„Unterordnen – Jewiß! Aber unter wat drunter?!“

Der Hauptmann von Köpenick und der Deutsche Anwaltstag 2025 in Berlin – kleine Randbemerkungen anhand dieses Falles zum Thema des diesjährigen DAT: Rechtsstaatlichkeit stärken – Freiheit bewahren

Der Titel des Aufsatzes ist ein Zitat aus dem Theaterstück „Der Hauptmann von Köpenick“ von Carl Zuckmayer aus dem Jahr 1930. Der Fall des Hauptmanns von Köpenick gibt Gelegenheit, das Thema des diesjährigen Deutschen Anwaltstages in Berlin mit einem Fall von 1906, der in der Stadt spielt, in verschiedenen Weisen zum Klingen zu bringen.

Der Artikel wird verschiedene Themen anreißen, aber nicht weiter ausführen können, und versuchen, mittels Zitaten und Informationen den Fall des Schusters Friedrich Wilhelm Voigt mit Blick aufs Heute lebendig werden zu lassen.

Der Hauptmann von Köpenick
© Lienhard Schulz, Wikipedia, CC BY-SA 3.0

Thomas Röth | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Arbeitsrecht, Miet- und Wohneigentumsrecht und Strafrecht | Liebert & Röth Rechtsanwälte | www.liebert-roeth.de | Abdruck mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags.

DER TABELLARISCHE LEBENSLAUF DES FRIEDRICH WILHELM VOIGT

13.02.1849 F. Wilhelm Voigt wird in Tilsit als Sohn eines Schuhmachers geboren.
Er besucht die dreiklassige Stadtschule
12.06.1863 Verurteilung durch das Kreisgericht Tilsit wegen Diebstahls zu
14 Tagen Gefängnis
09.09.1864 Urteil des Kreisgerichts Tilsit: 3 Monate Gefängnis wegen Diebstahls
01.09.1867 Urteil des Kreisgerichts: 9 Monate Gefängnis und ein Jahr „Ehrverlust
wegen Diebstahls im wiederholten Rückfall“
13.04.1867 Verurteilung durch das Schwurgericht Prenzlau: 10 Jahre Zuchthaus
und 1500 Taler Geldstrafe wegen schwerer Urkundenfälschung
05.07.1889 Urteil des Landgerichts Posen: 1 Jahr Gefängnis wegen Diebstahls
18.01.1890 Urteil des Landgerichts Posen: 4 Wochen Gefängnis wegen „intellektueller Urkundenfälschung“
12.02.1891 Verurteilung durch das Landgericht Gnesen: 15 Jahre Zuchthaus, 10 Jahre Ehrverletzung wegen Diebstahls. Polizeiaufsicht
wird angeordnet
12.02.1906 Entlassung Voigts aus der Haftanstalt Rawitsch. Für drei Monate arbeitet Voigt beim Hofschuhmacher Hilbrecht in Wismar. Es folgen Ausweisung und Verbot des weiteren Aufenthaltes im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin. Aufenthalt bei seiner Schwester in Berlin und Aufnahme einer Arbeit in der Filzschuhfabrik Albert Viereck, Breslauer Straße
24.08.1906 Voigt erhält eine polizeilische Ausweisung aus Berlin; er hält sich von nun an illegal in der Reichshauptstadt auf, arbeitet aber weiterhin
06.10.1906 Wilhelm Voigt kündigt bei der Filzschuhfabrik Viereck
16.10.1906 Köpenickiade am Rathaus Köpenick
26.10.1906 Wilhelm Voigt wird verhaftet
30.11.1906 Prozess gegen Voigt vor dem Landgericht II Berlin
02.11.1906 Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von 4 Jahren
15.08.1908 Kaiserlicher Gnadenerlass
16.08.1908 Entlassung Voigts aus der Haftanstalt Tegel
22.08.1908 Nach Auftrittsverbot Tournee nach Dresden, Wien und Budapest
26.08.1908 Auftritt im Passagenpanoptikum Friedrich-/Ecke Behrensstraße
18.09.1908 bis 04.03.1909 Auftritte in Varietés, Restaurants und auf Rummelplätzen. Signiert Postkarten mit seinem Konterfei und durchquert
04.03.1909 mehrere Städte Deutschlands und Europas
25.09.1908 Wilhelm Voigt erhält einen Auslandspass
15.11.1908 Der Polizeipräsident hebt die Ausweisungsverfügung von 1906 aus Berlin auf
05.03.1910 Aufbruch zur Tournee nach Amerika, Kanada und Frankreich
30.04.1910 Rückkehr nach Luxemburg
01.05.1910 Friedrich Wilhelm Voigt erhält einen luxemburgischen Personalausweis
19.05.1910 Voigt erwirbt Wohnrecht im Großherzogtum Luxemburg
Juni 1910 Letzte Tournee durch Großbritannien und einige deutsche Städte
03.01.1922 Friedrich Wilhelm Voigt stirbt in Luxemburg. Beerdigung dort auf dem Friedhof Notre-Dame

