Völkerstrafrecht vor deutschen Gerichten
Herausforderungen der Verteidigung und der Nebenklage in Völkerstrafverfahren vor deutschen Oberlandesgerichten1Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag beim Frühjahrssymposium des DAV am 22.04.2023. Mein Dank gilt der Rechtsreferendarin Katharina Braun, die mich bei der Überarbeitung unterstützt hat.
In vielen Gegenden der Welt herrschen kriegerische Auseinandersetzungen und Menschenrechtsverletzungen. Exemplarisch sind Iran, Syrien, Ukraine, Kongo und jetzt auch wieder Sudan zu nennen. Die juristische Aufarbeitung dieser Geschehnisse gestaltet sich schwierig. Gerichte vor Ort sind oftmals dysfunktional oder überfordert, und auch internationale Gerichte wie der IStGH in Den Haag können die juristische Aufarbeitung nur ausschnittweise betreiben. Vor diesem Hintergrund liegt es auch an anderen Staaten, unter Anwendung des Weltrechtsprinzips ihren Teil zur Aufarbeitung von Völkerrechtsverbrechen wie Genozid beizutragen. Deutschland nimmt sich dieser Aufgabe in besonderem Maße an2Siehe dazu auch: Bundesministerium der Justiz, Eckpunkte des Bundesministeriums der Justiz zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts, 23.02.2023, https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/ PM/230223_Eckpunkte_VStGB.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen: 19.05.2023). und erfährt dafür im Ausland viel Zuspruch. Völkerstrafrecht wird vor deutschen Gerichten angewendet, diskutiert und weiterentwickelt. Entsprechend können und müssen auch wir, als Anwaltschaft, uns mit völkerstrafrechtlichen Fragen befassen.
Natalie v. Wistinghausen | Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht, Berlin | www.nvw-law.com
HINTERGRUND
Die Anwendung des Völkerstrafrechts vor deutschen Gerichten ist grundsätzlich zu begrüßen. Gleichzeitig stellt ein völkerstrafrechtliches Verfahren alle Prozessbeteiligten vor besondere Herausforderungen. Anders als in den meisten Strafverfahren geht es, in den treffenden Worten von Gerd Hankel, um einen „Teil eines größeren Gewaltgeschehens“ unter Beteiligung zahlreicher Akteure, wobei die Vorgeschichte teils Jahrzehnte zurückliegt.3Gerd Hankel, Putin vor Gericht?, zu Klampen Verlag 2022, S. 95. Auch wenn die Frage nach der individuellen Schuld der Angeklagten entscheidend ist, lässt sich eine mutmaßliche Völkerstraftat nicht losgelöst von ihrem historischen, poli tischen und gesellschaftlichen Kontext aufklären. Die Parteien des Konfliktgeschehens betrachten sich weiterhin in ihrem Handeln als legitimiert und erfahren im Land des Konflikts nicht selten weiterhin öffentliche Unterstützung.4Gerd Hankel, Putin vor Gericht?, zu Klampen Verlag 2022, S. 95. Um zur kollektiven Aufarbeitung mutmaßlicher Verbrechen beizutragen, muss ein Urteil sich gegen diese Stimmen behaupten.5Gerd Hankel, Putin vor Gericht?, zu Klampen Verlag 2022, S. 95 f.
Nicht zuletzt aus diesem Grund muss Völkerstrafrecht unter Beachtung höchster Sorgfalt, insbesondere hinsichtlich der Fairness des Verfahrens,6Siehe dazu Helena Krüger, Fairness im Völkerstrafverfahren, Verfolgung von Kriegsverbrechen und Terrorismus in den bewaffneten Konflikten in Syrien und im Irak, Nomos 2022. angewendet werden. Auch stellt ein Völkerstrafverfahren die konzeptionell vorrangig auf nationale Sachverhalte ausgerichtete Strafprozessordung vor Herausforderungen, welche hier nur exemplarisch dargestellt werden können.
ERMITTLUNGSMÖGLICHKEITEN IN VÖLKERSTRAFVERFAHREN
Ein Problemfeld betrifft die Ermittlungsmöglichkeiten in Völkerstrafverfahren. Die angeklagten Straftaten wurden mutmaßlich in Ländern begangen, mit denen Deutschland entweder kein Rechtshilfeabkommen hat (z.B. Syrien), und in denen die Sicherheitslage keine eigenen Ermittlungen des BKA und GBA erlaubt. Dies wirft die Frage auf, inwiefern ein deutsches Gericht einen Sachverhalt vollständig und zuverlässig aufklären kann. Hier sind sowohl finanzielle als auch fachliche Ressourcen entscheidend.
