Wir müssen jetzt handeln

Nur tiefgreifende Reformen können den Rechtsstaat bewahren

Der Rechtsstaat ist in Gefahr. Überlastete Gerichte, fehlender Nachwuchs und mangelnde Digitalisierung führen zu Vertrauensverlust. Warum wir jetzt etwas tun müssen.

Es wird immer schwieriger, der eigenen Mandantschaft die Zustände im deutschen Rechtswesen zu erklären. Das betrifft seit Jahren Dauerbrenner wie die Einstellung von Strafverfahren wegen zu langer Verfahrensdauer sowie die generell schlechte Erreichbarkeit von Gerichten und Behörden. Die Justiz hat ein Personalproblem. Auch die Zahlen der niedergelassenen Anwälte1Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Text das generische Maskulinum verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter gleichermaßen. gehen zurück, vor allem auf dem Land. Die mangelhafte Digitalisierung sorgt regelmäßig für Spott.

Allan Böhner | stellvertretender Regionalbeauftragter des FORUMs Junge Anwaltschaft Berlin | Rechtsanwalt bei BETHGE.REIMANN.STARI Rechtsanwälte Partnerschaft mbB in Berlin-Charlottenburg | www.brs-rechtsanwaelte.de

Das ist alles brandgefährlich. Denn ein Vertrauensverlust in den Ablauf von Rechtsdurchsetzung ist ein Vertrauensverlust in unseren Rechtsstaat. Das verschärft sich dadurch, dass die Probleme seit Langem bekannt sind, wirkliche Lösungen aber ausbleiben. Die Zeit, grundlegende Reformen durchzuführen, ist jetzt.

I. HERAUSFORDERUNGEN

Justiz und Anwaltschaft stehen vor einer personellen Zäsur. In den kommenden Jahren scheiden zahlreiche Berufsträger aus, ohne dass ausreichend Nachwuchs nachrückt.

1. Justiz

Deutschland leistet sich eine personalstarke Justiz: über 22.000 Richter sind hier tätig (bei einer viermal so großen Bevölkerung sind es in den USA rund 24.000). Bis 2030 gehen hierzulande 40 Prozent der Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand. In den neuen Bundesländern sind es sogar 62,5 Prozent, mit Thüringen an der Spitze; in Berlin immerhin 38,5 Prozent.2Mitteilung des DRB v. 28.12.2018.

„Die Attraktivität der Justizberufe sinkt seit Jahren“

Für junge Juristen ist das wenig überraschend: Die Attraktivität der Justizberufe sinkt seit Jahren. Hohe Arbeitsbelastung, überforderte Abteilungen und vergleichsweise geringe Gehälter schrecken ab. Berufseinsteiger können ihre Rechtsgebiete nicht frei wählen und werden regelmäßig versetzt. Hinzu kommen marode Gebäude und erhebliche Personalengpässe bei den Geschäftsstellen.

2. Anwaltschaft

Die Anwaltschaft ist für Berufseinsteigende attraktiver, aber auch sie verändert sich. Zwischen 2017 und 2024 sank die Zahl der in Kanzleien tätigen Berufsträger um rund zehn Prozent, während die Zahl der Syndikusrechtsanwälte steigt – diese stehen aber dem freizugänglichen Mandantschaftsmarkt nicht zur Verfügung.3Dahmen, beck-aktuell: „Neue Zahlen zum Anwaltsmarkt: Der Abwärtstrend setzt sich fort“ v. 25.5.2024. Kollegen vor dem Ruhestand finden keine Nachfolger für ihre Kanzleien. Die Anwaltschaft zieht es zunehmend in die Städte und Ballungsräume, obwohl der Bedarf auf dem Land besteht. Und gleichzeitig altert die Berufsgruppe: Das Durchschnittsalter lag im Jahre 2002 bei 43,9 Jahren, 2022 bereits bei 51,7 Jahren.4Altersstatistik der BRAK v. 1.1.2022. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht.