UNGEWÖHNLICHE GNADE DES KAISERS

Der Gnadenerlass aus dem Jahre 1908 war für die damalige Zeit eher ungewöhnlich. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts forderte ein echter Hauptmann in Graudenz seine Kompanie auf, mit gepacktem Tornister einen reißenden Fluss zu überqueren. Der Fluss war so reißend, dass die Soldaten der Kompanie ertrunken wären, weswegen sie den Befehl verweigerten und den Hauptmann entwaffneten. Wegen Befehlsverweigerung wurden die Soldaten der Kompanie verurteilt und nicht begnadigt.

DIE POLIZEIAUFSICHT

Wie aus dem Lebenslauf ersichtlich, wurde Friedrich Wilhelm Voigt am 12. Februar 1906 aus der Haftanstalt Rawitsch entlassen und arbeitete für drei Monate bei dem Hofschuhmacher Hilbrecht in Wismar. Er wollte dort auch gern weiterarbeiten und der Hofschuhmacher war mit seiner Arbeit zufrieden. Er wurde allerdings aus dem Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin ausgewiesen und ein weiterer Aufenthalt ihm dort verboten.

Hintergrund für diese Ausweisung war folgende Gesetzeslage: Gemäß § 39 des Reichsstrafgesetzbuches konnte bei Polizeiaufsicht dem Verurteilten der Aufenthalt an einzelnen bestimmten Orten von der höheren Landespolizeibehörde untersagt werden.

Daneben gab es in Preußen ein Gesetz („Heimatgesetz“ vom 31.12.1842), wonach die Polizei das Recht hatte, auch nicht unter Polizeiaufsicht gestellte Bestrafte auszuweisen, falls sie an einen anderen Ort neu einzogen und für gefährlich gehalten wurden. Es sah in § 2 vor, dass die Landespolizeiverwaltung entlassene Sträflinge von dem Aufenthalt an gewissen Orten ausschließen konnte, und zwar dann, wenn sie zu Zuchthaus oder wegen eines Verbrechens verurteilt sind, wodurch der Täter sich als einen für die Öffentlichkeit oder Moralität gefährlichen Menschen darstellt. Mit Verfügung des Regierungspräsidenten in Breslau vom 29.12.1905 war Wilhelm Voigt für fünf Jahre vom 12. Februar 1906 an unter Polizeiaufsicht gestellt worden.

Diese Möglichkeiten wurden unter anderem anhand des Falles des Hauptmanns von Köpenick problematisch und im preußischen Abgeordnetenhaus z. B. in der Sitzung vom 19. Februar 1907 und im Reichstag in der Sitzung vom 20. April 1907 erörtert. Auch der Verteidiger des Wilhelm Voigt vor dem Landgericht Berlin, Kollege Walter Bahn, führte dazu aus: „Der müde Wanderer wurde wieder gezwungen, zum Stabe zu greifen, er wurde aus Mecklenburg ausgewiesen!“ (aus seinem Buch „Meine Klienten“).