Allein im Rahmen der Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine gibt es zahlreiche Organisationen, die vor Ort recherchieren. Neben zahlreichen Stellen der Vereinten Nationen, dem IStGH und Initiativen wie dem sogenannten „Joint Investigative Team“ gibt es Dutzende von NGOs, die Beweismaterialien sammeln und ausführliche Berichte verfassen. Je nachdem, um welches Konfliktland es sich handelt, müssen die Verfahrensbeteiligten, einschließlich der Tatrichter, wissen, dass es diese Organisationen gibt und inwiefern sie bei der Aufklärung in einem deutschen Völkerstrafverfahren hilfreich und notwendig sein können.
Die Verteidigung wird in der Regel wenig Zugang zu solchen Ermittlungsmechanismen haben. In vielen Fällen erfordert die Verteidigung des Mandanten, dass ein Verteidigungsteam in das entsprechende Land reist, um Zeugen zu befragen, Distanzen zwischen Orten zu ermitteln, Einblick in Behördendokumente zu erhalten und vieles mehr. In dem Verfahren gegen einen ehemaligen ruandischen Bürgermeister wegen des Vorwurfs der Beteiligung am Genozid vor dem OLG Frankfurt ging ich entsprechend vor. Dabei sind nicht zuletzt finanzielle Ressourcen entscheidend. Ein Ermittler vor Ort, welcher damals auch als Dolmetscher fungierte, musste in diesem Verfahren durch Spenden aus privaten Quellen vergütet werden.
WEITERE HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE VERTEIDIGUNG
Wenn also die strafrechtliche Verfolgung im nationalen Bereich erweitert wird, müssen auch die Möglichkeiten der Verteidigung entsprechend erweitert werden. In einem transnationalen Strafverfahren – nehmen wir zum Beispiel die Geldwäsche oder die Verfolgung von transnationaler Finanz- und Wirtschaftskriminalität mit Bezügen zu sogenannten „Steuerparadiesen“ – ist es da nicht selbstverständlich und notwendig, eigene Recherchen durchzuführen, mit Kollegen aus dem Ausland zusammenzuarbeiten?
Neben finanziellen Ressourcen gilt es auch, fachliche Kompetenz zum Beispiel durch Fortbildungen aufzubauen. Natürlich ist es wichtig, wie in jedem anderen Verfahren auch, juristisches Handwerkszeug zu beherrschen und einzusetzen. Entscheidend ist es aber auch zu verstehen, wie beispielsweise Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im VStGB aufgebaut sind, wie es um die Konkurrenzen (auch im Verhältnis zu StGB-Delikten) steht, und wie es mit Immunitätsfragen aussieht. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass viele Fragen schon bei den internationalen Gerichten entschieden wurden und die deutschen Gerichte, da es sich um ein eher junges Rechtsgebiet handelt, durchaus darauf Bezug nehmen. Ganz entscheidend kommt es auch darauf an, ein wenig von dem Land, der Politik, und der Kultur des Landes zu wissen, in dem sich der Sachverhalt abspielt.
Nicht nur juristische Fachkompetenz, sondern auch Zugang zu Sachverständigen ist essenziell. Dies gilt gerade in Bezug auf digitale Beweismittel, wie zum Beispiel Satellitenbilder und Drohnenaufnahmen. Ich muss als Verteidigerin die Zuverlässigkeit, Authentizität und Relevanz dieser Beweismittel prüfen können. Anders als die Staatsanwaltschaft kann die Verteidigung dabei in der Regel nicht auf NGOs und internationale Ermittlungsmechanismen zählen. Wenn beispielsweise ein bestimmtes Gebäude zerstört wurde, wollen Sie als Verteidigerin womöglich neben Zeugenaussagen auf Satellitenbilder und Lageberichte zurückgreifen, um die Zeit und Art der Zerstörung zu ermitteln. Ein Sachverständiger wird Ihnen als Verteidigerin helfen, Bildmaterial (insbesondere Satellitenbilder und Drohnenaufnahmen) zu analysieren und zu überprüfen, ob die dargestellten Trümmer mit der von der Staatsanwaltschaft beschriebenen Explosion übereinstimmen.