3. Rechtsanwaltsfachangestellte (Refas)

Der Fachkräftemangel betrifft nicht nur die Justiz, sondern auch die Anwaltschaft: Refas werden rar. 2002 wurden bundesweit noch 5861 Ausbildungsverhältnisse eingegangen, 2022 nur noch 2314 – ein Rückgang um mehr als die Hälfte.5Ausbildungsstatistik der BRAK v. 30.9.2024. Hauptgründe sind niedrige Ausbildungsgehälter sowie mangelnde Wertschätzung und Begleitung in den Kanzleien. Abiturienten ziehen zudem das Studium der Ausbildung vor.

4. Studium und Referendariat

Seit 2007 ist die Zahl der Jurastudierenden um etwa 20 Prozent gesunken, die Abbruchquote bleibt hoch.6Angaben nach Statista Research Department v. 28.8.2024. Trotz des Personalproblems werden aber die Einstellungen im Vorbereitungsdienst reduziert: NRW kürzte 2024 die Referendarstellen um 20 Prozent, Berlin änderte 2025 lediglich die Wartezeitregelung – mit erheblichen Folgen für die Lebensplanung vieler. Ein bundeseinheitliches System gibt es nicht. Die Unterhaltsbeihilfe ist vor allem in den Großstädten nicht ausreichend.

II. LÖSUNGSANSÄTZE

Personalmangel und Infrastrukturprobleme haben direkte Folgen auf die entsprechenden Arbeitsprozesse, führen zu Verzögerungen und Unzufriedenheit. Lösungsansätze gibt es bereits, diese müssen aber konsequent durchgesetzt werden.

1. Ausbildungsreform

Soweit sich die Bundesrepublik weiterhin ein personalstarkes Rechtssystem leisten möchte, muss bereits in Studium und Referendariat nachgebessert werden. Nur hier können die Berufsträger von morgen gewonnen werden. Notwendig ist die sofortige Reform der gesamten juristischen Ausbildung und die Anpassung an die heutigen Gegebenheiten.

„Das Jurastudium ist dringend reformbedürftig“

Das Jurastudium ist dringend reformbedürftig. Ein hoher Stressfaktor führt zu einer überdurchschnittlichen Abbruchquote. Die Studienstruktur ist veraltet. Weder entspricht sie den heutigen Anforderungen an eine juristische Ausbildung noch bereitet sie die Studierenden ausreichend auf die Praxis vor.

Im Dezember 2023 wurden mit dem sog. Hamburger Protokoll vier zentrale Reformforderungen zur Neugestaltung der ersten juristischen Prüfung formuliert: Reduktion des Pflichtfachstoffes durch Verlagerung in den Schwerpunktbereich, Einführung eines integrierten Bachelor of Laws, Einrichtung barrierefreier Ansprechstellen zur frühzeitigen Konfliktvermeidung und Einführung eines Monitorings der ersten juristischen Prüfung, um Reformbedarf laufend zu evaluieren.7Hamburger Protokoll der Bucerius Law School v. 1.12.2023.

Dass die Justizministerkonferenz im Juni 2024 eine Reform der juristischen Ausbildung abgelehnt hat, ist skandalös. Es liegt im Interesse aller Juristen, dass der Nachwuchs nicht nur gut durch die Ausbildung kommt, sondern auch zeitnah in den Arbeitsmarkt integriert werden kann. Die derzeitige Struktur erschwert jedoch beides erheblich.

Auch das Referendariat bedarf einer grundlegenden Reform. Das System der Arbeitsgemeinschaften ist überholt. Sie allein reichen nicht aus, um Referendare optimal auf das zweite Staatsexamen vorzubereiten und sind teilweise schlichtweg Zeitverschwendung. Der grundsätzliche Ablauf in den Bundesländern ist anzugleichen. Die ländlich geprägten Bundesländer müssen zudem einen Plan entwickeln, auch im Referendariat einen Einsatz in den ländlichen Gebieten möglich, durchführbar und attraktiv zu machen. Die Unterhaltsbeihilfen sind an die Lebenskosten anzupassen.