Das wäre heute so nicht mehr möglich. Artikel 11 GG schützt die Freizügigkeit aller Deutschen. Folgende Einschränkungen sind gesetzlich üblicherweise (Notstandsgesetze und Verteidigungsfall bleiben außen vor) möglich:

  • Festhalten, Beschränkung während diverser polizeilicher Maßnahmen, Platzverweis, Aufenthaltsverbote und Wegweisung nach den Polizeigesetzen der Länder/des Bundes
  • Maßnahmen nach dem Verfahren in Freiheitsentziehungssachen (§§ 415 – 432 des FamFG, insb. Abschiebehaft nach dem AufenthG, Freiheitsbeschränkungen nach dem IfSG und nach den PsychKGn der Länder)
  • U-haft, Straf-, Erzwingungs-, Ersatzstraf- und Auslieferungshaft, vorläufige Unterbringung gem. § 126a StPO, Maßregeln der Besserung und Sicherung nach dem StGB §§ 61 ff. (Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt, in einer Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung), möglich auch bei Auflage bzw. Weisungen in Strafurteilen, aber wohl nur sehr eingeschränkt (s. §§ 56 b und c StGB)
  • Nach dem Bundessozialgericht (s. z. B. Entscheidung vom 01.06.2010 zum Az. B 4 AS 60/09 R) sind (Leitsatz) „Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB 2 nach einem Umzug über die Grenzen des kommunalen Vergleichsraums hinaus nicht auf die Aufwendungen am bisherigen Wohnort begrenzt“ und zu gewähren (wegen Art. 11 GG)

MOTIV FÜR DIE TAT

Wilhelm Voigt selbst hat angegeben, dass er die Tat begangen habe, weil er diese ständigen Ausweisungen satthatte und einen Auslandspass mit seiner Tat bekommen wollte, um das Deutsche Reich verlassen zu können. Allerdings war für das Passausstellen nicht die Verwaltung des Rathauses Köpenick zuständig, sondern eine andere Behörde. Wilhelm Voigt hatte bei der Beschlagnahme der Stadtkasse angegeben, es seien Unregelmäßigkeiten bei den jüngst ausgeführten Kanalisationsarbeiten vorgekommen, der Landrat sei fuchsteufelswild, alles Weitere werde man in Berlin hören. Das Landgericht fragte Wilhelm Voigt, warum er nicht behauptet habe, er wolle das Passbüro revidieren, weil dort Unkorrektheiten vorgefallen seien. Dann hätte er doch mühelos ein Passformular erhalten. Auf diese Frage hat Herr Voigt dem Gerichtsvorsitzenden nicht geantwortet. Zuständig wäre wohl für eine Passausstellung damals das Landratsamt gewesen.

FALSCHE UNIFORM

Wilhelm Voigt hatte sich eine Uniform in einem Spezialgeschäft in Berlin zuvor gekauft. Der Fabrikant hatte ihn selbst bedient und ihm kam der Kunde heruntergekommen vor. Er ging davon aus, dass dies ein Mann sei, der für einen Offizier eine Uniform kaufe, ihm fiel aber auf, dass der Käufer sich die Kokarden falsch angesteckt hatte. Ebenso waren bei Tatbegehung die Sporen nicht vorschriftsmäßig angeschlagen. Dies schien allerdings bei Tatbegehung niemandem aufgefallen zu sein.

VOIGT UND DIE SICHERUNGSVERWAHRUNG

Wäre Wilhelm Voigt heute ein Hangtäter gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB (Sicherungsverwahrung)? Hierzu gibt einen Aufsatz von Prof. Dr. Henning Rosenau online in der ZIS 2010, S. 284 – 293, direkt im Anschluss ist das Urteil des Königlichen Landgerichts II in Berlin vom 1.12.1906 über ihn abgedruckt (also ZIS 2010, S. 294 – 298), s. Link https://zis-online.com/dat/artikel/2010_3_437.pdf.