Ähnlich verhält es sich mit der Auswertung von Telekommunikationsdaten, einschließlich der Zuordnung bestimmter Geräte an bestimmte Personen, der Zuverlässigkeit von Geodaten etc. Auch über soziale Medien öffentlich zugängliche Bilder können ausgewertet werden. Kurz gesagt: Es gibt eine riesige Menge an Informationen, die von der Verteidigung beauftragte Sachverständige nutzen könnten, um die Schlussfolgerungen der Anklage zu widerlegen. Die Finanzierung der Sachverständigen und der erforderlichen Technologien ist weitgehend ungeklärt.
SPRACHBARRIEREN, KOMMUNIKATION UND ÖFFENTLICHKEITSARBEIT
Sowohl aus der Perspektive der Verteidigung als auch der Nebenklage besteht Verbesserungsbedarf bei der sprachlichen Zugänglichkeit der Hauptverhandlung7Auch zur Frage der sprachlichen Zugänglichkeit der Verfahren positioniert sich das BMJ in dem Eckpunktepapier: § 185 GVG zur Zuziehung von Dolmetschern soll ergänzt werden, um klarzustellen, dass Medienvertreter in Gerichtsverfahren Verdolmetschungen nutzen können. Wenn für den Angeklagten gedolmetscht wird, sollen Medienvertreter profitieren können. und ihrer Dokumentation.8Bertram Schmitt, Die Dokumentation der Hauptverhandlung, NStZ 2019, 1. Die wörtliche Transkription der Hauptverhandlung muss, so wie bei allen internationalen Strafgerichten und in vielen anderen nationalen Jurisdiktionen, Standard werden.9Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG), 10.05.2023, https://www.bmj. de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_%20DokHVG_ Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz.pdf;jsessionid=16300E2116512D D6CBA6F80B25DA410B.2_cid324?__blob=publicationFile&v=3 (abgerufen: 24.05.2023). Auch die Übersetzung gestaltet sich oft schwierig, insbesondere wenn es um bestimmte Dialekte geht, so zum Beispiel um Kurmanji, einen Dialekt des Kurdischen, welcher von Jesidinnen und Jesiden in OLG-Verfahren gegen IS-Mitglieder gesprochen wird.
In dem prominenten Verfahren vor dem OLG Koblenz gegen zwei ehemalige Anhänger des Assad-Regimes wies die Vorsitzende die Dolmetscher an, lediglich für die Angeklagten und Nebenkläger hörbar aus dem Deutschen zu übertragen.10Siehe zusammenfassend Susann Aboueldahab & Fin-Jasper Langmack, Das Ende des Al-Khatib-Verfahrens: Ein historisches Urteil und ein Verfahren voller verpasster Chancen, Völkerrechtsblog, 14.01.2022, abgerufen: https://voelkerrechtsblog.org/de/das-ende-des-al-khatib-verfahrens/ (19.05.2023). Auch BVerfG, Beschluss vom 18.08.2020, 1 BvR 1918/20 worin der Vorsitzenden aufgegeben wurde akkreditierten Medienvertretern mit besonderem Bezug zum syrischen Konflikt zu ermöglichen, das Verfahren in arabischer Sprache zu verfolgen, konnte nur bedingt Abhilfe schaffen. Die mangelnde Übersetzung für internationale Medienvertreter mit Bezug zu Syrien erschwerte deren Teilhabe enorm. Die Vereinbarkeit dieser Maßnahmen mit dem GVG ist fraglich, in jedem Fall beschränken sie in bedenklicher Weise die Funktion der Öffentlichkeit in Strafverfahren.
Ohnehin sind es momentan zivilgesellschaftliche Initiativen und NGOs, die Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation mit der betroffenen „Community“ leisten. Diese wichtige Arbeit könnte unterstützt werden, wenn es möglich wäre, die Hauptverhandlung ausschnittsweise, zeitverzögert und unter Beachtung eventueller Zeugenschutzmaßnahmen in das Land des Tatorts zu übertragen. Dies ist bei internationalen Gerichten wie dem IStGH,11Internationaler Strafgerichtshof („International Criminal Court“), www. icc-cpi.org. IStGHR,12 Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda („International Criminal Tribunal for Ruanda“), www.ictr.org. IStGHJ13 Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien („International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia“), www.icty.org. und dem „Kosovo Tribunal“14Kosovo Tribunal („Kosovo Specialist Chambers“), www.scp-ks.org. bereits der Fall. Auch ist es angezeigt, Urteile und Beschlüsse in anderen Sprachen zur Verfügung zu stellen.