Ein weiteres großes Defizit ist die fehlende Vermittlung technischer Grundkenntnisse. Die Realität in Kanzleien, Gerichten und Unternehmen verlangt längst ein Mindestmaß an digitaler Kompetenz – doch die juristische Ausbildung trägt dem kaum Rechnung. Die Einführung des E-Examens ist bei Weitem nicht ausreichend. Ohne gezielte Schulungen in Legal Tech, digitalen Arbeitsweisen und KI-gestützter Recherche bleibt die juristische Ausbildung weit hinter den Praxisanforderungen zurück. Aufgrund der abnehmenden Zahl der Refa-Ausbildungen sind entsprechende Kenntnisse in der Ausbildung zwingend zu integrieren.

Justiz und Anwaltschaft sind gut beraten, Referendare stärker in den praktischen Arbeitsalltag einzubinden. Dies dient nicht nur ihrer Ausbildung, sondern kann auch als gezieltes Recruiting-Instrument genutzt werden: Wer früh praxisnah arbeitet, entscheidet sich später eher für eine Tätigkeit in der Justiz, den Behörden oder der Anwaltschaft.

2. Investitionen

Massive staatliche Investitionen in die Justiz sind angezeigt. Die Sanierung maroder Gebäude und eine ordentliche und zeitgemäße digitale Ausstattung sind dringend notwendig. Dass in der Justiz teilweise immer noch Papierakten die Norm sind, ist ein Skandal. Mandanten teilweise erklären zu müssen, dass eine im Keller abgelegte Akte durch fehlendes Personal besorgt werden muss, grenzt angesichts der laufenden Probleme an Ironie. Hier muss ordentlich Geld in die Hand genommen werden.

Es hilft aber nicht, den Beschäftigten Technik und künstliche Intelligenz zu präsentieren. Schulungen müssen durchgeführt werden und die professionelle und zielgerichtete Anwendung muss im Arbeitsalltag zur Regel werden. Gerade im Bereich der Refa- und Geschäftsstellenarbeit kann Technik Arbeitsabläufe beschleunigen und teilweise den Personalmangel ausgleichen. Die Integration derartiger Kenntnisse in die juristische Ausbildung kann dem Fachkräftemangel durchaus entgegengesetzt werden.

III. FAZIT

Der Vertrauensverlust in den Rechtsstaat ist bereits jetzt Realität. Bisherige Maßnahmen – Einstellung von Quereinsteigenden, sinkende Einstellungsvoraussetzungen, Festhalten an althergebrachten Strukturen – verschärfen das Problem nur. Stattdessen gewinnen Rechtsextreme an Zuspruch, die am Erhalt des Rechtsstaats kein Interesse haben.

„Der Vertrauensverlust in den Rechtsstaat ist bereits jetzt Realität“

Die Anwaltschaft muss sich laut und deutlich für grundlegende Reformen und Investitionen einsetzen. Es ist unsere Verantwortung, den Rechtsstaat zu stärken und zu schützen. Das erfordert entschlossenes Handeln – nicht morgen, nicht in der nächsten Legislaturperiode, sondern jetzt.

Heft 06 | 2025 | 74. Jahrgang

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    Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Text das generische Maskulinum verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter gleichermaßen.
  • 2
    Mitteilung des DRB v. 28.12.2018.
  • 3
    Dahmen, beck-aktuell: „Neue Zahlen zum Anwaltsmarkt: Der Abwärtstrend setzt sich fort“ v. 25.5.2024.
  • 4
    Altersstatistik der BRAK v. 1.1.2022.
  • 5
    Ausbildungsstatistik der BRAK v. 30.9.2024.
  • 6
    Angaben nach Statista Research Department v. 28.8.2024.
  • 7
    Hamburger Protokoll der Bucerius Law School v. 1.12.2023.