WILHELM VOIGT UND SEINE AUFTRITTE/TOURNEEN NACH DER HAFTENTLASSUNG AUS TEGEL

Wilhelm Voigt hatte die Gelder der beschlagnahmten Stadtkasse, 3557,45 Mark, in Besitz genommen. Bei ihm wurden nach Ergreifung 2788,00 Mark gefunden. Es fehlten also 769,45 Mark. Nach heutigem Recht wären nach dem Opferanspruchssicherungsgesetz eventuelle offene Schadensersatzforderungen gegen Wilhelm Voigt aus der Tat bei nicht freiwilliger Zahlung wohl durch Pfändung der Auftrittshonorare gesichert worden.

SCHNELLIGKEIT DER JUSTIZ

Am 1.12.1906 verkündete das Landgericht das Urteil. Also sechs Wochen nach Tatbegehung. Die Urteilsverkündung war um 19:00 Uhr abends.

ZUSAMMENFASSEND UND SCHLUSSKADENZEND ZUM THEMA DES DEUTSCHEN ANWALTSTAGES

Zitiert aus Claus-Dieter Sprink (Red.): Unterordnen – jewiß! Aber unter wat drunter?! Vom Schuster Friedrich Wilhelm Voigt zum „Hauptmann von Köpenick“. Ausstellung im Rathaus Köpenick, Festschrift zum 90. Jahrestag der Köpenickiade am 16. Oktober 1996. Köpenick 1996, S. 30:

Hobrecht: Wir leben inn Staat und wir leben inn Ordnung – da kannste dir nich außerhalb stellen, das darfste nicht!

Voigt: So, und wat soll ick drinnen? Wat hilft et mir denn? Da werck noch lange kein Mensch von!

Hobrecht: ‘n Mensch biste überhaupt nur, wenn du dich inne menschliche Ordnung stellst! leben tut auch ne Wanze!

Voigt: Richtig! Die lebt, Friedrich! Und weißte, warum se lebt? Erst kommt die Wanze und dann die Wanzenordnung! Erst der Mensch, Friedrich, und dann die Menschenordnung!

Hobrecht: Du willst dich nich unterordnen, das isses! Wern ein Mensch sein will, der muss sich unterordnen, verstanden?

Voigt: Unterordnen – gewiß! Aber unter wat drunter? Det will ick ganz genau wissen! Denn muß die Ordnung richtig sein, Friedrich. Det isse nich!

Hobrecht: Sie is richtig! Bei uns is richtig! Schau dir ne Truppe an, in Reih und Glied, dann merkstes. Wer da drin steht, der spürts! Tuchfühlung mußte halten! Dann bisten Mensch, und dann haste ne menschliche Ordnung.

Voigt: Wennse man keen Loch hat, Friedrich! Wennse mal nur nicht so stramm sitzt, daß die Nähte platzen! Wenn da man nur nichts passiert, Mensch!

Hobrecht: Bei uns nich! Bei uns in Deutschland ist alles jesund von unten auf, und was jesund ist, det ist auch richtig, Willem!

Voigt: So? und woher kommt denn det Unrecht? Hobrecht: Bei uns jibs kein Unrecht. Wenigstens nich von oben runter! Bei uns geht Recht und Ordnung über alles, das weiß jeder Deutsche. Voigt: Auch übern Menschen, Friedrich? Übern Menschen mit Leib und Seele! Da jeht et rüber, und denn steht er nicht mehr uff.

Hobrecht: Ick sag dir zum letzten Mal: Reinfügen mußte dich. Nich meckerngehen! Und wenns dich zerrädert, dann mußte det Maul halten, denn gehörste doch noch zu, denn bisten Opfer und det isn Opfer wert. Det änderste nich, Willem!

Voigt: Det könnt ick ja nich, da bin ick viel zu allene für … Ab so knickerich, verstehste, möchte ick mal nich vor mein Schöpfer stehen. Ick wer noch was machen mit mein Leben.

Hobrecht: Du pochst an die Weltordnung, Willem!

Heft 06 | 2025 | 74. Jahrgang