiz erfolgreich im Einsatz ist. Die Einführung von eIP im Bereich der Berliner Strafjustiz ist für das Jahr 2025 vorgesehen. Auf diese Weise kann die Arbeit mit der eAkte gemäß den gesetzlichen Vorgaben sichergestellt werden. Es wird also klar, dass die Einführung von forumSTAR beim Landgericht Berlin I nicht eine Lähmung des Gerichts bedeutet. Vielmehr ist sie der erste Schritt, um zu gewährleisten, dass eine künftige Lähmung des Gerichts gerade vermieden wird. Zudem schließt die Berliner Strafjustiz mit der Einführung von forumSTAR eine weitere Lücke. Bereits seit dem 1. Januar 2022 ist die Anwaltschaft verpflichtet, mit den Gerichten elektronisch zu kommunizieren. Antwort bekamen sie dann von den Berliner Strafgerichten weiter per Briefpost oder Fax, was oftmals als ein Akt schwer nachvollziehbarer Modernisierungsverweigerung empfunden wurde. Mit der Umstellung auf forumSTAR können nun auch die Berliner Strafgerichte Anklagen, Urteile, Beschlüsse und andere Schreiben schnell und unkompliziert elektronisch an die Verteidiger übersenden. Das Amtsgericht Tiergarten spart so bereits seit März dieses Jahres Papier, Zeit und etliche Briefmarken.

„Fortschritt und Modernisierung sind jedoch nicht umsonst. Es erfordert vorausschauende Planung, Vorbereitung, Testläufe, einen Kraftakt ausnahmslos aller an der Umstellung beteiligten Personen“

Fortschritt und Modernisierung sind jedoch nicht umsonst. Es erfordert vorausschauende Planung, Vorbereitung, Testläufe, einen Kraftakt ausnahmslos aller an der Umstellung beteiligten Personen. Auf Seiten der mit der Umstellung betrauten Gerichtsverwaltung sind das mehr als zwei Dutzend Personen. Allein 16 Personen aus dem eigentlichen forumSTAR-Straf-Team haben intensiv das eigentliche Management zur Einführung des Programms betrieben. Ein weiteres Team hat sich in enger Absprache mit dem forumSTAR-Straf-Team der sehr umfänglichen Aufgabe der Administration der Programmumgebung gewidmet. Ein drittes Team schließlich war mit der Mammutaufgabe der Datenmigration befasst. Immer im Blick die Geschäftsstellen, Richter*innen, Rechtspfleger*innen und Wachtmeister*innen, auf deren Schultern nach Einführung die größte Last liegen dürfte. Allen, die an ihrem Arbeitsplatz bereits einmal eine Softwareumstellung erlebt oder selbst durchgeführt haben, wie etwa einen entsprechenden Produktwechsel in einer Anwaltskanzlei, wird bewusst sein, dass es dabei nahezu regelhaft zu Komplikationen kleinerer oder auch größerer Art kommt. Ob es um Anlaufschwierigkeiten technischer Art geht – wie fehlende Berechtigungen oder Drucker, die nicht so wollen, wie der oder die Druckende -, eine als unschön empfundene Gestaltung digitaler oder analoger Produkte oder die Verzweiflung einzelner Anwender*innen über tatsächlich oder vermeintlich unsinnig positionierte Schaltflächen, die Vielzahl möglicher Schwierigkeiten ist unübersehbar und vor allem auch nicht immer in allen Einzelheiten vorhersehbar.

Hält man sich nun noch vor Augen, dass es sich bei dem Landgericht Berlin I um eine Organisationseinheit mit über 300 Mitarbeitenden – davon um die 190 Richter*innen und knapp 120 nichtrichterliche Mitarbeiter*innen – handelt und beim Amtsgericht Tiergarten, dem größten Strafgericht Europas, sogar um eine mit knapp 1000 Mitarbeitenden und knapp einer Million Verfahren, dürfte das Ausmaß der Herausforderung deutlich werden.

