Wege und Umwege: Erinnerungen einer Rechtsanwältin

Erna Proskauer
Wege und Umwege: Erinnerungen einer Rechtsanwältin
Fischer Tb, Ungekürzte Ausgabe 1996, 176 S.
ISBN-10 3596132991, vergriffen antiquarisch erhältlich

Wiedergelesen: das Buch der Kollegin Erna Proskauer „Wege und Umwege“ – Erinnerungen einer Berliner Rechtsanwältin

1989 kam dieses Buch als 1. Auflage bei der Berliner Geschichtswerkstatt heraus und 1996 dann im Fischer Taschenbuchverlag mit Anmerkungen zum Text der Kollegin und einem vertiefenden Nachwort der Bearbeiterinnen Sabine Berghahn und Christl Wickert.

Vielleicht kann mit dieser Buchrezension eine lose Reihe an Rezensionen über (Auto)Biografien von Kolleginnen und Kollegen beginnen. Die Leser und Leserinnen (wohl vorwiegend Kolleginnen und Kollegen) sind aufgerufen, bei der Redaktion solche einzureichen. Als (Selbst)Verständigungsprojekt über unseren Beruf dürfte das wichtig sein.

Thomas Röth | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Arbeits-, Miet- und Wohnungseigentumsrecht und Strafrecht | Mediator | Liebert & Röth Rechtsanwälte PartmbB | www.liebert-roeth.de

Erna Proskauer wurde 1903 in Bromberg in der Provinz Posen geboren. Ihr Vater, Georg Aronsohn, war Rechtsanwalt. Es handelte sich um einen gutbürgerlichen jüdischen Haushalt. Die Aronsohns waren laut Aussagen der Autoren in Bromberg gut in der bürgerlichen Gesellschaft integriert und der Vater deutsch und liberal gesinnt.

Während des Ersten Weltkriegs flüchtete die Familie bis auf den Vater kurz nach Berlin, ging dann aber wieder zurück und 1920 zog die Familie endgültig nach Berlin, weil die Provinz Posen (in der Bromberg liegt) Polen im Versailler Vertrag zugesprochen wurde, und die Bevölkerung dort konnte sich entscheiden, ob sie die polnische Staatsangehörigkeit annehmen wollte oder auswandern. Die Kollegin war damals kurz vor dem Abitur und hat dieses dann 1922 bestanden. Danach begann sie Jura zu studieren an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin und machte den Referendardienst in Berlin. Während der Station am Kammergericht lernte sie ihren späteren Mann, Max Proskauer, später ebenfalls Kollege, kennen. 1930 heirateten beide und Kollegin Proskauer wollte Richterin werden. Dazu wurde sie „Anwärterin für den Justizdienst“. Das bedeutete, dass man bis zur erhofften Anstellung als Richterin unbezahlte Beschäftigungen annehmen musste. Sie wurde zunächst einem Prozessrichter bei dem Amtsgericht Schöneberg zugeteilt, dann erhielt sie ein Kommissorium beim Amtsgericht Zossen (ähnlich einer Rechtspflegetätigkeit). Dort befasste sie sich mit der Bereinigung von Grundbüchern gemäß der Währungsreform von 1924.

Am 1. Oktober 1932 war sie wieder zurück am Amtsgericht Schöneberg mit dem Status einer unentgeltlichen Beschäftigung. Bereits am 26. April 1933 wurde sie aufgrund des Erlasses des Preußischen Justizministers vom 31. März 1933 bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert. Ihr Ehemann, der als Kammergerichtsanwalt tätig war (Singularzulassung), erhielt ebenfalls ein Vertretungsverbot als jüdischer Anwalt und ein Hausverbot, das Kammergericht zu betreten. Sie schildert die Fassungslosigkeit über diese politische Entwicklung und weist auch auf ihre politische Unbedarftheit insoweit hin. Noch im Februar 1933 war sie mit ihrer Schwester nach Kitzbühl zum Skilaufen gefahren. Ihr Ehemann verließ im Frühsommer 1933 Deutschland und ging nach Grenoble und die Autorin folgte ihm. Ursprünglich wollten beide Französisch lernen und dort Jura studieren, sahen jedoch ein, dass das keinen Sinn haben würde, zogen dann wenige Monate später nach Paris und versuchten sich dort in vielen Gewerken, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, was sehr schwierig war. Immer wieder mussten sie um Aufenthaltsgenehmigungen ersuchen.

Im Sommer/Herbst 1934 kehrten beide kurz nach Berlin zurück. Nach Amerika konnten sie nicht auswandern, weil die Geburtsstadt der Autorin mittlerweile polnisch geworden war und sie damit unter die für Polen gesetzte Einwanderungsquote in den USA fiel. Südafrika schien der Autorin zu weit weg von Europa und ihren Eltern und so entschlossen sie sich, nach Palästina auszuwandern. Ein Einwanderungszertifikat war 1934 noch relativ mühelos zu bekommen und sie durften so viel Habe mitnehmen, wie ein Container fassen konnte. Der finanzielle Transfer war damals schon auf 1.000,00 englische Pfund (20.000,00 RM) beschränkt. Weiteres Geld konnte mit großen Abschlägen zugunsten des Staates transferiert werden.

