Zwölf Kilometer Mittelmeer – Verzweiflung

Zu Besuch auf Lesbos

Am 30. Juni 2024 flog ich nach Lesbos, um mir ein Bild von Insel, Flüchtlingscamp und -leben, der Arbeit von European Lawyers in Lesvos (ELIL) und anderen NGO auf der Insel zu machen – bei herrlichem Sommerwetter und frischer Meerbrise und leckerem griechischem Essen. Dies beschreibt schon die zwei Welten auf Lesbos.

Dr. Astrid Auer-Reinsdorff | Rechtsanwältin Berlin & Lissabon | Fachanwältin für Informationstechnologierecht

Lesbos – (auch Lesvos geschrieben) ist Teil der Nord- Ost-Ägäischen Inseln und ist die drittgrößte Insel dieser griechischen Inselgruppe. Die geografischen Zentren von Lesbos sind der kallonische Golf und eine etwa 100 km2 große Ebene um die Stadt Kalloni. Im Osten der Insel Lesbos befinden sich viele Olivenhaine auf fruchtbarem Land. Der Westen der Insel ist rau und gebirgig und kaum zugänglich. Im Norden liegt die Region Petra um den gleichnamigen Ort, der vor allem für den langen Sandstrand bekannt ist.

Die Vielfalt der Landschaft von Lesbos ist von außerordentlichem Reiz. Mytilini, die Hauptstadt der Insel, mit ihren kleinen Gassen, vielfältigen Tavernen und dem Hafen für Mittelmeerkreuzfahrten und Inselfähren bietet ein Ambiente zum Verweilen und Das-Leben-genießen, oder um aufzubrechen, die Inseln im Mittelmeer zu erkunden.

Das Bild des Hafens ist aber auch geprägt von den Schiffen der Küstenwache, die von hier starten, um gemeinsam mit FRONTEX – European Boarder and Coast Guard Agency1https://www.frontex.europa.eu/: „The number of irregular border crossings into the European Union in the first seven months of 2024 fell by 36% to 113 400, according to the preliminary data collected by Frontex. The biggest drops in irregular border crossings were seen on the Western Balkans and Central Mediterranean routes, at 75% and 64% respectively. Frontex remains committed to protecting the EU’s external borders, with 2900 officers and staff involved in various operations throughout Europe.“ illegale Einwanderung über das Mittelmeer zurückzudrängen oder schon mit Abschreckung vom Start über die Seeroute abzublocken und Schlepper und Schleuser aufzugreifen. Die kürzeste Route von der Türkei mit zwölf Kilometern im Norden ist damit für Geflüchtete kaum mehr zu nehmen.2Diese Route nahmen Sara und Yusra Mardini, deren Fluchtgeschichte bei Netflix verfilmt ist unter dem Titel „The Swimmers“, und nachzulesen oder zu hören ist in Yusras Buch „Butterfly“. Unter dem Motto „Swim for good“ finden weltweit anlässlich des Weltflüchtlingstags Schwimm-Events zu wohltätigen Zwecken für Geflüchtete statt, bei denen die Aktiven in Teams die symbolischen 12 Kilometer schwimmen.

Trotzdem kommen weiterhin Flüchtlinge, die zum Teil eine lange Reise aus Afrika, zum Beispiel Eritrea, Sierra Leone oder aus Syrien und Afghanistan hinter sich haben, in Lesbos an – mit Hoffnung und den ersehnten Zielen nach Freiheit, Unabhängigkeit und einem Leben in Menschenwürde. Sie werden in Mytilini von der Freiheitsstatue begrüßt.3Die Statue wurde vom griechischen Bildhauer Gregorios Zevgolis nach einem Entwurf des einheimischen Malers Georgios Iakovidis geschaffen Die Bronzestatue wurde 1922 in Deutschland gegossen und 1930 in Mytilini errichtet und eingeweiht, sie ist den Opfern des Ersten Weltkriegs gewidmet. Die Statue ist, mit ihrem Sockel aus Marmor, 15 Meter hoch; https://de.wikipedia.org/wiki/Freiheitsstatue_(Mytilini).

Die Geflüchteten sind auf sich allein gestellt, wenn sie die Insel erreichen. Die NGO, die noch auf der Insel tätig sind und sich nicht von den Verhaftungen seit 2018 von NGOMitarbeitern abschrecken lassen,44 https://www.freehumanitarians.org/. – Siehe auch den Beitrag von Sean Binder in Heft 9/2022. haben erst Kontakt mit den Geflüchteten im Lager. Jeder Kontakt mit Geflüchteten, ohne dass diese zuvor im Lager registriert sind, kann weitreichende Folgen für NGO-Mitarbeiter und jede Person haben – selbst das Anbieten einer Flasche Wasser wird hinterfragt, dahingehend ob die Person nicht mit einer Schlepperbande zusammenarbeitet und nun hier wartet mit Wasser und sich die Hilfe bezahlen lässt.