Hinzu kommt die Mammutaufgabe der Datenmigration. Diese stellt für die Gerichte langfristig eine Erleichterung in der Verfahrenspflege dar, durch sie kann auf einen Parallelbetrieb zweier Fachanwendungen verzichtet werden ohne den Verlust wertvoller Verfahrensdaten, die insbesondere in laufenden Verfahren das mühevolle Nachpflegen unzähliger Daten erspart. Dennoch erfordert ebendiese Datenmigration zwischen zwei grundlegend unterschiedlich programmierten Systemen die gewissenhafte Überprüfung der migrierten Datensätze, was in der Zeit nach der Umstellung zunächst zu einer – zugegebenermaßen lästig erscheinenden – Mehrarbeit insbesondere auf den Geschäftsstellen führte. Ein kurzzeitig eingeschränkter Sitzungsbetrieb, um dieses zu ermöglichen, erscheint da nicht völlig unvertretbar, im Rückblick der beiden Einführungen in Moabit sogar unerlässlich.

Die erfolgreiche Umstellung auf forumSTAR bei dem Amtsgericht Tiergarten und dem Landgericht Berlin I wird im Frühjahr 2025 durch die Einführung auch bei den Strafsenaten des Kammergerichts abgerundet werden. Dabei ist zu erwarten, dass der Prozess der Umstellung dort zu weniger Komplikationen und zu einer – auch stärker als solche empfundenen – Erleichterung der Arbeit führen wird. Denn in diesem Bereich der Berliner Justiz wird bislang noch gänzlich ohne eine IT-Fachanwendung gearbeitet. Mit der Fachanwendung wird dann eine Unterstützung und teilweise Automatisierung von verfahrensbezogenen Textprodukten – insbesondere was die Geschäftsstellentätigkeit anbelangt – erreicht. Das ist dann mehr als ein Quantensprung – der ja streng genommen eigentlich eher klein ist – in eine modernere Zeit der Arbeitserledigung. Eine Datenmigration wird in diesem Bereich nicht erforderlich – es gibt schlicht keine zu migrierenden Daten, da die Arbeitsweise bislang analog war, sodass hier der in den anderen Gerichten als teilweise beschwerlich empfundene Aufgabe der Nachpflege entfällt.

Wozu all dieser Aufwand nun, könnte man sich an dieser Stelle nochmals fragen. All diese Anstrengungen dienen – wie bereits oben angesprochen – dem Sprung ins kalte Wasser der Volldigitalisierung der Strafgerichte. Ein Sprung wie in die Tiefen des Atlantiks, so kommt es einem vor. Denn nicht nur in der Berliner Justiz wird die Einführung der elektronischen Akte im Strafbereich als eine der größten Herausforderungen in diesem Bereich gesehen.

„Dieser Sprungaufgabe darf zwar angesichts der engen zeitlichen Vorgaben des Gesetzgebers sicher nicht mit Gelassenheit, wohl aber mit Optimismus entgegengesehen werden“

Nachdem nun bereits fast alle Fachbereiche der ordentlichen Gerichtsbarkeit Berlins diesen Sprung bewältigt haben, stehen die Strafgerichte noch auf dem Zehnmeterturm, bereit zum Absprung. Mit der geballten Erfahrung aus den anderen Einführungsprojekten und den Erfahrungen aus der Praxis ist dieser Sprung kein Sprung ins Ungewisse. Dieser Sprungaufgabe darf zwar angesichts der engen zeitlichen Vorgaben des Gesetzgebers sicher nicht mit Gelassenheit, wohl aber mit Optimismus entgegengesehen werden. Es arbeiten alle Verbundländer intensiv an der Einführung der Straf-eAkte, einige von ihnen haben von den Programmvoraussetzungen her sogar identische Ausgangspositionen wie die Berliner Justiz. Der intensive Austausch unter ihnen führt zu einem rasanten Wissens- und Erfahrungszuwachs bei allen Beteiligten. Es ist daher zu erwarten, dass die derzeit noch unbekannten Gewässer sehr bald erkundet und hinreichend erforscht sein werden, um die vollständige Digitalisierung der Berliner Strafgerichtsbarkeit zeitnah abzuschließen. Zu guter Letzt: All dies wird den Mitarbeitenden der Berliner Justiz insgesamt, und ganz besonders den Berliner Strafgerichten, einiges abverlangen. Aber wir werden das ohne Lähmung der Berliner Gerichte hinbekommen.

Heft 01/02 | 2025 | 74. Jahrgang