DIE ROLLE DER NEBENKLAGE
Auch die Nebenklage steht in Völkerstrafverfahren vor besonderen Herausforderungen. Nebenklägerinnen sind durch das Verfahren enormen Belastungen ausgesetzt. Zugleich haben sie ein großes und nachvollziehbares Interesse an der Durchführung dieser Verfahren, welche für sie und ihre Gemeinschaften sehr bedeutsam sind. Mehr als um die Höhe der Strafe geht es ihnen oft um Gerechtigkeit für sich und ihr Volk, sowie darum sicherzustellen, dass sich Geschichte nicht wiederholt.
Eine zentrale Forderung der Nebenklage in völkerstrafrechtlichen Verfahren ist die Erweiterung des § 395 StPO, der die Befugnis zum Anschluss als Nebenkläger regelt, und zwar auf die Tatbestände des Völkermordes, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Kriegsverbrechen nach dem VStGB. Wenn dies auch im Rahmen der gemeinschaftlichen Nebenklagevertretung gemäß § 397b StPO zu einer zusätzlichen praktischen Herausforderung werden könnte, ist die Änderung dennoch systematisch geboten.
Die derzeitige Rechtslage führt zu fragwürdigen Konstellationen: So muss zum Beispiel bei der Sklavenhaltung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (z.B. in fast allen IS/Jesiden-Verfahren) die Nebenklageberechtigung über den Umweg der schweren Freiheitsberaubung, normiert in § 239 Abs. 3 StGB erfolgen, da keines der VStGBDelikte im Katalog des § 395 StPO aufgeführt ist. Hier besteht – vom BMJ erkannter15Bundesministerium der Justiz, Eckpunkte des Bundesministeriums der Justiz zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts, 23.02.2023, https://www. bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/PM/230223_Eckpunkte_VStGB. pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen: 19.05.2023). – dringender Reformbedarf. Der „Umweg“ über die StGB-Delikte ist nicht nur konzeptionell fragwürdig, sondern könnte gravierende praktische Auswirkungen haben. Schließlich unterliegen Delikte des StGB üblicherweise der Verjährung, während VStGB-Delikte nach § 5 VStGB nicht verjähren.
Die aktuell fehlenden Nebenklageberechtigung hat weitreichende Folgen auf die Anwendung der gesamten StPO. Beispielsweise gibt es aktuell kein Zustimmungserfordernis durch die Nebenklage für Einstellungen von VStGB-Delikten nach § 154 und 154a StPO. So konnte im Jennifer W.-Verfahren vor dem OLG München die Einstellung der Beihilfe zum Völkermord und weiterer VStGBDelikte ohne Zustimmung der Nebenklage erfolgen.
Auch kann die Nebenklage gem. § 400 Abs. 1 StPO ein Urteil nicht mit dem Ziel anfechten, dass der Angeklagte wegen einer Gesetzesverletzung verurteilt wird, die nicht zum Anschluss des Nebenklägers berechtigt. Die Nebenklage hat somit derzeit kein Revisionsrecht im Hinblick auf Verletzungen der VStGB-Delikte. Auch hat sie kein Recht auf Stellungnahme bei Revisionen des GBA oder der Verteidigung, die sich auf Verletzungen der VStGBDelikte stützt. Im Verfahren vor dem OLG Frankfurt wegen des Völkermordes an den Jesiden und Jesidinnen hatte die Nebenklage somit keine Möglichkeit, Stellungnahme zur Revision der Verteidigung im Hinblick auf die Verurteilung wegen Völkermordes abzugeben. Diese im Vergleich zu anderen Verfahren eingeschränkten Möglichkeiten der Nebenklage in Völkerstrafverfahren sind nicht überzeugend.
BELANGE DER ZEUGEN IN VÖLKERSTRAFVERFAHREN
Nebenkläger sind oft zugleich zentrale Zeugen im Völkerstrafverfahren. Auch den Belangen der Zeugen wird die StPO nur bedingt gerecht. Fraglich ist insbesondere, inwiefern sie vor einer möglichen Gefährdung durch das Verfahren geschützt werden können.
Beispielsweise erscheint die Bestellung eines Zeugenbeistandes nach § 68b StPO während der Vernehmung in Völkerstrafverfahren nicht ausreichend. Ein Zeugenbeistand wird in Völkerstrafverfahren wegen der besonderen Vulnerabilität der Opferzeugen und dem unterschiedlichen Sprach-, Kultur- und Rechtskreis in aller Regel erforderlich sein, und zwar bereits vor der Vernehmung. Sie müssen besonders ausführlich über ihre Aussagepflichten und Rechte, insbesondere Zeugenschutzmaßnahmen, Risiken für Familienangehörige, Ablauf der Vernehmung vor Gericht, Öffentlichkeit der Hauptverhandlung und vieles mehr aufgeklärt werden. Bei Belastungszeugen besteht zudem die Gefahr, dass der nur für die Dauer der Vernehmung beigeordnete Rechtsanwalt zum Schutz des Mandanten mangels Kenntnis des Sachverhalts unter Bezug auf § 55 StPO einen Großteil der Fragen abwehren wird.
