„Stoppt den EuGH“
Tagung in der Villa Vigoni zum Arbeitsrecht im europarechtlichen Zusammenhang
Stoppt den EuGH, zitiert Dr. Gerd Binkert, Präsident des LAG Berlin-Brandenburg a.D., den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Wäre der EuGH dieser Forderung gefolgt, hätten wir nicht in der traumhaft gelegenen Villa Vigoni, oberhalb des Comer Sees, zum Arbeitsrecht im europarechtlichen Zusammenhang getagt. Wir, das sind vor allem die Mitglieder des Berliner Freundes- und Förderkreises Arbeitsrecht „Gestern- Heute-Morgen“ e.V. Dank der steten Bemühungen von Dr. Roland Pahlen und Dr. Binkert und unter Leitung von Frau Dr. Andrea Baer, Präsidentin der LAG Berlin-Brandenburg, wurden dieses Jahr Rechtsfragen zum „Arbeitszeitrecht“ diskutiert.
Claudia Frank | Fachanwältin für Arbeits- und SteuerR | Vorstand BAV | Präsidentin der Vertreterversammlung VBG
Wie schon in den letzten Jahren sind unserer Einladung zu diesem Thema zwei Richterinnen aus Ungarn, ein Juniorprofessor aus Strasbourg und Rechtsanwalt Dr. Grigolli aus Italien gefolgt. Erfreulich war, dass so viele neue Gesichter an diesem wunderbaren Tagungsort zu uns gestoßen sind und zu einem sehr intensiven Austausch beigetragen haben. Stilvoll wurden wir am Vorabend der Tagung in der Villa Vigoni mit hervorragendem Prosecco begrüßt und in die Geschichte des Hauses eingeführt. Nach einem Abendessen, das ein besonderes Lob verdient, ist es Tradition, dass man sich in einem der herrschaftlichen Räume zusammensetzt. Die „Neuen“ und die Begleitungen der TeilnehmerInnen wurden in diesem Kreis herzlich aufgenommen und bei regem Austausch konnten wir die besondere Atmosphäre des Ortes aufsaugen.
Eröffnet wurde die Tagung an nächsten Morgen mit einem großartigen Impulsreferat von Prof. Dr. von Steinau- Steinrück, Berlin, dessen lebhafte Ausführungen, gespickt mit Humor, die derzeitige Situation zum Arbeitszeitrecht aufgrund der EuGH-Entscheidung aus 2019 in der Praxis sehr anschaulich aufzeigten und bei uns Anwälten ebenso Kopfnicken auslöste wie bei der Richterschaft. Die Diskussion, die sich nach jedem Vortrag anschloss, bestätigte, dass nicht nur, aber primär, die fehlende Gesetzesgrundlage zu einer großen Unsicherheit bei Arbeitgebern und Betriebsräten geführt hat. Erst nach der besagten Entscheidung des EuGH brach Europaweit die SARS-CoV-2-Pandemie aus. Zweifellos hat diese zum Erstarken von Homeoffice sowie dem „Mobilen Arbeiten“ geführt. Die Arbeitswelt hat sich geändert und daher passt die Aufzeichnungspflicht, wie sie der EuGH vorgegeben hat, nicht mehr in die Praxis, ja sie ist lebensfremd.
„Die Arbeitswelt hat sich geändert und daher passt die Aufzeichnungspflicht, wie sie der EuGH vorgegeben hat, nicht mehr in die Praxis, ja sie ist lebensfremd“
Das BAG hat 2022 entschieden, dass § 3 Abs. 2 Satz 1 ArbeitsschutzG eine Aufzeichnung der Arbeitszeit beinhaltet, mithin eine gesetzliche Regelung obsolet macht. Eine sehr umstrittene Entscheidung. Diskutiert wurde, was ist eigentlich „Ruhezeit“, wie müssen wir die Reisezeit definieren. Wie grenzen wir die Arbeitszeit von Freizeit, Ruhezeit und Urlaub klar ab? Das Lesen einer E-Mail am Abend, im Urlaub, während der Freizeit, führt das bereits zu einer Unterbrechung der Ruhezeit? Müssen die ArbeitnehmerInnen „vor sich selbst geschützt werden“? Für uns von Interesse war vor allem, wie diese Entscheidung des EuGH in anderen Mitgliedsländern umgesetzt wird oder welche gesetzlichen Regelungen es bereits gibt.
So waren wir sehr gespannt auf den Vortrag von Benjamin Davosville, Professor an der Universität Strasbourg, zu den aktuellen Problemen des Arbeitszeitrechts in Frankreich. Frankreich hat ein Arbeitsgesetzbuch, sehr viele Tarifverträge und mit der Arbeitszeit generell Probleme. Sehr viele Fälle landen daher vor Gericht. Überraschend ist, dass in erster Instanz jedoch ausschließlich Laienrichter entscheiden, zwei Vertreter der Arbeitnehmer und zwei Vertreter der Arbeitgeber. Diese sind, so Davosville, mittlerweile aufgrund der Gesetzesfülle und Entscheidungen des EuGH vollkommen überfordert. Uns ist eine solche Besetzung der Richterbank ohnehin fremd, zumal diese Laien nur eine Ausbildung von drei Wochen (!) erhalten. Es verwunderte uns nicht, dass immer häufiger der Berufsrichter entscheidet, wenn sich die Laienrichter nicht einigen können. Ich hüte mich, alle Besonderheiten aus dem französischen Arbeitsrecht hier auszubreiten, aber in Frankreich beträgt die Vollzeit 35 Wochenstunden. Eine Pauschalvereinbarung, die Arbeitszeit soll 38 Stunden wöchentlich betragen, hilft nicht weiter. Dem Arbeitnehmer sind gleichwohl drei Überstunden gutzuschreiben. Die Gewerkschaft in Frankreich hat eine (noch) viel stärkere Position als bei uns, sodass die Frage der Arbeitszeit auch in Frankreich noch viele Jahre ein Thema sein wird.
