Warum ich „Diversity“ nicht mag

Ein Anstoß zum Nachdenken über unseren eigenen Habitus.

„Diversity“. Das klingt großstädtisch, weltoffen, liberal. Man denkt an New York und San Francisco, an London und Amsterdam, an Regenbogenfahnen und den Berliner CSD. Zunehmend denkt man auch an „Pink Washing“, an Konzerne, an Unternehmen, an Behörden und Anwaltskanzleien, die sich einmal im Jahr mit Regenbogenfahnen schmücken, da dies sympathisch und heutig wirkt und wenig kostet.

Prof. Niko Härting | Rechtsanwalt | HÄRTING Rechtsanwälte PartGmbB | Vorstandsmitglied des Deutschen Anwaltvereins

Wer „Diversity“ sagt, ist oft weiß, urdeutsch, männlich und heterosexuell. Denn bürgerlich-liberale Großstädter empfinden sich und ihresgleichen gerne und durchaus ehrlich als vorurteilsfrei, aufgeschlossen und in jeder Hinsicht tolerant. „Diversity“ als täglich gelebte Selbstverständlichkeit.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Für manche Bürgerin hört bei Transpersonen „Diversity“ auf. Wir erleben eine unsägliche Diskussion um das überfällige Selbstbestimmungsgesetz. Man spricht nicht über die BGH-Richterin, die bereits 50 Jahre alt war, als sie ihren Personenstand ändern ließ und dies nicht konnte, ohne sich zweimal begutachten zu lassen. Man spricht nicht von der Transperson, die noch im Jahre 2008 bis vor das BVerfG ziehen musste, um ihren Personenstand ändern zu können, ohne nach 56 Jahren Ehe als geschieden zu gelten. Als das BVerfG entschied, war der klägerische Transmensch fast 80 Jahre alt.

Statt von den Betroffenen zu sprechen, spricht man von Saunen, Frauenhäusern und Gefängnis-Szenarien. Furcht statt Verständnis. Und meist kennt man auch einfach keine Transmenschen, hat noch nie mit einer Transperson gesprochen.

Auch die deutsche Anwaltschaft ist alles andere als „divers“. Wer schon einmal eine Tagung der Handels und Gesellschaftsrechtler, der IT-Rechtler oder auch einen Deutschen Anwaltstag besucht hat, weiß, dass sich das Bild der Anwaltschaft in den letzten 30 Jahren erstaunlich wenig verändert hat. Die Kleidung ist ein wenig „more casual“ geworden, und man sieht mehr Kolleginnen als früher, die Männer sind nicht mehr ganz so dominant. Aber der „Habitus“ (Felix Hanschmann, https://www.juwiss.de/50-2023/) hat sich kaum verändert: bürgerlich, urdeutsch-weiß und auch erstaunlich heterosexuell.

Wer nicht „Müller“ heißt, sondern „Özdemir“, hört als Anwältin immer noch die Frage, wo man denn „eigentlich“ herkomme. Und man erkundigt sich bei dem schwulen Kollegen immer noch gerne nach Frau und Kindern. Weiß und heterosexuell ist das Selbstverständliche. Wer „anders“ ist, darf sich – gewiss oft aus ehrlich empfundenem Interesse und meist gut gemeint – neugierige Fragen anhören.

„Es reicht nicht aus, wenn wir uns als offen, tolerant, aufgeschlossen und vorurteilsfrei empfinden“

Wir müssen selbstkritischer werden. Es reicht nicht aus, wenn wir uns als offen, tolerant, aufgeschlossen und vorurteilsfrei empfinden. Regenbogen reichen nicht aus, und auch keine Arbeitskreise, die sich mit „Diversity“ befassen. Erst recht reichen keine „Quoten-Migrantinnen“ oder „Vorzeige-Schwule“ in der eigenen Belegschaft.

Wir müssen uns fragen, warum man in den Hörsälen großstädtischer Jurafakultäten einen hohen Anteil Studierender mit migrantischen Wurzeln wahrnimmt und sich beim alljährlichen Deutschen Anwaltstag ein ganz anderes Bild bietet. Wir müssen uns fragen, warum es in den Anwaltsorganisationen bis heute nur sehr wenige sichtbare Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund gibt und auch nur wenige Kolleginnen oder Kollegen, die offen homosexuell oder als Transpersonen in Erscheinung treten. Und wir müssen die Frage stellen, weshalb sich so viele Kollegen mit migrantischen Wurzeln entscheiden, vorwiegend in ihren „Communities“ zu wirken, in Anwaltsbüros, die sich auf die Beratung von Mandanten mit nichtdeutschen Wurzeln spezialisiert haben.

Wir müssen uns fragen, was sich unternehmen lässt, damit sich Kolleginnen und Kollegen, die sich als „anders“ empfinden, in unserer Mitte als dazugehörig empfinden. Das ist ein schwieriger Weg, denn wir müssen über unseren eigenen „Habitus“, unsere eigenen Gewohnheiten und unsere eigenen (unbewussten) Vorurteile nachdenken. Aber über „Zugehörigkeit“ zu sprechen ist fruchtbarer als jedes Lippenbekenntnis und jede Forderung nach „Diversity“.

Heft 03 | 2024 | 73. Jahrgang