AUSBLICK
Das Völkerstrafrecht steckt nicht länger in den Kinderschuhen. Gerade angesichts des Krieges in der Ukraine sind in den nächsten Jahren weitere Völkerstrafverfahren, auch in Deutschland, zu erwarten. Vor diesem Hintergrund sind rechtspolitische Entwicklungen angezeigt.
Auch eine Harmonisierung der Handhabung von Völkerstrafverfahren auf europäischer Ebene erscheint naheliegend. Als Leitlinie für diese ausstehenden Entwicklungen gilt es, den Grundgedanken des Völkerstrafrechts nicht aus den Augen zu verlieren: Es betrifft die Ahndung der „schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren.“16 Präambel des Römischen Statuts. An entsprechend hohen Maßstäben sollten wir Völkerstrafverfahren, auch hier in Deutschland, messen.
Exklusiv für Mitglieder | Heft 10/2023 | 72. Jahrgang
- 1Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag beim Frühjahrssymposium des DAV am 22.04.2023. Mein Dank gilt der Rechtsreferendarin Katharina Braun, die mich bei der Überarbeitung unterstützt hat.
- 2Siehe dazu auch: Bundesministerium der Justiz, Eckpunkte des Bundesministeriums der Justiz zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts, 23.02.2023, https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/ PM/230223_Eckpunkte_VStGB.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen: 19.05.2023).
- 3Gerd Hankel, Putin vor Gericht?, zu Klampen Verlag 2022, S. 95.
- 4Gerd Hankel, Putin vor Gericht?, zu Klampen Verlag 2022, S. 95.
- 5Gerd Hankel, Putin vor Gericht?, zu Klampen Verlag 2022, S. 95 f.
- 6Siehe dazu Helena Krüger, Fairness im Völkerstrafverfahren, Verfolgung von Kriegsverbrechen und Terrorismus in den bewaffneten Konflikten in Syrien und im Irak, Nomos 2022.
- 7Auch zur Frage der sprachlichen Zugänglichkeit der Verfahren positioniert sich das BMJ in dem Eckpunktepapier: § 185 GVG zur Zuziehung von Dolmetschern soll ergänzt werden, um klarzustellen, dass Medienvertreter in Gerichtsverfahren Verdolmetschungen nutzen können. Wenn für den Angeklagten gedolmetscht wird, sollen Medienvertreter profitieren können.
- 8Bertram Schmitt, Die Dokumentation der Hauptverhandlung, NStZ 2019, 1.
- 9Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG), 10.05.2023, https://www.bmj. de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_%20DokHVG_ Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz.pdf;jsessionid=16300E2116512D D6CBA6F80B25DA410B.2_cid324?__blob=publicationFile&v=3 (abgerufen: 24.05.2023).
- 10Siehe zusammenfassend Susann Aboueldahab & Fin-Jasper Langmack, Das Ende des Al-Khatib-Verfahrens: Ein historisches Urteil und ein Verfahren voller verpasster Chancen, Völkerrechtsblog, 14.01.2022, abgerufen: https://voelkerrechtsblog.org/de/das-ende-des-al-khatib-verfahrens/ (19.05.2023). Auch BVerfG, Beschluss vom 18.08.2020, 1 BvR 1918/20 worin der Vorsitzenden aufgegeben wurde akkreditierten Medienvertretern mit besonderem Bezug zum syrischen Konflikt zu ermöglichen, das Verfahren in arabischer Sprache zu verfolgen, konnte nur bedingt Abhilfe schaffen.
- 11Internationaler Strafgerichtshof („International Criminal Court“), www. icc-cpi.org.
- 12Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda („International Criminal Tribunal for Ruanda“), www.ictr.org.
- 13Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien („International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia“), www.icty.org.
- 14Kosovo Tribunal („Kosovo Specialist Chambers“), www.scp-ks.org.
- 15Bundesministerium der Justiz, Eckpunkte des Bundesministeriums der Justiz zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts, 23.02.2023, https://www. bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/PM/230223_Eckpunkte_VStGB. pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen: 19.05.2023).
- 16Präambel des Römischen Statuts.