Anwaltspraxis neu definiert

Zwischen Beruf und Berufung

Der anwaltliche Berufsstand war schon immer ein fließender Übergang zwischen Beruf und Berufung. Die Stellung als Vertrauensperson bestimmt die gesamte Persönlichkeit, da fällt es berufsbedingt schwer, Berufliches und Privates zu unterscheiden oder gar zu trennen. Entsprechendes gilt für die Lebensgestaltung, wo die Übergänge fließend sind. Der Artikel möchte daraus zwei Schlussfolgerungen ziehen, die aufeinander aufbauend dargestellt werden.

Zum einen geht es um die Idee, weniger in der Kategorie von Work-Life-Balance zu denken, sondern realitätsnah von einem fließenden Übergang, also einem Blending zu sprechen. In einer Welt, in der die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben zunehmend verschwimmen, ist es wichtiger denn je, innovative Wege zu finden, um beide Lebensaspekte harmonisch miteinander zu verbinden.

Zum anderen folgt aus der Erkenntnis, dass die Frage zwischen Balance und Blending den gesamten Berufsstand betrifft – auch wenn in persona unterschiedlich stark – niemand allein vor der Herausforderung steht, Anwaltspraxis und Privatleben zu vereinbaren. Ein idealer Weg, den der Artikel vorstellen möchte, sind sogenannte Mentorenprogramme, wo sich im Ergebnis die Erfahrungen im Berufsstand austauschen lassen und praxisgerechte Lösungen entwickeln lassen.

Victoria Hippler | Rechtsanwältin und Syndikus | Leiterin der RA-MICRO Landesrepräsentanz Berlin | Regionalbeauftragte der ARGE Anwältinnen des Deutschen
Anwaltvereins in Berlin und Brandenburg | www.ra-micro.de

WORK-LIFE-BLENDING: EINE NEUE PHILOSOPHIE FÜR DIE WORKLIFE- INTEGRATION

Die traditionelle Vorstellung einer strikten Trennung zwischen Beruf und Privatleben wird den heutigen Realitäten nicht mehr gerecht. Das genannte Work-Life- Blending erkennt an, dass Arbeit und Freizeit sich gegenseitig durchdringen und bereichern können. Dieser Ansatz zielt darauf ab, beide Lebensbereiche so zu integrieren, dass sie sich gegenseitig stärken und zu einer gesteigerten Lebensqualität führen. Anders gesagt gibt es auch keine Disbalancen mehr, sondern nur noch eine einheitliche Betrachtung der Wechselwirkungen, die so optimal wie möglich gestaltet werden.

Die Realisierung dieses Konzepts erfordert eine bewusste Planung und die Bereitschaft, traditionelle Arbeitsmodelle zu hinterfragen. Flexible Arbeitszeiten, Homeoffice-Lösungen und der Einsatz digitaler Technologien sind nur einige der Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen, um eine bessere Balance zu erreichen. Indem wir unsere Arbeitsweise anpassen und offen für Veränderungen sind, können wir ein Umfeld schaffen, das echtes Work-Life-Blending ermöglicht.

FLEXIBILITÄT UND DIGITALISIERUNG ALS SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG

Eine offene Bestandsaufnahme von Arbeitspensum und die Möglichkeiten, das Arbeitsumfeld flexibler zu gestalten, sind entscheidend. Der Einsatz digitaler Technologien ermöglicht es, berufliche Ziele zu erreichen, ohne das Familienleben zu vernachlässigen. Die moderne Arbeitswelt bietet uns mittlerweile einfache und bewährte Möglichkeiten, effizienter zu arbeiten und gleichzeitig für unsere Familien präsent zu sein. Digitalisierung mag zwar nicht der Schlüssel in jedem Szenario sein, aber sie bietet die Infrastruktur, auf der wir eine neue Arbeitskultur aufbauen können. Eine Kultur, die Flexibilität, Effizienz und das Wohlbefinden der Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellt.

„Digitalisierung mag zwar nicht der Schlüssel in jedem Szenario sein, aber sie bietet die Infrastruktur, auf der wir eine neue Arbeitskultur aufbauen können“

Ein perfektes Gleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben zu erreichen, ist eine Illusion. Vielmehr ist eine flexible Haltung gefragt, die es uns ermöglicht, auf die ständigen Veränderungen in unserem Arbeits- und Privatleben angemessen zu reagieren. Die Angst vor Fehlern zu überwinden und Leidenschaft in unsere täglichen Abläufe zu bringen, sind wesentliche Schritte auf dem Weg zur Verbesserung. Fehler sollten als Lernchancen begriffen werden, die uns auf unserem Weg zur Meisterschaft begleiten. Indem wir unsere Leidenschaften in unsere Arbeit einfließen lassen, geben wir unseren Tätigkeiten einen persönlichen Charakter und machen sie zu einem integralen Bestandteil unseres Lebens.

MENTORENPROGRAMM FÜR JUNGANWÄLTINNEN

Der große Vorteil des Blending-Ansatzes ist seine Umsetzungsfähigkeit für die Praxis, was oftmals realistischer ist, als nach Grenzen zu suchen und Berufliches mit Privatem konkurrieren zu lassen, wo die Balance buchstäblich auf der Strecke bleibt. Der Praxisansatz wird verstärkt durch den Gedanken, sich gegenseitig zu unterstützen und die agilen Lernprozesse in Begleitung zu entwickeln. Der Blending-Ansatz ist daher perfekt für Mentorenprogramme geeignet. Die Autorin ist selbst als Mentorin für junge Juristinnen im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit als Regionalbeauftragte der ARGE Anwältinnen aktiv und leitet ein Programm, das auf die Förderung von Work-Life-Blending abzielt.

„[D]ie Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie ist auch ein Kernthema meines Engagements unter Kolleginnen. Wobei ‚Vereinbarkeit‘ mir zu zurückhaltend formuliert ist, weil es nur das Funktionieren in den Mittelpunkt stellt. Mir geht es aber um ein starkes Auftreten mit Verwirklichung der eigenen Ziele im Beruf und andererseits um das bewusste Erleben und Gestalten der Familie mit all seinen Facetten.“ (Berliner Anwaltsblatt 3/2024, Seite 88–89)

„Ein starkes Netzwerk ist der Schlüssel, um beruflichen Erfolg und private Verwirklichung zu erreichen“

Die Herausforderungen der Anwaltspraxis können und müssen also nicht im Alleingang bewältigt werden. Im Gegenteil, ein starkes Netzwerk ist der Schlüssel, um beruflichen Erfolg und private Verwirklichung zu erreichen. Die Zeiten, in denen man als Einzelkämpferin agiert, sind vorbei. Stattdessen gilt es, ein unterstützendes Netzwerk aufzubauen, das sowohl beruflich als auch privat Flexibilität bietet und beide Aspekte miteinander voranbringt. Dieser Netzwerkgedanke ist ein zentraler Pfeiler des Blendings. Durch die Schaffung von Plattformen für den Austausch und die Zusammenarbeit möchte ich die Kolleginnen ermutigen, die Vorteile des Netzwerkens voll auszuschöpfen. Die moderne Anwaltspraxis erfordert eine neue Herangehensweise, die das kollektive Wissen und die Erfahrungen aller nutzt, um gemeinsam zu wachsen und zu gedeihen. Getreu dem Motto von Johann Wolfgang von Goethe, der seine Meisterwerke bekanntlich auch in geselligem Rahmen schuf: „Im Kleinen ist man nicht allein.“

Heft 05 | 2024 | 73. Jahrgang