Das Lager oder Camp: Am 8. September 2020 brach ein Großbrand im Flüchtlingslager Moria aus. In diesem waren damals rund 20.000 Geflüchtete unter unzumutbaren Bedingungen untergebracht – konzipiert war das Lager für rund 2800 Geflüchtete.5https://de.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%BCchtlingslager_Moria.

Wenn Sie also Berichte über das Flüchtlingscamp und dort herrschende menschenunwürdige Zustände lesen, bezieht sich dies meistens auf dieses aufgegebene große Camp.

Das neue provisorisch errichtete Camp Kara Tepe/Mavrovouni (das ist türkisch und griechisch für „Schwarzer Berg“) liegt am Meer ca. fünf Kilometer an der Landstraße nördlich von Mytilini.6https://www.caritas-international.de/blog/fluechtlinge-auf-lesbos; https:// www.sos-kinderdorf.de/spenden/wo-wir-helfen/europa/griechenland/ lage-im-fluechtlingscamp-mavrovouni-in-griechenland. Hier sind rund 1500 Geflüchtete oft nur kurzzeitig untergebracht und werden meist binnen drei bis sechs Monaten in Camps auf dem Festland von Griechenland verbracht. Das Camp ist sauber, aber trostlos karg, ohne Bäume, Grün und Schatten und befindet sich auf einem windzugigen ehemaligen Schießübungsplatz des griechischen Militärs. Das Camp war als Provisorium gedacht. Das neue große Camp ist in der Inselmitte angelegt, fern von Dörfern und den Städten. Die Eröffnung verschiebt sich immer wieder, da Erschließung und Brandschutz noch nicht gesichert sind – vielleicht gar nicht so schlecht für die Geflüchteten. Jetzt haben die Geflüchteten die Möglichkeit, nach der Registrierung im Camp, sich frei auf der Insel zu bewegen, und auch die Chance, an Freizeit- und Unterstützungsangeboten von NGO in der Nähe teilzunehmen, da das Camp nicht abseits der bewohnten Teile der Insel liegt.

Das Camp selbst ist so eingerichtet, dass nach dem allgemeinen Eingangsbereich mit Sicherheit, Polizei, Frontex und Regristrierungscontainern Bereiche angelegt sind, für Kleider- und Essensausgabe, Angebote für Kinder durch die NGO und die Wohnzelte. Die Wohnzelte sind unterteilt in die Gemeinschaftszelte für die Ankommenden – heiß, stickig und unbelüftet, der brennenden Sonne ausgesetzt – Bereiche für alleinstehende Frauen, für alleinstehende Männer und dazwischen die Familienzelte. Die WC- und Duschbereiche sind ebenfalls getrennt. Im hinteren Bereich des Lagers gibt es die Save Zone, in der die Container der NGO aufgestellt sind, unter anderem der der anwaltlichen Beratung mit den Kolleginnen und Kollegen von ELIL.7Siehe auch im vorliegenden Heft 10/2024 „Spendenaufruf für European Lawyers in Lesvos (ELIL)“, S. 380. Das Camp betreten konnte ich nur zusammen mit ELIL als dort registriertem NGO8.Die Fotos hier sind von etwas außerhalb des Lagers entstanden. Wir konnten uns dann aber frei bewegen. Die griechische Regierung zieht es generell vor, dass das provisorische Camp nicht weiter in den Medien thematisiert wird und hält sich bedeckt.

Die Registrierung9https://migration.gov.gr/en/gas/diadikasia-asyloy/i-aitisi-gia-asylo/; https://greece.refugee.info/en-us/articles/4984594750615; https://greece. refugee.info/en-us/articles/4985611412375; https://greece.refugee.info/ en-us/articles/4985602659607. ist aktuell – auch wegen der relativ geringen Anzahl der Ankommenden, was aber über das Jahr stark schwankt und keinen nachvollziehbaren Regelmäßigkeiten folgt – ein schneller Prozess. Für die unterstützenden Anwälte entsteht der Eindruck, dass durch die Beschleunigung des Verfahrens den Geflüchteten oft die Chance genommen wird, sich vor dem Asylinterview rechtlich beraten zu lassen und mit anwaltlicher Unterstützung das Interview wahrzunehmen.

„Für die unterstützenden Anwälte entsteht der Eindruck, dass durch die Beschleunigung des Verfahrens den Geflüchteten oft die Chance genommen wird, sich vor dem Asylinterview rechtlich beraten zu lassen und mit anwaltlicher Unterstützung das Interview wahrzunehmen“

Ein typischer Verlauf ist zum Beispiel wie folgt: Ankunft im Lager am Montag, Registrierung und kurze ärztliche Untersuchung am Dienstag, am Mittwoch Abschluss der Registrierung und am Donnerstag Asylinterview. In dieser kurzen Zeit sind viele Geflüchtete oft noch orientierungslos und hören nur per Zufall von anderen Geflüchteten von der Möglichkeit der rechtlichen Beratung.