Bis hierhin erzählt dies die Autorin auf 54 Seiten von 138 ihres Berichtes. Nun erzählt sie über ihr Ankommen und Einrichten in Palästina (vorwiegend in Haifa) über die vielen Immigranten dort, die Wohnungssuche, das sprachliche Mischmasch im englischen Mandatsgebiet und die Arbeitssuche sowie die Verbundenheit der Flüchtlinge untereinander.

Kollegin Prokauer hatte einen englischen Mandatspass und besuchte 1937 mit diesem Mandatspass ihre Eltern und Schwestern in Berlin und beschreibt mit wenigen Zeilen die Repressalien, denen ihre Familie allein z. B. bei einem Café-Besuch ausgesetzt war. 1938 traf sich die Familie in Italien. Ihr Vater musste seine Praxis am 30. November 1938 (Ausnahmeregelungen nach Geburtsjahr bzw. Teilnahme am Ersten Weltkrieg für jüdische Anwälte) schließen. Er durfte jetzt nur noch als „Judenberater“ tätig sein und auch das wurde ihm bald verboten. Die Mutter starb im Juli 1939 in Ermangelung jüdischer Ärzte und Krankenschwestern (sie wurde nur betreut von ihrer in Berlin verbliebenden Tochter) an Krebs. Der Vater wurde nach Theresienstadt deportiert, nachdem vorher die Deportierten für diesen suggeriert als „Alterssitz“ Geld zahlen mussten. Als er sah, dass er später dann nach Osten deportiert werden sollte, bekam er einen Schlaganfall und starb am 18. Januar 1943 im Lazarett in Theresienstadt.

Die Autorin fand in Palästina eine Anstellung in einer größeren Wäscherei und der Ehemann bestand die juristische Prüfung in Palästina (englisches Mandatsgebiet mit einem Sammelsurium an verschiedenen Rechten), wurde also mit 45 Jahren zum zweiten Mal in seinem Leben Anwalt als Wieder-Berufsanfänger. Sie schildert in einem weiteren Kapitel die Gründung des Staates Israel und ihre Überraschung hierüber und die politische Lage aus ihrer Sicht. Nach Kriegsende und der Staatsgründung der Bundesrepublik sowie den Entschädigungsverhandlungen beschloss der Ehemann, nach Berlin zurückzukehren. Ihm fielen auch die modernen Sprachen nicht leicht und er soll sich in Israel nie so richtig wohlgefühlt haben. Die Autorin selbst sagt, dass sie als Flüchtling keine wirkliche „Heimat“ mehr habe, sich zunächst Israel und dann Deutschland immer verbunden fühle. Also beschlossen beide, nach Berlin zurückzukehren. Ihr Mann war vorausgereist und die Rückkehr der Autorin musste streng geheim bleiben, weil Israel Auswanderern große Schwierigkeiten bereiten konnte. Sie schildert dann die Rückkehr nach Berlin und das dortige Sich-Zurechtfinden. Ihr Mann hatte eine Anwaltskanzlei aufgemacht und sie verfolgte die Wiedergutmachungsansprüche und hoffte, Richterin zu werden. Der Prozess wurde dann vor dem Bundesverwaltungsgericht verloren. Sie hatte zunächst nicht vor, Anwältin zu werden. Nach der Gerichtsentscheidung arbeitete sie als Angestellte im Entschädigungsrecht (für die Vertretung war ein Anwaltstitel nicht von Nöten).

1968 stirbt ihr Ehemann (von ihm war sie seit 1960 geschieden) und sie übernimmt dessen Kanzlei, eröffnet eine neue, wird 1968 zur Anwaltschaft zugelassen, als sie selber 65 Jahre alt war und praktiziert 20 Jahre lang bis zu ihrem 85. Lebensjahr als Rechtsanwältin (und Notarin). Sie stirbt im Jahre 2001 im Alter von 98 Jahren in Berlin und erhält das Bundesverdienstkreuz für ihre Verdienste in der Berliner Justiz. Ihre israelische Staatsbürgerschaft hat sie behalten.

In den letzten Kapiteln erzählt sie von ihren Berliner Erfahrungen. Der Bericht zeichnet sich durch Lebendigkeit und Nüchternheit aus. Von offenem Antisemitismus kann sie nur an ganz wenigen Stellen berichten. Im letzten Kapitel (neue Kontakte) wird klar, mit welchen Vorbehalten man als Flüchtling nach Berlin zurückkommt und wie die „unbedarften“ Verhaltensweisen dort auf Zurückgekehrte wirken können.

Der Bericht besticht durch die lebenspragmatische Einstellung der Autorin. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts führte mehrfach dazu, dass sie gezwungen war, ihr Leben zu ändern, und wie sie das machte, ist zu bewundern.

Heft 03 | 2025 | 74. Jahrgang