Nach diesem sehr anregenden Vormittag mit vielen Diskussionen, auch in den Kaffeepausen, wurde die Tagung mit einem allseits mit Spannung erwarteten Vortrag von Dr. Stephan Grigolli, Fachanwalt für Internationales Wirtschaftsrecht mit Sitz in Mailand und Sprecher DAV Italien, über das Arbeitszeitrecht in Italien fortgesetzt. Natürlich hat auch in Italien die Entscheidung des EuGH hohe Wellen geschlagen, zumal die Rechte und Pflichten für fast alle Unternehmen in unzähligen Tarifverträgen geregelt sind. Dieses starre System kann durch den individuellen Arbeitsvertrag nicht ausgehebelt werden. Gleichwohl muss auch Italien das Urteil des EuGH zur Aufzeichnung der Arbeitszeit beachten und umsetzen. Hier kommt das Arbeitsbuch – libretto unico del lavoro, LUL genannt – ins Spiel. Darin wird alles dokumentiert. Nach meinem Dafürhalten ist es unserer Gehaltsabrechnung sehr ähnlich, allerdings sind die darin aufgezeichneten Urlaubzeiten, Überstunden und Feiertage verbindlich und nicht nur deklaratorisch. Derzeit liegen drei Gesetzesinitiativen zur wöchentlichen Arbeitszeit vor. Die 34-Stunden-Woche wurde abgelehnt, die Fünf-Sterne- Bewegung möchte eine 32-Stunden-Woche und die demokratische Partei eine 4-Tage-Woche. Eine Einigung ist absehbar nicht in Sicht!
Die unterschiedlichen Sichtweisen und gesellschaftsrechtlichen Empfindlichkeiten kamen zutage, als auf eine Frage der Kollege Grigolli antwortete, „darüber machen sich die Italiener keine Gedanken“.
Treue Gäste mit so guten Deutschkenntnissen und uns seit vielen Jahren bekannt sind Frau Dr. Agnes Jozsa und Dr. Anna Szabo, Arbeitsrichterinnen aus Budapest. Die Erfassung der Arbeitszeit in Ungarn ist starr und führt nicht zu einem befriedigenden Ergebnis. Die Arbeitszeit muss erfasst werden, doch niemand darf von der vorgegebenen Zeit abrücken. Soll um 9 Uhr mit der Arbeit begonnen werden, dann kann die Arbeitnehmerin nicht um 8.45 Uhr mit der Arbeit beginnen. Das hat zur Folge, dass letztendlich die Arbeitszettel alle gleich aussehen, und, so Frau Dr. Jozsa, eigentlich „gefälscht“ sind. Zu den in Ungarn gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten wurde der EuGH angerufen – mit einer Entscheidung, die in Ungarn zu einer erheblichen Nachzahlung seitens der Arbeitgeber geführt hat. Man konnte erahnen, dass weder die Unternehmen noch die Richterschaft darüber amüsiert war.
Die Abende waren bereichert durch Gespräche, weit über die Arbeitswelt und den Urteilen des EuGH hinaus. Am zweiten Tag folgten drei weitere Referate von Dr. Binkert, Dr. Goerg und der Verfasserin dieses Berichts. Die Probleme der „Erreichbarkeit“ sind natürlich auch und vor allem ein Thema des Gesundheitsschutzes. Anhand einer Entscheidung des BAG vom 23. August 2023 zeigte uns Dr. Gerd Binkert, wie schwer es ist, die Arbeitszeit von der Freizeit oder Ruhezeit abzugrenzen. Die Divergenz zwischen persönlicher Gestaltungsfreiheit und der Belastungsintensität ist auch eine Frage der „Arbeitszeit“. Das Fazit: Gesundheitsschutz ja, aber keine Regelung, die lebensfremd ist.
Zuletzt referierte Kollege Dr. Goerg zu der mittelbaren Drittwirkung von Art. 31 GrCharta, die vom EuGH anerkannt wurde, und zwar mit der Entscheidung über die Vererbbarkeit der Urlaubsabgeltung. Nach einer Sezierung des Urteils des EuGH zum Schluss waren immer noch viele Fragen offen und wir hatten keine passende Lösung. Daher mussten wir – in vino veritas – den weiteren Austausch in einem nahegelegenen Weingut fortsetzen. An diesem Tag ließ die Sonne Italien in besonderem Licht erscheinen und so endete die Tagung in dem Wissen, die Villa Vigoni – unser Arkadien – wird auch in spätestens zwei Jahren wieder der geeignete Rahmen für eine Tagung sein. Wer diesen Ort des Deutsch-Italienischen Austauschs nicht kennt, der möge sich melden. Die Arbeitszeit kann nicht angenehmer vergehen als im Land, wo die Zitronen blühen.