Personen, die angeben, noch 17 Jahre alt zu sein, haben oftmals eine ärztliche Kurzuntersuchung zur Altersfeststellung zu durchlaufen. Stellt der Mediziner so fest, man sei bereits volljährig, ist es nur durch die Vorlage von Geburtspapieren, die es oft in der Heimat gar nicht gibt und die die Geflüchteten ja sowieso nicht beschaffen können, noch möglich, etwas anderes nachzuweisen. Auch werden Geflüchtete nach ihrem Geburtsland oft falsch zugeordnet, da beim Aufgreifen zum Beispiel durch die Küstenwache oder Frontex manchmal eine falsche Zuordnung erfolgt, die sich wiederum quasi nur durch Vorlage von nicht vorhandenen und beschaffbaren Papieren korrigieren lässt.

Theoretisch ist weiterhin der Familiennachzug bei Minderjährigen erlaubt, aber faktisch meist unmöglich, denn auch hierfür werden vorab die Papiere aus der Heimat benötigt.

Wenn auch die Lebensumstände im Camp selbst auf den ersten Blick besser sind als im alten Camp Moria, das an Überfüllung, mangelnder Hygiene und Gesundheitsvorkehrungen insbesondere auch während der Corona- Pandemie krankte.

So ist das Leben im Camp trostlos, psychologische Betreuung wird nicht angeboten und Folgen von Missbrauch, die oft Fluchtgrund sind, werden bei der Gesundheitsprüfung nicht mitberücksichtigt.

NGO bemühen sich durch kreative und gemeinschaftspflegende Angebote und durch sportliche Aktivität, den Geflüchteten eine Abwechslung vom Camp-Alltag zu geben deren mentale Gesundheit zu fördern und Zuversicht und Selbstvertrauen durch sportliche Aktivitäten zu fördern. Beim Schwimmkurs, welchen seit Kurzem Butterfly by Mardini e.V. in Kooperation mit Yoga & Sport für Geflüchtete anbietet, traf ich freiwillige Schwimmtrainerinnen aus den USA und Kanada. Frauen in Rente, die ihre Freizeit den Sommer über den Geflüchteten an der europäischen Außengrenze widmen. Die NGO verzeichnen seit dem Ausbruch des Russisch- Ukrainischen Kriegs und den aktuellen Auseinandersetzungen um GAZA einen sehr deutlichen Rückgang der Spendenbereitschaft für Geflüchtete aus und in anderen Regionen. Leider ist nicht alles gut an den europäischen Außengrenzen.

Heft 10 | 2024 | 73. Jahrgang

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    https://www.frontex.europa.eu/: „The number of irregular border crossings into the European Union in the first seven months of 2024 fell by 36% to 113 400, according to the preliminary data collected by Frontex. The biggest drops in irregular border crossings were seen on the Western Balkans and Central Mediterranean routes, at 75% and 64% respectively. Frontex remains committed to protecting the EU’s external borders, with 2900 officers and staff involved in various operations throughout Europe.“
  • 2
    Diese Route nahmen Sara und Yusra Mardini, deren Fluchtgeschichte bei Netflix verfilmt ist unter dem Titel „The Swimmers“, und nachzulesen oder zu hören ist in Yusras Buch „Butterfly“. Unter dem Motto „Swim for good“ finden weltweit anlässlich des Weltflüchtlingstags Schwimm-Events zu wohltätigen Zwecken für Geflüchtete statt, bei denen die Aktiven in Teams die symbolischen 12 Kilometer schwimmen.
  • 3
    Die Statue wurde vom griechischen Bildhauer Gregorios Zevgolis nach einem Entwurf des einheimischen Malers Georgios Iakovidis geschaffen Die Bronzestatue wurde 1922 in Deutschland gegossen und 1930 in Mytilini errichtet und eingeweiht, sie ist den Opfern des Ersten Weltkriegs gewidmet. Die Statue ist, mit ihrem Sockel aus Marmor, 15 Meter hoch; https://de.wikipedia.org/wiki/Freiheitsstatue_(Mytilini).
  • 4
    4 https://www.freehumanitarians.org/. – Siehe auch den Beitrag von Sean Binder in Heft 9/2022.
  • 5
    https://de.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%BCchtlingslager_Moria.
  • 6
    https://www.caritas-international.de/blog/fluechtlinge-auf-lesbos; https:// www.sos-kinderdorf.de/spenden/wo-wir-helfen/europa/griechenland/ lage-im-fluechtlingscamp-mavrovouni-in-griechenland.
  • 7
    Siehe auch im vorliegenden Heft 10/2024 „Spendenaufruf für European Lawyers in Lesvos (ELIL)“, S. 380.
  • 8
    .Die Fotos hier sind von etwas außerhalb des Lagers entstanden.
  • 9
    https://migration.gov.gr/en/gas/diadikasia-asyloy/i-aitisi-gia-asylo/; https://greece.refugee.info/en-us/articles/4984594750615; https://greece. refugee.info/en-us/articles/4985611412375; https://greece.refugee.info/ en-us/articles/4985602659607.